Revo­lu­tion für das Hier und Jetzt

2022 ist Wahl­jahr in Bosnien und Herze­go­wina. Bis anhin domi­nieren die im ethnisch-natio­na­li­sti­schen Denken verhaf­teten Parteien der 1990er-Jahre. Eine Alter­na­tive dazu will die Orga­ni­sa­tion Pravda za Davida anbieten. 
Demonstrierende auf dem Krajina Platz in Banja Luka fordern Gerechtigkeit für David (Foto: Sofija Grmuša)

Die letzten Wahlen in Bosnien und Herze­go­wina fanden vor vier Jahren statt. Das war 2018 – im glei­chen Jahr, in dem der 21-jährige David Dragičević in Banja Luka, der Haupt­stadt im Landes­teil Repu­blika Srpska, ermordet wurde.

Dass beides mitein­ander zu tun hat, liegt nicht nur an der zeit­li­chen Über­schnei­dung. Im Fall Dragičević kulmi­nieren eine Reihe poli­ti­scher Konflikte, die Bosnien und Herze­go­wina auch in diesem Wahl­jahr wieder beschäf­tigen. Sie haben das Poten­tial, den Staat, der sich aus der von Serb:innen domi­nierten Repu­blika Srpska und der kroa­tisch und bosnisch-musli­mi­schen Teil­re­pu­blik Föde­ra­tion Bosnien und Herze­go­wina zusam­men­setzt, grund­le­gend zu verändern.

Alles begann am 18. März 2018, als der damals 21-jährige David Dragičević aus Banja Luka nach dem Ausgang nicht nach Hause kam. Sechs Tage blieb er verschwunden, dann wurde seine Leiche im flachen Wasser eines Flusses gefunden. Hinweise auf eine Straftat wurden von der Polizei igno­riert, der Tod blieb unaufgeklärt.

Nicht nur für die Familie lag die Vermu­tung nahe, dass David durch Poli­zei­ge­walt gestorben war und die Tat vertuscht werden sollte. In der Bevöl­ke­rung regte sich Widerstand.

Ange­führt von Davids Vater Davor Dragičević kam es zu ersten Prote­sten, die sich schnell auf das ganze Land auswei­teten und für merk­liche Verluste im Lager der regie­renden natio­na­li­sti­schen Partei SNSD des Vorsit­zenden Milorad Dodik sorgten. Aus den Prote­sten ging die Orga­ni­sa­tion Pravda za Davida (Gerech­tig­keit für David) hervor, die bis heute Aufklä­rung fordert und sich gegen Korrup­tion in der Politik und für Rechts­staat­lich­keit engagiert.

Vier Jahre später ist der Fall David Dragičević noch immer unauf­ge­klärt. Im Oktober 2022 wird wieder gewählt. Zeit, nach­zu­fragen, wo Pravda za Davida heute steht.

Ein Herz aus Steinen und Blumen

Die Spuren­suche beginnt am Tatort. An der Mündung des Flusses Crkvena in den Vrbas. Dort erin­nert ein aus Steinen und Blumen gelegtes Herz an Davids Tod.

Sofija Grmuša kommt gele­gent­lich hier vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Die 32-Jährige, eine Bekannte von David und seiner Familie, hat Pravda za Davida vor vier Jahren mitbe­gründet. 2018 orga­ni­sierte sie wöchent­liche Demon­stra­tionen auf dem Krajina Platz in Banja Luka und gilt seit dem als eine Spre­cherin von Pravda.

Für Grmuša ist klar: „Wenn dieser Fall irgend­wann aufge­klärt wird, braucht Bosnien und Herze­go­wina keine weiteren Reformen. Dann kommt das ganze korrupte System von selbst ins Wanken.“ Darin sieht sie auch den Grund, weshalb bis heute von staat­li­cher Seite kaum etwas unter­nommen wurde. Zu viele Offi­zi­elle hängen mit drin.

Die Polizei von Banja Luka versuchte anfangs, Davids Tod als eine Verket­tung unglück­li­cher Umstände abzutun und ihn selbst als Klein­kri­mi­nellen zu diskre­di­tieren. In einer Pres­se­kon­fe­renz vom 26. März 2018 behaup­tete Poli­zei­chef Darko Ilić, es gäbe keine Hinweise auf ein Verbrechen.

David wäre am Vorabend seines Verschwin­dens in eine Knei­pen­schlä­gerei geraten, was die zahl­rei­chen Blut­ergüsse an seinem Körper erkläre, und hätte danach auf dem Heimweg eine Wohnung ausge­raubt. Später sei er unter Alkohol- und Drogen­ein­fluss von einer Brücke gefallen und im Fluss ertrunken.

