„Es gibt eben Dinge, an die man sich nicht zwin­gend kollektiv erin­nern möchte“

Die beiden Histo­ri­ke­rInnen Monique Ligten­berg und Philipp Krauer vom Verein «Zürich Kolo­nial» arbeiten gerade an einer virtu­ellen Tour durch die Vergan­gen­heit der Limmat­stadt. Das Lamm hat mit den beiden über Völker­schauen in Altstetten, Rassen­lehre an der UZH und Alfred Escher gespro­chen- und darüber, wie kriti­sche Erin­ne­rungs­kultur aussehen könnte. 
"Wegen Unwohlsein der Feuerländer geschlossen". Heute erinnert nichts mehr an das Schicksal der fünf in Zürich verstorbenen Indigenen. Tagblatt der Stadt Zürich, 1882

Das Lamm: Die Schweiz war selbst nie eine soge­nannte Kolo­ni­al­macht. Dennoch hat sie während der Kolo­ni­al­zeit eine Rolle gespielt, profi­tiert und mitge­mischt. Wenn wir nun über Zürich reden, wie stark ist das kolo­niale Erbe dieser Stadt?

Philipp Krauer: Es gibt da verschie­dene Ebenen. Eigent­lich sitzen wir seit 400 Jahren in Europa alle im selben Boot, was den Kolo­nia­lismus angeht. Und die Schweiz war einge­bunden in soziale, ökono­mi­sche, kultu­relle Verbin­dungen mit anderen Kolo­ni­al­mächten. Ein Beispiel für die Stadt Zürich wäre etwa die Bank Leu: Die gehörte mal zur Hälfte der Stadt Zürich und inve­stierten in die Compa­gnie des Indes...

Monique Ligten­berg: ...die unter anderem Skla­ven­handel betrieben hat.

Krauer: Gerade hier ist die Konti­nuität span­nend. Denn diese Bank wurde Anfang der 00er Jahre von der CS über­nommen, die sich mit Beru­fung auf das Schweizer Bank­ge­heimnis bis 2010 weigerte, die entspre­chenden Archive zu öffnen.

Ligten­berg: Unter Kolo­nia­lismus stellen sich viele Menschen eine direkte poli­ti­sche Beherr­schung vor. Es stimmt, dass die Schweiz nie über gross­flä­chige Übersee-Terri­to­rien herrschte. Aber das ist eben nicht die einzige Dimen­sion von Kolo­nia­lismus. Es gibt die ökono­mi­sche, wie Phil­ipps Beispiel gezeigt hat, also die Inve­sti­tionen in diverse kolo­niale Märkte, etwa den Skla­ven­handel. Es gibt kultu­relle, wissen­schaft­liche Dimen­sionen, in welche die Schweiz – ganz beson­ders Zürich – sehr stark invol­viert war. Wenn wir die Kolo­ni­al­ge­schichte von Zürich thema­ti­sieren möchten, müssen wir auch über die Dimen­sion der Migra­ti­ons­ge­schichte reden. Und zwar nicht nur darüber, wer in die Schweiz kam, sondern vor allem darüber, wo die Schweizer überall hinge­gangen sind.

Welche Rolle spielt diese Emigra­tion? Und wann begann sie?

Ligten­berg:  Nach der Eröff­nung des Suez Kanals wurden die Reise­wege massiv vergün­stigt und verkürzt. Plötz­lich waren Reisen nach Afrika und Asien auch für Schweizer*innen erschwing­lich. Einige liessen sich zudem von Kolo­ni­al­re­gie­rungen anwerben – etwa für die Armee oder für Wissen­schafts­in­sti­tu­tionen – um sich solche Reisen zu finanzieren.

Krauer: Aber diese Migra­tion gab es schon früher: Nach dem Wiener­kon­gress 1815 ist der Tambora Vulkan in Indo­ne­sien ausge­bro­chen. Er war so riesig, dass der Ausbruch das Klima beein­flusste: In der Folge gab es in der Schweiz zwei Jahre ohne Sommer, was zu einer Hungersnot führte. Viele Schweizer*innen wanderten aus, beson­ders viele gingen nach Brasi­lien und Nordamerika.

Zurück zur Stadt Zürich.

