Häus­liche Gewalt im Lock­down: Hinter verschlos­senen Türen

Der Bundesrat entwarnte bereits im März: Entgegen der Befürch­tungen sei kein Anstieg der häus­li­chen Gewalt zu erkennen. Viele Sozialarbeiter:innen sehen das anders. 
Vorfälle häuslicher Gewalt nahmen laut Sozialarbeiter:innen während des Lockdowns zu - doch es wurden dazu bisher keine Daten erhoben (Illustration: Anna Egli)

Bis Ende der Sieb­zi­ger­jahre stand im Schweizer Zivil­ge­setz­buch: „Die Eltern sind befugt, die zur Erzie­hung des Kindes nötigen Züch­ti­gungs­mittel anzu­wenden.“ Im Jahr 1978 wurde die Stelle aus dem Gesetz gestri­chen. Seither sind Schläge in der Erzie­hung nicht mehr gesetz­lich erlaubt – aber auch nicht verboten. Obwohl die Kinder­rechte in der Schweiz vor 23 Jahren rati­fi­ziert wurden, gibt es in der Schweiz kein klares Gesetz in der Verfas­sung gegen elter­liche Züchtigung.

Beson­ders während der Coro­na­zeit könnte diese gesetz­liche Grau­zone schwere Folgen haben. Bereits im März 2020 äusserten Fach­per­sonen die Vermu­tung, dass die Fall­zahlen häus­li­cher Gewalt während der Corona-Pandemie steigen könnten. Am 4. Juni 2020 entwarnte der Bundesrat in einer Medi­en­mit­tei­lung: Die Zahl der gemel­deten Fälle sei in den meisten Kantonen stabil geblieben. Daraufhin schien das Thema gegessen. Eine neue Einschät­zung gab es vonseiten der Regie­rung bisher nicht.

Doch: Sozialarbeiter:innen wider­spre­chen dieser Darstel­lung der Regie­rung. Was war wirk­lich los hinter den verschlos­senen Türen von Fami­li­en­woh­nungen, während Schulen und Anlauf­stellen geschlossen waren?

Gewalt nahm zu

Zürich, Hottingen. Hier steht das Zürcher Schlupf­huus, ein unauf­fäl­liges Wohn­haus mitten am Zürich­berg. Doch hinter der unschein­baren Fassade verbergen sich tragi­sche Schick­sale. Das Schlupf­huus bietet eine Bera­tungs­stelle und ein Wohn­haus für rund elf Jugend­liche, die eine fami­liäre Krise erleben oder aufgrund von Gewalt­er­fah­rungen, Miss­hand­lungen oder weiteren Lebens­si­tua­tionen nicht mehr zurechtkommen.

Das Schlupf­huus hat nach dem Lock­down im Früh­jahr 2020 einen deut­li­chen Anstieg häus­li­cher Gewalt wahr­ge­nommen. Lucas Maissen, Insti­tu­ti­ons­leiter, berichtet: „In Fami­lien, wo Gewalt schon vorher als Erzie­hungs­mittel diente und die psycho­so­ziale Bela­stung bereits vorher hoch war, wurde es während des Lock­downs häufig noch schlimmer.“ Das Stress­ni­veau sei während Corona in vielen Fami­lien gestiegen und für die Jugend­li­chen seien viele Inseln, die Freude machen und als Rück­zugsort dienen, nicht mehr verfügbar gewesen.

„Während des Lock­downs sind viele Erwach­sene, die einen engen Bezug zu Kindern und Jugend­li­chen pflegten, wie etwa Trainer:innen, Lehrmeister:innen oder Sozi­al­ar­bei­tende, fast komplett wegge­fallen“, sagt Maissen. Diese Kontakt­per­sonen seien wichtig, da sie häufig Probleme anspre­chen und die Jugend­li­chen ermu­tigen, Hilfe zu holen.

