„Gewalt ist ein struk­tu­relles Problem, dem wir kollektiv entge­gen­treten müssen“

Während der Coro­na­pan­demie nahmen Fälle von häus­li­cher Gewalt zu. Aktivist*innen haben sich zusammen getan und eine Hotline für Menschen mit Gewalt­er­fah­rung ins Leben gerufen: das Telefon gegen Gewalt (TGG).
Das Telefon gegen Gewalt durchbricht das Schweigen mit einer Hotline für Betroffene. (Foto: Jason Leung / Unsplash)

Das Lamm: Wann kann ich mich an das Telefon gegen Gewalt wenden?

TGG: Du kannst mit jeder Gewalt­er­fah­rung zu uns kommen. Auch wenn du denkst, es sei gar nicht so schlimm. Natür­lich kann man uns auch in Notfällen errei­chen, ein Notfall ist aber keine Voraus­set­zung für ein Tele­fonat. Du kannst einfach so anrufen oder wenn dir etwas passiert ist und du es erst zwei Wochen später reali­sierst. Du kannst uns anrufen, wenn du bereits mitten im Gerichts­pro­zess steckst oder wenn du über dich und deine Erfah­rungen spre­chen willst.

Wie seid ihr auf die Idee zum Telefon gegen Gewalt gekommen?

Die Initia­tive ging vom Verein RoSara aus, der mehr­spra­chig Frauen mit Gewalt­er­fah­rung berät. Zu Beginn von Corona hatte RoSara aufgrund der Zunahme von häus­li­cher Gewalt eine Telefon-Hotline ins Leben gerufen. Es zeigte sich bald, dass es einen hohen Bedarf gibt – und so suchte man den Austausch mit anderen akti­vi­sti­schen Gruppen. Das war 2020. Mitte bis Ende Jahr konkre­ti­sierten sich die Pläne und im Früh­jahr 2021 ging das Telefon gegen Gewalt an die Arbeit.

TGG: Telefon für gewalt­be­trof­fene Frauen – soli­da­risch, anonym, gratis

Ins Leben gerufen: 14. Juni 2021
Von wem? FLINT Menschen (Frauen, Lesben, inter, nicht­bi­näre und trans
Personen)
Für wen? Gewalt­be­trof­fene Frauen. Bieten eine erste Anlauf­stelle. Beraten,
infor­mieren und vermit­teln an passende Bera­tungs­stellen weiter.
Erreich­bar­keit: Von Freitag 18.00 Uhr bis Montag 08.00 Uhr
Tele­fon­nummer: 076 516 26 76
E‑Mail: info@telefon-gegen-gewalt.ch
Spra­chen: Deutsch, Englisch, Spanisch, Fran­zö­sisch, Bosnisch, Italie­nisch, Kurdisch, Portu­gie­sisch, Rumä­nisch, Türkisch, Arabisch, Persisch

Seid ihr also ein Toch­ter­verein von RoSara?

Das Projekt TGG ist ein eigen­stän­diges Projekt. Es hat sich unab­hängig von RoSara entwickelt, ist jedoch in die Vereins­struktur eingebettet.

Wie finan­ziert ihr euch?

Wir haben Fixko­sten wie beispiels­weise die Tele­fon­rech­nung. Diese werden durch Spen­den­gelder abge­deckt. Die Spenden laufen über das Vereins­konto. Löhne oder ähnliche Kosten entfallen, da es sich um akti­vi­sti­sche Arbeit handelt. Wir machen unsere Arbeit nicht für Geld, sondern aus der Über­zeu­gung heraus, dass es Menschen braucht, die sich mit von Gewalt Betrof­fenen soli­da­risch zeigen und die hinschauen und als Zeug:innen fungieren.

Warum ist euer Telefon ausge­rechnet Freitag bis Montag erreichbar?

Einer­seits aufgrund unserer Ressourcen. Wir sind alle haupt­be­ruf­lich noch ander­weitig tätig. Der Arbeit beim TGG gehen wir in unserer Frei­zeit nach, als unbe­zahltes poli­ti­sches Enga­ge­ment. Ande­rer­seits aufgrund der Öffnungs­zeiten offi­zi­eller Bera­tungs­stellen. Die haben über das Wochen­ende meistens geschlossen. Es gibt an diesen Tagen also einen Mangel an Anlaufstellen.

Seht ihr euch selbst als Beratungsstelle?

Nein. Für uns ist extrem wichtig: Wir sind keine Bera­tungs­stelle und machen keine Bera­tungen. Von einzelnen Ausnahmen abge­sehen gibt es bei uns auch keine ausge­bil­deten Fach­per­sonen. Wir bilden eine soli­da­ri­sche Struktur, eine erste Anlauf­stelle, in der es primär darum geht, zuzu­hören, unter­stüt­zend zu wirken und die Gewalt­er­fah­rung anzuerkennen.

Wenn es nicht der beruf­liche Hinter­grund ist, was quali­fi­ziert euch denn für diese anspruchs­volle Arbeit?

Im Kern sind es Über­zeu­gung und Haltung, die uns quali­fi­zieren. Wir finden, die Unter­stüt­zung von gewalt­be­trof­fenen Personen darf nicht nur von Fach­per­sonen getragen werden, sondern ist eine gesamt­ge­sell­schaft­liche Aufgabe und soll gesamt­ge­sell­schaft­lich mitge­tragen werden.

Von wie vielen Aktivist:innen spre­chen wir bei TGG?

Wir sind eine über­schau­bare Gruppe von etwa 10 bis 12 Personen.

Und wie koor­di­niert ihr eure Einsätze?

