Gegen das Gelesenwerden

Mit CON TEXT beweist Meral Ziegler, dass auch aus der Slam-Lite­ratur grosse Bücher hervor­gehen können. Ihr Werk aus kurzen Texten, Mono­logen und Gedichten fügt sich zu einem stim­migen Ganzen, das fast nebenbei noch ein neues Licht auf die alte Debatte um Iden­tität und Iden­ti­täts­po­litik in der Kunst wirft. 
CON TEXT - keine leichte, aber sicher eine gewinnbringende Sommerlektüre (Foto: Lektora Verlag)

Es gibt diese Bücher, die scheinbar von allem mögli­chen erzählen – vom Leben, vom Lieben und von den aller­letzten Dingen – und die beim näheren Hinsehen doch immer nur auf eine einzige Frage zurück­führen: Was ist Literatur?

Meral Zieg­lers kleiner Band CON TEXT gehört zwei­fellos in diese Reihe. Aber im Unter­schied zu vielen anderen stellt er die Frage so gekonnt lässig, dass sie rheto­risch wird – also die Antwort gleich mitlie­fert: Was ist schon Lite­ratur? Irgendwie alles, zumin­dest alles, was zwischen zwei Buch­deckel passt.

Was hier viel­leicht ein biss­chen lapidar klingt, ist tatsäch­lich die grosse Stärke von CON TEXT. Das Buch versam­melt Texte aus zehn Jahren, die meisten davon für die Bühne geschrieben, für Poet­rys­lams oder andere Lesee­vents. Der genaue Kontext – Achtung Wort­spiel – bleibt verborgen, aber man kennt die Autorin aus der Szene; und ihre Texte sind Musik. Sie drängen zur gespro­chenen Sprache, zum Lesen, zum Flüstern, zum Schreien. Fast, als würden sie sich nur wider­willig zwischen ihre Buch­deckel pressen lassen. Eher wollen sie raus, im Lesen und Rezi­tieren aufein­ander reagieren, sich ergänzen, mit Bedeu­tungen aufladen.

Eine einheit­liche Text­gat­tung hat CON TEXT nicht. Es gibt Mono­loge, die mit grosser rheto­ri­scher Geste ins Nichts ausufern.

Daneben stehen auf ihre Essenz redu­zierte Dialoge – auf die abso­lute Essenz, wenn es heisst:

„Du: Da bin ich. / Ich: Ich grüsse dich.“

Keine durch­ge­hende Erzäh­lung, dafür Rhythmus und Poesie

Es gibt kurze, verdich­tete Erzäh­lungen voll brodelnder Energie und lässig daher­kom­mende Ich-Texte, die einem Teen­ager-Tage­buch entstammen könnten – Seiten, die man Jahre später, beim Auszug von Zuhause, in einer Kiste findet und mitnimmt, einfach, weil es zu schwer fällt, sie wegzu­werfen. Dort fallen Sätze wie:

„Ich gehe in die Hocke und puste auf das kleine Stück Pappe, sodass Staub­mäuse in alle Rich­tungen fliegen und dicke, lange, schwarze Haare aufwir­beln. Diese Haare, die sich in gewal­tigen Mengen im Erdge­schoss verteilen, sodass ich manchmal kaum glauben kann, wie dicht und üppig es dennoch auf meinem Kopf wuchert.“

Meral Ziegler (Foto: Jakob Kielgass)

Meral Ziegler, 1993 in Berlin geborgen, wuchs zwischen Amrumer Dünen, Tempel­städten und Koral­len­riffen im indi­schen Ozean auf. Ausserdem am Hamburger Stadt­rand. Ihren ersten Poet­ryslam-Sieg heimste sie bei ihrem Premieren-Auftritt 2009 auf einem Haus­boot auf dem Isebek­kanal ein. Es folgten mehrere Landes­mei­ster­schafts­titel, ein Jugend­buch und der Lite­ra­tur­preis „Junge Kunst“ der Stadt Konstanz. Meral Ziegler schloss ihren Bachelor der Literatur‑, Kunst- und Medi­en­wis­sen­schaften in Konstanz und Wien ab und ist nun Master­stu­dentin der Kunst­ver­mitt­lung und des Kultur­ma­nage­ments in Düsseldorf.