Ligten­berg: Hier gab es zur Kolo­ni­al­zeit schon viele Kauf­leute und Schweizer aus dem Mittel­stand, die nach neuen Möglich­keiten der Wohl­stands­stei­ge­rung suchten, was in der Schweiz als ressour­cen­armes Land nicht so einfach ist. Also musste man weg von hier — dorthin, wo es Ressourcen gab. Und billige Arbeits­kräfte. Ein Sinn­bild hierfür wäre die Villa Patumbah im Seefeld. Diese wurde von Karl Fürch­te­gott Grob erbaut, einem Zürcher, der Ende des 19. Jahr­hun­derts ins heutige Indo­ne­sien emigriert war. Auf Sumatra betrieb er Tabak­plan­tagen mit mehreren tausenden Arbeiter*innen, die unter skla­ven­ähn­li­chen Bedin­gungen der Willkür ihrer Arbeit­geber ausge­lie­fert waren.

Dank deren günstigen Arbeit konnte Grob sehr viel Tabak produ­zieren und auf dem Welt­markt mitspielen. Dann verkaufte er in einem guten Moment seine Plan­tage an eine grosse, hollän­di­sche Tabak­ge­sell­schaft und kam stein­reich nach Zürich zurück. Hier errich­tete er die Villa, die heute noch steht. Auch das ist Kolonialgeschichte.

Welche Rolle hat der Rohstoff­handel während der Kolo­ni­al­zeit für die Schweiz gespielt? War sie damals schon Dreh­scheibe des Handels?

Krauer: Der Rohstoff­handel erfolgte nicht primär über die Schweiz — aber mit Schweizer Hilfe im Sinne des Tran­sit­han­dels.  Zum Beispiel der Schweizer Dienst­lei­stungs- und Handels­kon­zern DKSH, der heute noch riesig ist: Dieser hatte an den Handels­plätzen der Briten und Holländer die Waren abge­fer­tigt und in alle Welt verschickt.

Gleich­zeitig entwickelte sich die Schweiz im 19. Jhr. zur Textil­na­tion. Das war auch nur möglich, weil die Schweiz billige Baum­wolle aus den Skla­ven­plan­tagen impor­tieren konnte. Im Sog dieser Textil­ar­beit entstanden weitere rele­vante Bran­chen, etwa die Chemie­branche oder das Finanz­wesen. Was aber direkt für die Stadt Zürich eine beson­ders wich­tige Rolle gespielt hat, war der Seiden­handel: Die Bahn­hofstrasse war ein Ort, wo all diese grossen Textil­häuser damals schon ihre Nieder­las­sungen hatten.

Zur ökono­mi­schen Dimen­sion kam dann auch die kultu­relle hinzu, etwa die Kate­gorie der Kolo­ni­al­waren wie Kaffee oder Kakao. Im Rahmen des kolo­nialen Handels wurde die Milch­scho­ko­lade zum Schweizer Vorzeigeprodukt.

Wenn wir uns etwas von der ökono­mi­schen Dimen­sion entfernen und mehr auf die Kultu­relle zu spre­chen kommen, fallen mir als erstes Beispiel die Völker­schauen ein, die in Zürich bis zum 2. Welt­krieg gang und gäbe waren…

Ligten­berg: Und drüber hinaus!

Stimmt. Der Circus Knie stellte noch bis 1964 afri­ka­ni­sche Menschen in seinem Programm aus…

Ligten­berg: Völker­schauen gibt es seit dem frühen 19. Jhr. Um 1870 wurden sie dann gross­flä­chig popu­la­ri­siert. Einer­seits wegen der bereits erwähnten Öffnung des Suez­ka­nals. Ande­rer­seits fällt der Anstieg der Popu­la­rität in die Zeit des „Wett­laufs um Afrika“, als an der Kongo­kon­fe­renz Afrika unter den euro­päi­schen Gross­mächten aufge­teilt wurde, was zu einer aggres­si­veren Expan­si­ons­po­litik führte. Die Shows tourten durch Europa oder Nord­ame­rika und legten auch in der Schweiz Halte ein. Das waren kommer­zi­elle Veran­stal­tungen; sie bedienten ein Bedürfnis des Zielpublikums.

Inwie­fern?

Ligten­berg: Was an diesen Völker­schauen ausge­stellt wurde, entsprach nicht den Lebens­rea­li­täten der Menschen, die verschleppt wurden. Es gibt sogar Fälle, die belegen, dass die Menschen instru­iert worden waren, wie sie sich zu kleiden und zu verhalten hatten. Sehr oft wurden west­liche Vorstel­lungen und Sehn­süchte, etwa vom Fami­li­en­zu­sam­men­leben, auf diese Menschen projieziert.

Im Tourismus bestehen übri­gens viele der Stereo­typen noch heute fort, die in der Kolo­ni­al­zeit geprägt wurden. Das Fremde dient noch heute als Gefäss für eigene Bedürf­nisse und Vorstellungen.