„Nichts davon wurde bewiesen“, sagt Grmuša. „Die Indi­zien zeigen viel mehr in eine andere Richtung.“

Unter­su­chung bestä­tigt Ermordung

Folgt man der Poli­zei­theorie, wäre Davids Körper sechs Tage im Wasser gelegen. Die Leiche wies bei ihrer Entdeckung jedoch keine entspre­chenden Spuren auf. Auch der Gerichts­me­di­ziner Željko Karan, der eigent­lich einen Unfall diagno­sti­ziert hatte, musste auf Anfrage von Journalist:innen einräumen, dass nicht mit Sicher­heit gesagt werden könne, woher Davids Verlet­zungen stammten.

Pravda za Davida und ihre Unterstützer:innen sind sich darum sicher, dass David ermordet wurde. Eine parla­men­ta­ri­sche Unter­su­chung in der Repu­blika Srpska vom Mai 2018 gab ihnen Recht, konnte aber keine Verant­wort­li­chen benennen.

Die Aktivist:innen vermuten: David war den Beamt:innen mit seinen Dread­locks und dem legeren Auftreten ein will­kom­menes Ziel für Schi­kane und unbe­grün­dete Kontrollen. Eine dieser Kontrollen könnte aus dem Ruder gelaufen sein. David wurde geschlagen und gefol­tert und starb an seinen Verletzungen.

„Die meisten jungen Menschen hier haben ständig Probleme mit der Polizei“, sagt Grmuša und verweist auf einen für die Balkan­re­gion typi­schen Gene­ra­tio­nen­kon­flikt: Viele ältere Menschen stemmen sich gegen eine vermeint­liche „Verwest­li­chung“ der Jugend. „Alles, was anders ist, wird verachtet und verfolgt. Die Behörden und Politiker:innen verstehen nicht, dass hier eine neue Gene­ra­tion heran­ge­wachsen ist, die nicht mehr ihre alten Werte teilt.“

Zwar gibt es auch für die Theorie eines Todes durch Poli­zei­ge­walt keine endgül­tigen Beweise. Doch alleine die Tatsache, dass in den letzten vier Jahren fast nichts geschehen ist, um den Fall aufzu­klären, ist vielen Menschen in Bosnien und Herze­go­wina ein Anzei­chen dafür, dass etwas vertuscht wird. Dass Beamt:innen ihre Kolleg:innen decken – bis in die höch­sten Ebenen der Politik.

Den Protest in die Parla­mente tragen

Entspre­chend rich­teten sich die Demon­stra­tionen für die Aufklä­rung der Todes­um­stände von Anfang an auch gegen die poli­ti­sche Klasse. Bei den Wahlen von 2018 machte sich das in Banja Luka mit Verlu­sten für die extrem natio­na­li­sti­sche Partei SNSD von Milorad Dodik bemerkbar.

Jetzt, da es wieder auf Wahlen zugeht, will die Orga­ni­sa­tion Pravda za Davida das poli­ti­sche Moment bewusst nutzen, um Gerech­tig­keit für David zu errei­chen und die starren gesell­schaft­li­chen Verhält­nisse zu verändern.

Auftrieb gibt eine Entwick­lung aus dem vergan­genen Jahr: Nachdem selbst der Staats­an­walt der Repu­blika Srpska den Fall David als Mord einge­stuft hatte und es trotzdem zu keinen neuen Ermitt­lungs­er­geb­nissen gekommen war, über­nahm Anfang 2021 der höher­ge­stellte Bundes­staats­an­walt aus Bosniens Haupt­stadt Sarajevo.

Parallel dazu ging aus der Orga­ni­sa­tion Pravda za Davida die poli­ti­sche Partei Pokret Pravde (Bewe­gung für Gerech­tig­keit) hervor, die den Kampf gegen Poli­zei­ge­walt und Korrup­tion von der Strasse in die Parla­mente tragen will. Betei­ligt sind Menschen aus ganz Bosnien und Herze­go­wina, die oft ähnliche Erfah­rungen gemacht haben wie David und seine Familie. Unter ihnen auch Ange­hö­rige des 2016 ermor­deten Dženan Memić, dessen Tod eben­falls nie aufge­klärt wurde.

Sie alle eint, dass sie die Politik des Ausgleichs zwischen den Ethnien, die unter anderem für die Korrup­tion verant­wort­lich gemacht wird, satt haben. Statt Ausgleich zwischen ethni­schen Gruppen sucht Pokret Pravde nach einer die Ethnien verbin­denden Gerech­tig­keit. „Das könnte eine Revo­lu­tion werden“, meint Grmuša, „eine Revo­lu­tion für das Hier und jetzt, die umsetzt, was Bosnien und Herze­go­wina immer schon sein sollte: ein fried­li­cher Vielvölkerstaat.“

Die natio­na­li­sti­sche Karte ziehen

Bosnien und Herze­go­wina hat eines der kompli­zier­te­sten poli­ti­schen Systeme Europas. Das Staats­ober­haupt wird durch ein soge­nanntes Staats­prä­si­dium vertreten, in dem je ein:e gewählte:r Repräsentant:in serbi­scher, kroa­ti­scher und musli­mi­scher Bosniak:innen sitzt. Momentan sind das Milorad Dodik für die Serb:innen, Dragan Čović als Kroate und Šefik Džaferović für die musli­mi­schen Bosniak:innen. Den Vorsitz hat turnus­ge­mäss Džaferović inne.