Es braucht immer Mut, Hilfe aufzu­su­chen. In der Pandemie waren die Hürden noch höher. Zum Beispiel haben nicht alle Kinder und Jugend­li­chen freien Zugang zu einem Computer oder einem Telefon, um sich an eine Anlauf­stelle zu wenden. Der Brief mit dem tele­fo­ni­schen Angebot der Schul­so­zi­al­ar­beit war an die Eltern adres­siert und ging entspre­chend nicht direkt an die Kinder – vor allem kleine Kinder waren somit von ihren Eltern abhängig.

Die Konflikte, die während des Lock­downs anschwollen, kamen oft erst danach zum Vorschein, vermutet die Schul­so­zi­al­ar­bei­terin Laura Kurz* aus Zürich, die in diesem Text anonym bleiben möchte: „Es gab eine Welle von Anfragen zur Unter­stüt­zung kurz nachdem die Schulen öffneten.“ Durch die plötz­liche Nach­frage waren die Anlauf­stellen über­la­stet und die Warte­li­sten lang. Die wich­tigste Präven­tion ist laut Kurz deswegen, dass die Schulen offenbleiben.

Es wird noch schlimmer

Obwohl alle Sozialarbeiter:innen einen Anstieg der Gewalt während des Lock­downs beob­achten: Laut der bishe­rigen Forschung zum Thema ist räum­liche Enge kein Treiber für Gewalt. Woran liegt der Anstieg dann?

Dirk Baier ist Leiter des Insti­tuts für Delin­quenz und Krimi­nal­prä­ven­tion der Zürcher Hoch­schule für Ange­wandte Wissen­schaft. Er vermutet, dass der Alko­hol­konsum wegen der grossen Unsi­cher­heit und den zuneh­menden Existenz­sorgen ange­stiegen sei. Alkohol sei oft Auslöser von Gewalt in Fami­lien. Die Sorgen führen aber auch abge­sehen vom Alko­hol­konsum zu mehr Stress und Frustra­tion – und so zu mehr Gewalt, sagt Baier.

Ein weiterer wich­tiger Faktor sind patri­ar­chale Geschlech­ter­bilder. Hier könnte die Pandemie eine zentrale Wirkung haben. Die Krise und der Lock­down könnte zu einer Retra­di­tio­na­li­sie­rung der Geschlech­ter­rollen führen, etwa weil Schul­schlies­sungen dazu führten, dass vor allem Frauen die Kinder unter­rich­teten und betreuten, so Baier. „Dies erhöht dann die Abhän­gig­keit der Frauen, die sich seltener aus toxi­schen Bezie­hungen lösen können, weil sie sonst ihre Lebens­grund­lage verlieren.“

Die Lage wird sich noch weiter zuspitzen, vermutet Baier. Auch wenn die Pandemie über­wunden wird – Existenz­ängste, Arbeits­lo­sig­keit und Unsi­cher­heit bleiben. Diese Faktoren begün­stigen häus­liche Gewalt. Baier empfindet es eines modernen Staates wie der Schweiz unwürdig, dass das Recht auf gewalt­freie Erzie­hung noch immer nicht gesetz­lich garan­tiert ist. „Wir sind nun eines der letzten Länder in Europa, das Gewalt­formen in der Erzie­hung nicht verbietet.“

Ähnlich wie in vielen Nach­bar­län­dern heisst es beispiels­weise im Bürger­li­chen Gesetz­buch aus dem deut­schen Privat­recht: „Kinder haben ein Recht auf gewalt­freie Erzie­hung. Körper­liche Bestra­fungen, seeli­sche Verlet­zungen und andere entwür­di­gende Maßnahmen sind unzu­lässig.“ Baier fordert, dass staat­liche Akteure auch in der Schweiz den Auftrag und die notwen­dige Grund­lage erhalten, um Gewalt in der Erzie­hung zu unter­binden – anstatt auf Zivil­cou­rage zu hoffen. Es reiche nicht, die Verant­wor­tung auf Nach­barn, Freunde und Bekannte abzuwälzen.