Wie erwähnt hatte der Zirkus Knie noch bis in die 60er-Jahre Menschen im Programm. Wie war so etwas möglich? Hatte nach dem 2. Welt­krieg keine Aufar­bei­tung stattgefunden?

Ligten­berg: Wir dürfen nicht vergessen, dass es auch nach dem zweiten Welt­krieg noch Kolo­nien gab, etwa Alge­rien oder Vietnam.

Krauer: Ander­seits war die Entna­zi­fi­zie­rung in Europa ja auch nicht wirk­lich trans­pa­rent und erfolg­reich. Das Konzept von „Rasse“ wurde ersetzt durch „Kultur“. Unter dem Label „Verschie­dene Kulturen dieser Welt“ konnte man solche Ausstel­lungen dann schon weiter­laufen lassen.

Ligten­berg: Es gab diesen einen promi­nenten Fall der Kawesqar, den übri­gens Sally Schon­feldt im Rahmen unseres deko­lo­nialen Stadt­rund­gangs beleuchtet. An der Zürcher Plat­ten­strasse gab es 1882 eine Ausstel­lung mit indi­genen Menschen aus Tierra del Fuego, das heute zu Chile gehört. Fünf dieser Menschen starben schliess­lich an Krank­heiten. Obwohl schon früh absehbar war, dass sie sehr schwer krank waren, wurden sie weiter in der Völker­schau ausge­stellt und erhielten keine oder erst spät Hilfe. Soweit ich weiss, gab es zu diesem spezi­fi­schen Fall kriti­sche Gegenstimmen.

Krauer: Gene­rell lässt sich aber sagen, dass sich die Formen des Wider­stands, über den ich gelesen habe, primär auf regu­la­to­ri­sche und admi­ni­stra­tive Sachen beschränken. Zum Beispiel im Zusam­men­hang mit dem „Sene­ga­le­sen­dorf“ im Zürcher Zoo: Im Stadt­ar­chiv gibt es Proto­kolle der Stadt­po­lizei, die belegen, dass sich damals die Anwohner*innen über den Trom­mel­lärm beschwert haben. Viele über­lie­ferte Beschwerden liegen in diesem regle­men­ta­ri­schen Bereich. Sehr selten sind dagegen Beschwerden, welche die Menschen­würde betreffen. In diesem Bereich sind wir nicht die Expert*innen. Aber sicher ist: Orga­ni­sierten, breiten Wider­stand gab es nicht. Es herrschte eher ein Konsens, dass „man das schon so machen kann“.

Was waren das denn für Menschen, die diese Völker­schauen besucht haben?

Krauer: Alle. Absolut alle. Durch alle Klassen hindurch. Rea Brändlis recher­chiert für ihr Buch über Zürcher Völker­schauen, dass zum Beispiel an einem Wochen­dende 1925 rund 20’000 Eintritte für das afri­ka­ni­schen „N‑Dorf“ in Alstetten verkauft wurden. Das sind extrem grosse Zahlen für eine Veran­stal­tung zu dieser Zeit.

Ligten­berg: Zum einen war die breite Öffent­lich­keit an diesen Shows inter­es­siert, zum anderen aber auch Wissenschaftler*innen, die sie nutzten, um anthro­po­me­tri­sche Vermes­sungen vorzunehmen.

Auch in Zürich?

Ligten­berg: Zürich war gewis­ser­massen ein globaler Hotspot der Rassen­for­schung.  1899 wurde an der UZH der Lehr­stuhl für physi­sche Anthro­po­logie von Rudolf Martin gegründet, der diese Rassen­for­schung im Kontext der Schweizer Wissen­schaft sehr stark gemacht hat. Rudolf Martin hat unter anderem das Lehr­buch der Anthro­po­logie heraus­ge­geben, welches zu einem Stan­dard­werk der Rassen­for­schung und Rassen­hy­gie­niker in ganz Europa avan­ciert ist. Später haben er und sein Schüler Otto Schlag­inhaufen direkt mit Natio­nal­so­zia­li­sten zusammengearbeitet.

Krauer: Durch die Konfron­ta­tion mit ausser­eu­ro­päi­schen Menschen und Gebieten wurde auch in der Wissen­schaft hier­zu­lande der Blick nach innen gerichtet. So gab es etwa Versuche, den Homo Alpinus zu finden.

Das Schweizer Pendant zum natio­nal­so­zia­li­sti­schen Arier-Ideal quasi?