Eine durch­ge­hende Erzäh­lung ist beim ersten Lesen nicht erkennbar. Viel­mehr ist das Buch rhyth­misch geglie­dert und erin­nert auch damit an seinen Ursprung im Poet­ryslam. Trotzdem lassen sich Themen ausma­chen, um die alle Texte kreisen: Familie, das Aufwachsen in Deutsch­land mit türki­schen Wurzeln, die Selbst­be­haup­tung einer Frau im Lite­ra­tur­be­trieb. Und auch die Perspek­tive ist klar: Hier schreibt die Autorin Meral Ziegler über ihre Sicht auf die Dinge, wodurch viele Texte einen essay­haften Charakter bekommen.

Mehr als eine schöne Leseerfahrung

Das alles ist zwei­fellos schön zu lesen, es hat Rhythmus und entwickelt einen ganz eigenen Sound, irgendwo zwischen Rap und Free Jazz, der noch lange, nachdem man CON TEXT wieder zur Seite gelegt hat, nach­hallt. Aber man würde dem Buch nicht gerecht, wenn man es auf eines dieser Spiele redu­ziert, die zwei­fellos darin ange­legt sind: Spiele mit Worten, mit Gattungen, mit Leser:innenerwartungen.

Denn bei näherem Hinsehen, beim zweiten oder dritten Lesen, fügen sich all diese kleinen Texte und Text­fetzen in CON TEXT wie Puzzle­teile zu einem Ganzen und erzählen doch noch eine Geschichte. Die Geschichte der Autorin auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt.

Man könnte also sagen CON TEXT ist ein Entwick­lungs­roman. Aller­dings nicht der vom roman­ti­schen Genie im stillen Kämmer­chen erdachte und sauber zur grossen Erzäh­lung gefügte – mit der patri­ar­chalen Behaup­tung, selbst die ganze Geschichte zu sein. CON TEXT ist ein Entwick­lungs­roman für fragi­lere Iden­ti­täten, die es nicht nötig haben, alles zu bestimmen, zu beherr­schen, zu lenken – die am eigenen Leib erfahren haben, was es heisst, bestimmt und beherrscht zu werden, und sich der einfa­chen Repro­duk­tion dieser Geste enthalten wollen.

Lesbar­keit als Problem

„Viel­leicht hast du Talent, das gebe ich zu“, zitiert ein Text einen ehema­ligen Deutsch­lehrer, „aber den Migra­ti­ons­hin­ter­grund, den kann man einfach heraus­lesen, wenn du schreibst.“

Womit der Lehrer nur ausspricht, was die soge­nannte Mehr­heits­ge­sell­schaft mit den nicht voll­ständig Aner­kannten macht: Aus ihren Texten wird das Immer­gleiche heraus­ge­lesen. Egal, was sie schreiben, es bleibt der Migra­ti­ons­hin­ter­grund als uner­bitt­lich zuge­schrie­bene Identität.

Wollen diese Menschen sich wehren, müssen sie das stän­dige Gele­sen­werden gerade verhin­dern, müssen sie die Leser:in ins Stol­pern bringen und sie zwingen, vom vorein­ge­nommen Lesen ins Denken zu kommen. Ein Ansatz, den CON TEXT mit seinen Genre­brü­chen und oft nicht einfach verständ­li­chen Kurz­texten sehr genau ausarbeitet.

Dadurch wird das Buch zu einer Art Anti-Lese­buch, das in seiner Holp­rig­keit den Begriff der Iden­tität immer und immer wieder seziert, statt die Leser:in in Ruhe hinein­lesen zu lassen, was ihren Vorur­teilen entspricht: Leser:innenabwehr als Mittel zum poli­ti­schen Kampf um Identität.

Univer­sa­lismus vs. Identität

Die bürger­liche Kritik an solcher Iden­ti­täts­po­litik ist bekannt: Süffi­sant wird darauf verwiesen, dass die Progres­siven sich doch eigent­lich der Gleich­heit aller Menschen verschrieben haben, der Auflö­sung von kate­go­rialen Zuschrei­bungen. Man hört fast das Lachen der alten Herren von NZZ bis FAZ, wenn sich wieder eine Frau mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund gezwungen sieht, mit ihrer Iden­tität ausein­an­der­zu­setzen: „Haha, wo ist er denn hin, der linke Universalismus?“

Ganz einfach: Er muss den Weg über die Iden­tität gehen, weil Iden­ti­täten in einer Welt des stän­digen Gele­sen­wer­dens nun mal das vorherr­schende poli­ti­sche Mate­rial sind. Mit ihnen wird Politik gemacht – und sie muss man nutzen, auch und gerade dann, wenn das Ziel die Infra­ge­stel­lung aller Iden­ti­täten ist.