Es gibt einen Schicht­plan, in den man sich eintragen kann. Norma­ler­weise wird eine Schicht jeweils von zwei Personen abge­deckt. Diese tragen dann die Haupt­ver­ant­wor­tung. Bei Notfällen oder ander­wei­tigen Heraus­for­de­rungen steht noch eine Backup-Person zur Verfü­gung. Im Allge­meinen können wir immer auf das ganze Kollektiv zurück­greifen, sei es um Rück­sprache zu halten, sich über Vorge­fal­lenes auszu­tau­schen oder schlichtweg um Unter­stüt­zung einzufordern.

Wie sieht eure Unter­stüt­zung am Telefon konkret aus?

Einer unserer zentralen Grund­sätze lautet: Wir treffen keine Entschei­dungen für die Person am Telefon. Wir agieren ledig­lich als Zeug*innen, die die Tat aner­kennen, als unter­stüt­zende Personen, die zuhören. Darüber hinaus können wir Möglich­keiten für das weitere Vorgehen aufzeigen. Alle Entschei­dungen fällt die anru­fende Person aber selbst. Sie trägt allein die Verant­wor­tung. Sie entscheidet, wie sie vorgehen will, ob sie über­haupt etwas unter­nehmen will und, wenn ja, an welche Bera­tungs­stelle sie sich wenden will. Wir reden nicht drein. Wir verur­teilen nicht. Genauso wenig stellen wir ihre Erfah­rung, ihr Erlebtes in Frage oder bewerten es. Wir trauen der Person zu, dass sie am besten weiss, was gut für sie ist.

Was hilft euch bei den Telefonaten?

Wir haben als Hilfe­stel­lung Leit­fäden erstellt, die eine gewisse Struktur anbieten. Und dann sind da noch unsere Grund­sätze. Wir sind soli­da­risch, anonym und stehen allen Personen zur Seite, unab­hängig von der jewei­ligen Gewalt­er­fah­rung, dem finan­zi­ellen oder sprach­li­chen Hintergrund.

Was würdet ihr als das wesent­liche Problem im Umgang mit Gewalt­er­fah­rungen bezeichnen?

Das Problem bei Gewalt­er­fah­rungen ist: Du stehst oft alleine da. Gewalt­er­fah­rungen isolieren. Dagegen kämpfen wir an. Wir erkennen Gewalt auch als ein struk­tu­relles Problem an, welchem wir kollektiv entge­gen­treten müssen.

Gibt es Personen, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihres sozialen Status‘ häufiger Gewalt erleben?

Gewalt findet überall statt! Alle Personen können Gewalt­er­fah­rungen machen. Aber natür­lich gibt es Menschen­gruppen, die aufgrund der vorherr­schenden patri­ar­chalen Struk­turen eher Gewalt ausge­setzt sind. Dies oft auch in Zusam­men­hang mit behörd­lich ausge­übter Gewalt. Ein Beispiel: Wenn deine Aufent­halts­be­rech­ti­gung an ein*e Ehepartner*in gekop­pelt ist, bleibt als einzige Möglich­keit zur Migra­tion oft die Heirat. Das sehen wir bereits als eine erste Form von behörd­li­cher Gewalt. Und so gibt es sehr viele Ungleich­heits­struk­turen in unserer Gesell­schaft, von denen gewisse Personen eher betroffen sind und die es beim weiteren Vorgehen zu berück­sich­tigen gilt.

Wie eurem Flyer und eurer Home­page zu entnehmen ist, richtet sich das Angebot primär an Frauen. Steht das nicht im Wider­spruch zur Aussage, Gewalt kann allen widerfahren?

Nein. Aus unserer poli­ti­schen Haltung und unserer Moti­va­tion heraus stehen wir nicht nur Frauen als Platt­form zur Verfü­gung. Wir sind offen für alle FLINTA Personen und hatten auch schon ein Tele­fonat, bei dem uns ein Mann kontak­tierte. Wir lehnen grund­sätz­lich niemanden ab.

Warum habt ihr euch als Medium das Telefon ausgesucht?

Aus unserer Sicht ist es am einfach­sten zugäng­lich. Zudem lässt sich die Anony­mität wahren. Wir sind natür­lich primär übers Telefon erreichbar, aber wir haben beispiels­weise auch schon Personen bei Termin­ver­ein­ba­rungen oder beim Gang zur Behör­den­stelle begleitet.

Wie blickt ihr hinsicht­lich der akti­vi­sti­schen Arbeit in die Zukunft?

Wir sind noch relativ jung und arbeiten gerade daran, uns weiter zu vernetzen und unsere Tele­fon­nummer zu etablieren. Momentan verteilen Frei­wil­lige fleissig in der ganzen Stadt Zürich Sticker und Flyer. In Bezug aufs Vernetzen sind wir damit beschäf­tigt, eine Liste sensi­bi­li­sierter Fach­per­sonen zu erstellen, die ihre Dienste uns oder den Betrof­fenen pro bono zur Verfü­gung stellen. Zum Beispiel Gynäkolog*innen, Jurist*innen oder Übersetzer*innen.

Wann seid ihr mit eurer Arbeit am Ziel?

Wir sind der Auffas­sung, dass unsere Arbeit nicht mit dem Errei­chen bestimmter Ziele getan ist. Selbst wenn es in ferner Zukunft eine schweiz­weite Hotline geben sollte, heisst das nicht, dass alle Leute dieses Angebot auch nutzen werden oder nichts anderes daneben existieren kann. Es wird wohl weiterhin Hürden und Hemm­nisse geben, sich an offi­zi­elle Stellen zu wenden. Ein breites Angebot zur Unter­stüt­zung von Menschen mit Gewalt­er­fah­rungen wird darum immer wichtig bleiben.


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