Frauen im Libanon: „Hin zu einem extrem progres­siven Feminismus“

Seit Beginn der Proteste im Oktober 2019 standen die Frauen an der vorder­sten Front der revo­lu­tio­nären Bewe­gung. Inmitten von Hyper­in­fla­tion und der Repres­sion des Staates kämpfen athe­isti­sche sowie reli­giöse Frauen und Gastarbeiter:innen weiter für recht­liche Gleich­stel­lung, die Einfüh­rung eines Zivil­rechts und gegen Ausbeu­tung am Arbeitsplatz. 
Aktivistin mit Megaphon auf einer Demonstration in Beirut gegen Vergewaltigung, sexuelle Belästigung und Polizeigewalt, Oktober 2019 (Foto: Hussein Baydoun)


„Dieses Jahr gibt es keine grosse femi­ni­sti­sche Demon­stra­tion zum Inter­na­tio­nalen Frau­entag. Grund sind die Corona-Mass­nahmen“, sagt Elham Barjas, femi­ni­sti­sche Akti­vi­stin aus Beirut am Tag vor dem 8. März. Statt­dessen würden diverse Webse­mi­nare zu Femi­nismus und Frau­en­rechten durch­ge­führt, um gleich­wohl eine grosse Anzahl Menschen errei­chen zu können.

Seit Beginn der Massen­de­mon­stra­tionen im Oktober 2019, in Zuge derer die Regie­rung unter dem korrupten Milli­ardär Saad Hariri zu Fall gebracht wurde, standen die Frauen an der vorder­sten Front der revo­lu­tio­nären Protest­be­we­gung. Sie waren es, die die Initia­tive ergriffen. Sie waren es, die sich den Schlä­ger­truppen des schii­ti­schen Hizbullah entge­gen­setzten.

Dies mitunter deshalb, weil sie am stärk­sten von struk­tu­reller Ungleich­be­hand­lung betroffen sind.

Poli­zei­liche Mass­nahmen gegen eine Demon­strantin in Beirut am Tag der Arbeit, 1. Mai 2020 (Foto: Hussein Baydoun)

Libanon steht im jähr­lich vom Welt­wirt­schafts­forum (WEF) erstellten Global Gender Gap Index auf Platz 145 von 153. Frauen verdienen um ein Viel­fa­ches weniger als Männer, sind inner­halb der Familie abhängig von deren Lohn und haben gesetz­lich nur geringen bis gar keinen Schutz. Oft ist ihr Zugang zu Leistungen und Arbeit abhängig von Fami­li­en­be­zie­hungen. Durch das im Nahen Osten verbrei­tete Kafala-System, das den legalen Aufent­halts­status von Gastarbeiter:innen an den Vertrag mit den – meist privaten – Arbeitgeber:innen koppelt, sind viele von ihnen Ausbeu­tung, ausblei­benden Lohn­zah­lungen, sexua­li­sierter Gewalt oder der Konfis­zie­rung des Reise­passes ausgesetzt.

Die unter­schied­li­chen Formen der Unter­drückung der Frauen im Libanon – sei es am Arbeits­platz, in der Familie oder in der Öffent­lich­keit – sind eine direkte Folge des konfes­sio­nellen poli­ti­schen Systems.

Diese nach dem Ende des Bürger­krieges 1990 wieder instand­ge­setzte Verbin­dung von Politik und Reli­gion sieht ein komplexes Wahl­pro­ze­dere und einem nach reli­giöser Herkunft fest­ge­legten Mecha­nismus in der Beset­zung poli­ti­scher Ämter vor. Der Konfes­sio­na­lismus hat nicht nur zu massiver Korrup­tion und Klien­te­lismus geführt, sondern auch Parteien hervor­ge­bracht, die über die Politik hinaus beinahe jeden Bereich des Alltags der Menschen bestimmen. Stets auf Basis der Religionszugehörigkeit.

Demon­stra­tion am Inter­na­tio­nalen Frau­entag 2020 in Beirut. Haupt­for­de­rung: Anspruch auf das Recht, als Mutter den eigenen Kindern die Natio­na­lität über­tragen zu können, 8. März 2020 (Foto: Hussein Baydoun)

So ist ein Gross­teil der Frauen in ihrem Alltag abhängig von einer reli­giösen Gruppe oder der entspre­chenden Partei. Über die Loya­lität zu diesen erhalten sie Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung.

Aufgabe der femi­ni­sti­schen Bewe­gung sei es deshalb auch, über­haupt ein Bewusst­sein für die zur Norma­lität gewor­denen Zwänge der reli­giösen Herkunft zu schaffen, wie Barjas meint. Neben der Orga­ni­sa­tion von nicht-reli­giösen femi­ni­sti­schen Zirkeln müssten auch über die Parteien Frauen erreicht werden. Aufgrund der Verwo­ben­heit von Reli­gion, Politik, Gesell­schaft und Alltag müssen sich die femi­ni­sti­schen Gruppen immer auch damit ausein­an­der­setzen, wie sich die Reli­gi­ons­ge­mein­schaften von innen her femi­ni­stisch umdeuten lassen.

Demon­strantin am Inter­na­tio­nalen Frau­entag in Beirut, 8. März 2020 (Foto: Hussein Baydoun)

„Seit dem 17. Oktober findet bei einigen progres­siven Parteien ein Umdenken statt“, führt Barjas aus. „Die oppo­si­tio­nellen Gruppen setzen sich nun mit Frauen‑, LGBTIQ- und den Rechten von Gastarbeiter:innen ausein­ander. Doch auf staat­li­cher Ebene ist die Diskri­mi­nie­rung immer noch dieselbe.“ Die in den oppo­si­tio­nellen Parteien wach­sende Denk­weise sei ein erster Schritt hin zu einem „extrem progres­siven Feminismus“.