Krauer: Genau. Man fragte sich: Was ist ein rich­tiger Schweizer? Nach dem ersten Welt­krieg hatte man rund 250 Rekruten vermessen, wobei jedoch nur 2% dem im Vorhinein errech­neten Ideal einer „alpinen Rasse“ entspra­chen. Die Messung schien sehr ungenau zu sein, deshalb startet man Mitte der 1920er eine zweite, viel umfang­rei­chere Messung. Aller­dings trafen die Krite­rien dieser konstru­ierten „alpinen Rasse“ bloss noch auf weniger als zwei Prozent der unter­suchten Rekruten zu.

Ligten­berg:  Man schreibt es sich nicht auf die grosse Fahne, aber mein Eindruck ist, dass man sich auch nicht gross gegen die Aufar­bei­tung wehrt. Die Knochen der Kawesqar, die hier gestorben sind, wurden zum Beispiel sehr medi­en­wirksam vor wenigen Jahren nach Chile zurück­ge­schickt und dort vergraben.

Krauer: Aber es wird nicht aktiv ange­gangen. Zum Beispiel in der ETH herrscht ja noch dieser Escher­sche Geist: Das Narrativ, dass Escher ein grosser Genius war. Es gibt sogar einen Escher Preis.

Monique Ligten­berg ist seit Oktober 2019 Dokto­randin an der Professur Geschichte der modernen Welt der ETH Zürich. Ihren Master in Geschichte und Philo­so­phie des Wissens hat sie mit der Arbeit ‚Zwei Schweizer Ärzte im „Fernen Osten‘. Wissen­schaft, nieder­län­di­scher Impe­ria­lismus, das Schweizer Bürgertum und die Kolonie als Kapital, ca. 1879–1935“ abgeschlossen.

Philipp Krauer ist seit Juli 2017 als Dokto­rand (SNF) an der Professur Geschichte der modernen Welt der ETHZ tätig. Er forscht unter anderem zu (Post-)Colonial Studies, Globaler und trans­na­tio­naler (Schweizer) Geschichte.

Der Verein Zürich Kolo­nial ist aus dem akade­mi­schen Umfeld der Geschichts­wis­sen­schaften in Zürich entstanden. Ziel des Vereins ist es, ein breites Publikum mit einem Audio­guide über die Kolo­ni­al­ge­schichte Zürichs aufzuklären.

Hierzu schreibt der Verein auf seiner Website: „Wir erhoffen uns dadurch, die Grund­lagen für eine Debatte über unser Zusam­men­leben in der Gegen­wart zu liefern, und möchten uns mithin für eine gerechte, tole­rante und deko­lo­ni­sierte Gesell­schaft einsetzen.“

Zu den Vereins­mit­glie­dern zählen neben Philipp Krauer und Monique Lich­ten­berg auch Stephanie Willi, Char­lotte Hoes und Jakob Kisker.

eitere Infor­ma­tionen sowie die digi­talen Rund­gänge finden Sie demnächst unter: http://zh-kolonial.ch

Reden wir über Escher. Was wäre eurer Meinung nach der rich­tige Umgang mit einer Person wie Escher, der so eng mit der Stadt Zürich verbunden, aber ebenso offen­kundig proble­ma­tisch ist.

Ligten­berg: Es ist ja eine mitt­ler­weile etwas bekann­tere Geschichte, dass die Familie Escher Plan­tagen in Kuba besass, auf der Sklaven gehalten wurden, und sie dadurch wieder zu Wohl­stand gelangte. Alfred Escher hatte selbst nichts damit zu tun, konnte aber daraufhin ein bequemes Leben im Belle­voir­park führen, eine Ausbil­dung machen und karrie­re­tech­nisch auch gewisse Risiken eingehen.* Auf einem finan­zi­ellen Funda­ment, das durch Sklaven erar­beitet worden war. Ich würde mir deswegen wünschen, dass man ihn nicht zu einem Helden hoch­sti­li­siert, sondern zum Anlass nimmt, über die Zeit, in der er gelebt hat, nach­zu­denken. Ich habe mir viele Gedanken gemacht zu diesen Statuen, die momentan so im Fokus sind…

Das wäre meine nächste Frage gewesen.

Ligten­berg: Dass vor dem Haupt­bahnhof eine Statue von Alfred Escher steht und keine Statue der Sklaven, die auf den Plan­tagen der Familie gear­beitet hatten und ihnen den Wohl­stand erst ermög­licht haben, ist schon kenn­zeich­nend dafür, wie unvoll­ständig wir unsere Geschichte erin­nern. Oder wieso nicht eine Statue der Gott­hard-Arbeiter, von denen viele für den Wohl­stand dieses Landes ihr Leben gelassen haben? Es war nie einfach irgendein grosser Mann, der grosse Sachen in einem Vakuum gelei­stet hat.