Beson­ders Dodik und der natio­na­li­sti­sche HDZ-Poli­tiker Dragan Čović nutzen ihr Veto­recht regel­mässig, um Reformen hin zu einem funk­tio­nie­renden Staats­ge­bilde zu blockieren. Sofija Grmuša nennt das „die natio­na­li­sti­sche Karte ziehen“.

Der Nutzen für die alten Herren liegt auf der Hand: Sie schüren rassi­sti­schen Hass unter ihren Anhänger:innen und halten den Staat Bosnien zugun­sten der von ihnen kontrol­lierten Teil­re­pu­bliken funk­ti­ons­un­fähig. Ihre Macht gründet im deso­laten Zustand des Gesamt­staats. Dementspre­chend müssen sie von Zeit zu Zeit an dessen Grund­pfei­lern rütteln.

Milorad Dodik hat gerade erst wieder vorge­macht, wie das funk­tio­niert. Ende 2021 erklärte er, für die serbi­sche Teil­re­pu­blik Repu­blika Srpska ein eigenes Militär und eine eigene Polizei sowie eine unab­hän­gige Finanz­be­hörde schaffen zu wollen, was einer weit­ge­henden Abspal­tung und einer Zerstö­rung des Gesamt­staats gleichkäme.

Das Parla­ment der Repu­blika Srpska forderte daraufhin von der Regio­nal­re­gie­rung, inner­halb von sechs Monaten ein entspre­chendes Geset­zes­paket vorzu­legen. Diese Drohung hängt nun wie ein Damo­kles­schwert über dem Land und hilft im Wahl­kampf den Nationalist:innen. Insbe­son­dere Dodik, der für seinen Kurs Unter­stüt­zung aus Serbien, Ungarn und von Putins russi­scher Regie­rung bekommt.

Seit Dodik auch noch eine soge­nannte „Anti-Terror-Übung“ in den Jaho­rina Bergen abhalten liess, liegt sogar wieder Krieg in der Luft. Von Jaho­rina aus schossen serbi­sche Scharfschütz:innen bei der Bela­ge­rung Sara­jevos im Bosni­en­krieg zwischen 1992 und 1996 auf Zivilist:innen in der Stadt. Die Symbolik könnte also nicht drasti­scher gewählt sein. Und natür­lich erhielt auch diese Aktion Unter­stüt­zung aus Serbien und Russland.

Nationalist:innen in die Enge gedrängt

Sofija Grmuša glaubt dennoch nicht an einen Krieg. So sehr die Nationalist:innen gegen den gemein­samen Staat wettern, so sehr sind sie auf dieses grosse Feind­bild ange­wiesen. Ein Muster, das sich vergleichbar auch bei dem mit Dodik verbün­deten Popu­li­sten Viktor Orban und seinem Verhältnis zur EU findet.

Trotzdem ist bemer­kens­wert, wie Dodik sein Auftreten in den letzten vier Jahren radi­ka­li­siert hat. Der Grund – da sind sich die meisten Kommentator:innen einig – liegt in der schwin­denden Zustim­mung für seine Partei, die wiederum mit den bis heute anhal­tenden Prote­sten von Pravda za Davida zu tun hat. Die Nationalist:innen fühlen sich von der unge­kannten Macht auf der Strasse in die Enge gedrängt.

Um den Druck zu erhöhen und gleich­zeitig an einem neuen System mitzu­ar­beiten, geht Pravda za Davida mit Pokret Pravde nun in die Politik und vernetzt sich mit anderen progres­siven Kräften der West­balkan-Region. Momentan tauscht man sich mit den beiden links-grünen Bünd­nissen Ne Davimo Beograd aus Belgrad und Možemo! aus Kroa­tien aus.

Ihnen allen geht es um eine grund­sätz­liche Alter­na­tive zu den im ethni­schen und natio­na­li­sti­schen Denken der 1990er-Jahre verfan­genen Parteien. Oder, wie Grmuša es ausdrückt: „Die wich­tigste Protest­form ist immer noch die Abwan­de­rung. Junge Menschen verlassen das Land. Das müssen wir ändern. Die Jungen müssen hier bleiben und aktiv werden.“

Der Kampf um Gerech­tig­keit für David hat diesen Akti­vismus von Anfang an befeuert. Er ist bis heute trei­bende Kraft hinter den Bemü­hungen um eine neue Politik und wird es auf abseh­bare Zeit wohl auch bleiben.

Am 27. März 2022 zogen die Aktivist:innen von Pravda za Davida vor das Bundes­ge­richt in Sara­jevo und schlugen dort ein Protest­camp auf. Ganz vorne mit dabei ist wie immer Davids Vater Davor, der seit vier Jahren nach Antworten sucht. Er hat ange­kün­digt, diesmal so lange vor dem Gericht auszu­harren, bis aufge­klärt ist, wer seinen Sohn ermordet hat.


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