Strasse, Räte, Barrikade

Der Ursprung der staat­li­chen Diskri­mi­nie­rung liegt darin, dass es per Verfas­sung ermög­licht wird, dass die 18 verschie­denen Reli­gi­ons­ge­mein­schaften frau­en­feind­liche Gesetze erlassen können. So werden beispiels­weise die Gesetze über den Fami­li­en­stand von jeder Konfes­sion separat gere­gelt. Sie legen nicht nur den Mann als Ober­haupt der Familie fest, sondern sorgen auch dafür, dass sich die Frauen und Kinder der Reli­gion des Mannes anschliessen müssen und in die patri­ar­chalen Struk­turen der Reli­gi­ons­ge­mein­schaften hinein­ge­zogen werden.

Um die Abhän­gig­keit von den Männern und den Reli­gi­ons­ge­mein­schaften zu brechen, ist die Einfüh­rung eines Zivil­rechts zur Durch­set­zung der Gleich­be­rech­ti­gung eine der Haupt­for­de­rungen der femi­ni­sti­schen Bewegung.

So finden in Beirut seit dem 17. Oktober 2019 regel­mässig Proteste von Frauen vor den Einrich­tungen der reli­giösen Räte wie dem Hohen Isla­mi­schen Rat der Schiiten, dem offi­zi­ellen Reprä­sen­ta­ti­ons­organ der Schiit:innen im Libanon, statt. Neben dem über­ge­ord­neten Ziel der Einfüh­rung eines Zivil­rechts fordern sie konkret vor allem das Sorge­recht für die eigenen Kinder.

Demon­stra­tion vor dem Hohen Isla­mi­schen Rat der Schiiten für den Anspruch auf das Recht, den Kindern ihre reli­giöse Herkunft über­tragen zu können, Oktober 2019 (Foto: Hussein Baydoun)

Die orga­ni­sierten femi­ni­sti­schen Gruppen unter­stützen Frauen aus unter­schied­li­chen Lebens­be­rei­chen in ihren jewei­ligen Kämpfen, wie Barjas meint. Ob mit reli­giösem oder athe­isti­schem Hinter­grund, ob Student:in oder Gastarbeiter:in – der Kampf der Frauen sei ein Kampf gegen das System. „Deshalb ist es extrem wichtig, dass wir uns vernetzen. Gerade jetzt, während Corona“, fügt sie an.

Vor allem die Gastarbeiter:innen wurden hart von der Krise getroffen. Laut Amnesty Inter­na­tional lebten 2019 unge­fähr 250’000 von ihnen im Libanon, ein Gross­teil davon Frauen aus ostafri­ka­ni­schen Ländern wie Äthio­pien. Viele dieser Frauen sind über das Kafala-System ange­stellt. Um ein entspre­chendes Visum zu erhalten, müssen sie stets den Namen der Arbeitgeber:innen angeben.

Im Zuge der Corona-Krise verloren viele der Gastarbeiter:innen ihre Erwerbs­ar­beit. „Dieje­nigen, die noch immer arbeiten können, erhalten zum Teil ihren Lohn nicht mehr. Und wenn, dann in Liba­ne­si­schen Pfund“, sagt Barjas. „Das bedeutet, dass sie ihren Fami­lien zu Hause kein Geld mehr zusenden können.“

Demon­stra­tion von Gastarbeiter:innen für Gleich­be­rech­ti­gung und ein Ende des Kafala-Systems (Foto: Hussein Baydoun)

Im Vergleich zum US-Dollar hat das Liba­ne­si­sche Pfund im letzten Jahr massiv an Wert verloren. Mitt­ler­weile erhält man auf dem Schwarz­markt für 10’000 Liba­ne­si­sche Pfund einen läppi­schen Dollar.

Unter anderem deshalb wollen viele Gastarbeiter:innen den Libanon verlassen. Einige erwägen sogar die Rück­reise in das bürger­kriegs­ge­fähr­dete Äthio­pien. Doch da viele von ihnen nicht mehr im Besitz eines Passes sind, wird ihnen die Ausreise unter­sagt.

 

Wie auch mit den reli­giösen Frauen vor den schii­ti­schen Räten demon­strieren die femi­ni­sti­schen Gruppen Seite an Seite mit den Gastarbeiter:innen vor den Botschaften und Mini­ste­rien und fordern Ausrei­se­er­laub­nisse und ein Ende des Kafala-Systems.

Demon­stra­tion von Gastarbeiter:innen für besseren gesetz­li­chen Schutz und ein Ende des Kafala-Systems (Foto: Hussein Baydoun)

„Wir wollen unsere Rechte einfor­dern“, sagt Barjas. „Nicht nur auf der Strasse, sondern auch vor Gericht.“

Bis es soweit kommt, vernetzen sich die Frauen weiterhin so gut es geht, betreiben Aufklä­rungs­ar­beit und tragen wo immer möglich ihre Wut auf die Strasse.

Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die ange­staute Wut der stark unter der Wirt­schafts­krise leidenden Menschen im Libanon wieder zu Gross­de­mon­stra­tionen in den Strassen von Beirut führen wird. Anzei­chen dafür liefern dieser Tage verein­zelte Protest­ak­tionen und Stras­sen­bar­ri­kaden. An vorder­ster Front: die Frauen.

Stras­sen­blockade auf dem Märty­rer­platz in Beirut, 8. März 2021 (Foto: Hussein Baydoun)

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