Herr Krauer, wie sehen sie das? Müsste man den Escher in die Limmat werfen?

Krauer: Ich würde mir für diese Statue wünschen, dass die Stadt zum Beispiel ein kuba­ni­sches Kunst­kol­lektiv einladen würde, welches sich der Statue annehmen könnte. Ich fände es heuch­le­risch, wenn die Stadt Zürich diese Statue heim­lich entfernen würde. Es braucht eine Debatte.

Escher ist das viel­zi­tierte Sinn­bild. Aber denken Sie, dass sich die Stadt Zürich gene­rell zu wenig mit ihrer kolo­nialen Vergan­gen­heit auseinandersetzt? 

Krauer: Nehmen wir die verstor­benen Kawesqar: Im ehema­ligen Plat­ten­garten steht jetzt das Schwe­stern­hoch­haus. Dort erin­nert nichts mehr an das Schicksal dieser Menschen.

Ligten­berg: Der öffent­liche Raum ist das eine, aber wo es vor allem grossen Nach­hol­be­darf gibt, ist die Geschichts­päd­agogik. Wenn ich an den Geschichts­un­ter­richt in der Schule denke, finde ich es wenig über­ra­schend, dass diese Vergan­gen­heit kein Teil der kollek­tiven Wahr­neh­mung ist. Wenn immer nur erzählt wird — es gab mal den Rütli­schwur, dann die Schlacht von Morgarten, dann war irgend­wann die Neutra­lität da, Zweiter Welt­krieg und zack sind wir wo wir heute sind – dann kann gar kein Bewusst­sein etabliert werden.

Krauer: Ich denke, bezüg­lich der Thema­ti­sie­rung der Kolo­ni­al­zeit hat sich in den letzten Jahren ein biss­chen was getan, aber nicht genug. Was beson­ders fehlt, ist die Verknüp­fung der kultu­rellen, ökono­mi­schen und der Migra­ti­ons­per­spek­tive. Es muss aufge­zeigt werden, dass es eben nicht nur ein paar Schweizer Kauf­leute gab, die invol­viert waren. Der Fokus muss auch auf den Ideen, Bildern und Vorstel­lungen aus dieser Zeit liegen, die teil­weise bis heute wirksam sind.

Ist diese verzo­gene Erin­ne­rungs­kultur in gewisser Art und Weise poli­ti­sches Kalkül?

Ligten­berg: Sie ist ein histo­risch gewach­senes Selbst­bild. Es gibt Dinge, an die man sich nicht zwin­gend kollektiv erin­nern möchte. Gleich­zeitig kam auch die Geschichts­schrei­bung, wie wir sie kennen, erst im 19. Jahr­hun­dert auf. Mit der Natio­nal­staa­ten­bil­dung bestand ein enormes Inter­esse, gewisse Geschichten und Mythen zu konstru­ieren, die eine gemein­same Iden­tität begründen und die Gesell­schaft zusammenschweissen.

Krauer: 1850 war die Schweiz eines der ärmsten Länder Europas. Es ist dann schon attraktiv zu sagen, wir hätten das alles, diesen Wohl­stand, aus eigener Kraft erreicht, sich auf ein paar starke Männer zu berufen – und alles drum­herum auszu­blenden. Sich mit der eigenen Vergan­gen­heit zu konfron­tieren würde bedeuten, dass auch die Schweiz über Resti­tu­tionen nach­denken müsste, darüber, was in den eigenen Museen steht und warum diese Dinge eigent­lich hier sind. Und die Schweiz müsste sich auch fragen, was unsere Rolle darin ist, dass es bis heute ein ökono­mi­sches Nord- Südge­fälle gibt und welche Verant­wor­tung wir tragen müssen.

*Korri­gendum: Am 20.6.2020 wurde diese Passage leicht ange­passt. Vorher stand hier folgendes: „Es ist ja eine mitt­ler­weile etwas bekann­tere Geschichte, dass sein Vater nach Kuba ausge­wan­dert war, wo er Sklaven auf Plan­tagen hielt, und dass erst diese der verarmten Familie Escher wieder zu Wohl­stand verhalfen. Alfred Escher konnte daraufhin ein bequemes Leben im Belle­voir­park führen, eine Ausbil­dung machen und karrie­re­tech­nisch auch gewisse Risiken eingehen.“


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