Ein weiteres Problem: Es fehlen in der Schweiz belast­bare Daten, die Auskunft über Verän­de­rungen in der Häufig­keit häus­li­cher Gewalt geben könnten. Aus dem Ausland gibt es solche Daten. Sie weisen darauf hin, dass die Gewalt während der Pandemie tatsäch­lich ange­stiegen ist. „Es wurden kurz nach dem Lock­down Befra­gungen durch­ge­führt, die ergaben, dass Gewalt gegen­über Kindern zumin­dest in bestimmten Gruppen zunimmt, Gewalt zwischen Partner:innen hingegen nicht“, sagt Dirk Baier. Zudem sei die Dunkel­ziffer hoch, denn viele Opfer erstatten keine Anzeige. Daher brauche es zusätz­lich zu den Poli­zei­sta­ti­stiken regel­mässig wieder­holte Befra­gungs­stu­dien, die auch das Dunkel­feld sichtbar machen, so Baier.

Kampa­gnen für Eltern anstatt für Kinder

Neben Geset­zes­än­de­rung und Umfragen braucht es laut Baier weiterhin Sensi­bi­li­sie­rungs­kam­pa­gnen und Präven­ti­ons­pro­jekte an Schulen. Die Kampagne Keine Daheim­nisse etwa klärt an Schulen über Rechte der Kinder und Pflichten der Eltern in der Erzie­hung auf.

Auch der Bund blieb trotz der beschwich­ti­genden Medi­en­mit­tei­lung im Lock­down nicht ganz untätig: Die Taskforce des Bundes lancierte während des Lock­downs in zahl­rei­chen Geschäften wie Apotheken und Bäcke­reien eine Plakat­ak­tion mit Infor­ma­tionen zu Anlauf­stellen für Betrof­fene von häus­li­cher Gewalt. Die Plakate sind zusätz­lich online in drei­zehn Spra­chen verfügbar.

Unter­stützt wird die Kampagne durch die Konfe­renz der Kanto­nalen Sozi­al­di­rek­to­rinnen und Sozi­al­di­rek­toren (SODK) auf Social Media, wo auf das Angebot der Opfer­hilfe hinge­wiesen wird. Laut Lucas Maissen vom Schlupf­huus Zürich zielt die Kampagne aber zu wenig auf Kinder und Jugend­liche ab. Viel­mehr sei ein Kindes­schutz­sy­stem, das trotzdem aufrecht­erhalten und erreichbar bleibt, sowie ein Mitein­ander unter den Fach­stellen bedeutend.

Auch das digi­tale Bera­tungs­an­gebot war zu Beginn der Pandemie nicht gut aufge­stellt. Um dies zu verbes­sern, haben das Schlupf­huus, das Kokon Zürich, die OJA, das Mädchen­haus Zürich und die Fach­stelle für Gleich­stel­lung der Stadt Zürich zusammen inner­halb von wenigen Wochen eine neue digi­tale Platt­form unter dem Namen Stress Dihei geschaffen. Der Insta­gram-Kanal richtet sich an Jugend­liche in ange­spannten und gewalt­be­la­steten Fami­lien und infor­miert über nieder­schwel­lige Unterstützungsangebote.

Maissen fordert, dass das Thema häus­liche Gewalt unab­hängig von der Pandemie aufge­griffen wird: „Durch eine Sensi­bi­li­sie­rung und Ausein­an­der­set­zung mit dem Thema und klare Posi­tio­nie­rung der Gesell­schaft gegen­über Gewalt in der Erzie­hung, könnte viel Leid verhin­dert werden.“ Die Forschung zeige zudem, dass bei Kindern, die Gewalt in der Familie erlebt haben, das Risiko später Gewalt in der Part­ner­schaft zu erleben oder in der Familie auszu­üben, höher sei. Diesen Kreis­lauf gelte es zu unterbrechen.

*Name geän­dert

Ist dir etwas schlimmes passiert? Hast du selbst Gewalt erfahren? Melde dich bei der Opfer­hilfe Schweiz für Hilfe­stel­lung und Beratung.

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