Mit dem QR-Code gegen das Gelesenwerden

Dass Meral Ziegler dieses Ziel verfolgt, zeigt sich, wenn sie das Stol­per­prinzip als Leser:innenabwehr auf die Spitze treibt; dann, wenn nicht nur die Erzäh­lung stockt, sondern das zu lesende Zeichen selbst unlesbar wird.

In CON TEXT passiert das so lässig und nebenbei, dass man es fast über­lesen könnte. Auf manchen Seiten findet sich neben den Worten nämlich noch ein anderes Zeichen: ein einfa­cher QR-Code – jenes Zeichen also, das niemand von uns ohne Hilfs­mittel lesen kann.

Der QR-Code steht meist am Ende eines Textes auf der leeren Seite, beschriftet mit dem Satz: „Diesen Text anschauen (Live­ver­sion)“.

Wer nun den QR-Code-Leser am Smart­phone als Krücke bemüht und das unles­bare Zeichen „liest“, wird mit der authen­ti­schen Stimme der Autorin belohnt. Ein YouTube-Video ploppt auf und Meral Ziegler sagt: „Hallo“. Genau­ge­nommen sagt sie meistens: „Hallo, ihr Lieben!“ Und liest dann auf einer Comedy-Stage den jewei­ligen Text vor.

Das Anti-Lese­buch, das Texte zwischen zwei Buch­deckel quetscht, die eigent­lich gar nicht dort hinge­hören, gibt seine Texte am Ende also wieder frei: zurück an die Stimme, an den Sound, an die Bühne – an den leben­digen Menschen. Und die Leser:in, die es auf sich genommen hat, durch die Text­fetzen zu stol­pern, dabei immer zum Mitdenken gezwungen, kann sich plötz­lich zurück­lehnen, zuhören, sich treiben lassen.

Schluss­ap­plaus zwischen zwei Buchdeckeln

Applaus für die Autorin. Nicht nur, weil die Texte gut performt sind – Meral Ziegler weiss, was sie auf der Bühne zu tun hat – sondern auch, weil sich am Ende die allge­gen­wär­tige Iden­ti­täts­kritik selbst so wunder­schön toppt und damit allen Kritiker:innen den Wind aus den Segeln nimmt. War es die zerris­sene und aufok­troy­ierte Iden­tität, die ein Buch forderte, das sich nur unter Wider­stand lesen lässt, ist es der Moment des grössten Lese­wi­der­stands im QR-Code, der durch all die Iden­ti­täten den ganzen Menschen hindurch­schim­mern lässt.

Irgendwie endet die Lite­ratur im QR-Code und beginnt das Leben (auch wenn vorerst nur auf Video) am Ende der Lite­ratur. Damit schliesst CON TEXT den Kreis zum Entwick­lungs­roman einer Frau, die sich tatsäch­lich frei gemacht hat von allen iden­ti­tären Zuschrei­bungen, indem sie selber liest, statt sich lesen zu lassen.

Wohl einer der radi­kal­sten Akte der Selbst­er­mäch­ti­gung, den die aktu­elle Lite­ratur zu bieten hat. Und ein eleganter Konter gegen bürger­liche Kritik an Iden­ti­täts­po­litik: „Wo ist er denn nun, euer Universalismus?“

Da steht er (besser sie) auf der Bühne, schaut freund­lich in die Kamera und liest den eigenen Text, bevor andere wieder irgendwas hinein­lesen können.

Meral Ziegler: „CON TEXT“, Lektora Verlag, Schil­dern 2021, 108 Seiten, ISBN: 9783954611706

Vom Text über den QR-Code zum Youtube-Video: Wem das noch nicht genug ist, wer die Autorin einmal wirk­lich live erleben will, kann beim Lamm diese Erfah­rung machen. Die Lamm-Redak­tion entwickelt in Zusam­men­ar­beit mit Meral Ziegler und der Buch­hand­lung Para­noia einen eigenen Lite­ra­tur­club. An vorerst drei Abenden werden Autor:innen einge­laden, um ihre Werke live zu bespre­chen, zu performen, zu lesen oder darauf anzu­stossen. Das alles unter der Mode­ra­tion von Meral Ziegler, die mit ihrem Buch CON TEXT nicht zuletzt das neue Format inspi­riert hat. Die erste Veran­stal­tung wird im Januar 2022 statt­finden, Ort und Termine werden an dieser Stelle recht­zeitig bekanntgegeben.

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