Kolum­bien: Covid-19 und die ewige Quarantäne

Santa Marta. In Kolum­bien gilt seit dem 19. März der Ausnah­me­zu­stand. Die Situa­tion ist komplex, die Mass­nahmen werden verschärft — und trotzdem scheinen die Infek­ti­ons­zahlen nicht auf einen Peak zuzu­steuern. Ein persön­li­cher Erleb­nis­be­richt aus der Quaran­täne in einer anderen Realität. 

Mitte März dieses Jahres kam mein Airbnb-Host in mein Zimmer und fragte mich pein­lich berührt, ob ich nebst Nahrungs­mit­teln viel­leicht auch Tampons bräuchte. „Die Quaran­täne kann even­tuell länger gehen und für alle gelten“, meinte er damals. Jetzt, mehr als hundert Tage später, ist mir bewusst, welches Glück ich gehabt habe, dass ich gerade bei diesem Host und seiner Familie gelandet bin.

Ende März. Die Pandemie beginnt, sich unauf­haltsam über die ganze Welt zu erstrecken. Trotzdem verzichte ich auf einen Rück­flug in die Schweiz. Denn ich bin hierhin gekommen, um zu bleiben: um lang­fri­stig soziale und poli­ti­sche Bewe­gungen in Südame­rika jour­na­li­stisch zu begleiten.

Aber Corona hat auch mich ausser Gefecht gesetzt. Seit fast fünf Monaten beschränkt sich mein Leben auf ein drei­stöckiges Mehr­fa­mi­li­en­haus, zusammen mit 20 anderen Menschen. Der Haus­flur ist jetzt unsere Stadt, eine soziale Begeg­nungs­zone, die ein biss­chen Norma­lität versprüht und vieles erträg­li­cher macht.

Neben der Familie des Hosts und ein paar vene­zo­la­ni­schen Tourist*innen, die wegen der Grenz­schlies­sung fest­sitzen, wohnen hier noch ein unga­ri­scher Verschwö­rungs­theo­re­tiker sowie die Ange­stellten der Familie. Sie wurden kurzer­hand einquar­tiert. Denn: Lock­down in Kolum­bien bedeutet, einge­sperrt zu sein. Und wer ausbricht, wird mit umge­rechnet 250 Schweizer Franken gebüsst. Das entspricht einem durch­schnitt­li­chen Monatslohn.

Einen Tag in der Woche für Einkäufe

Hier in Santa Marta, einer Ortschaft an der Kari­bik­küste Kolum­biens, gilt das Pico y Cédula: Anhand der Endziffer des Perso­nal­aus­weises wird den Bürger*innen ein Wochentag für Einkäufe zuge­teilt, an denen sie das Haus verlassen dürfen. Die Nummern werden an den Eingängen der Einkaufs­zen­tren kontrol­liert. Mein Tag ist der Montag. Aber im letzten Monat war an drei Montagen jeweils ein Feiertag. Als ich deshalb versuchte, am Dienstag darauf das Nötigste einzu­kaufen, wurde ich überall abge­wiesen. Mein Recht auf den Einkauf war verfallen. Die lokalen Märkte in den ärmeren Viertel nehmen das nicht so genau, dort findet man aller­dings nur eine beschränkte Anzahl Produkte.

Grund­sätz­lich gelten in Kolum­bien natio­nale Bestim­mungen zur Quaran­täne, doch die Regent*innen der verschie­denen Depar­te­mente und Gemeinden haben einen gewissen Hand­lungs­spiel­raum, wenn es um die Durch­set­zung der Mass­nahmen geht. So liefern sich Präsi­dent Iván Duque und Claudia López, die Bürger­mei­sterin Bogotas, seit Anfang der Quaran­täne einen Schlag­ab­tausch auf Twitter. Die eine Verwal­tungs­ebene führt Mass­nahmen ein, die andere hebt sie wieder auf, und so weiter. Seit Juli gilt in Kolum­biens Haupt­stadt alerta roja – Alarm­stufe rot. Die Notfall­sta­tionen sind zu mehr als 89 % ausgelastet.

Epizen­trum Karibik

Seit etwas mehr als einem Monat steigen die Zahlen rapide an. Kolum­bien ist jetzt bei 400’000 Infi­zierten und konstant rund 10’000 Neuin­fek­tionen pro Tag. Und das bei täglich etwa 30’000 Tests – man kann nur vermuten, wie hoch die Zahlen in Wirk­lich­keit sind. Laut WHO entfällt fast die Hälfte aller gemel­deten Infek­tionen und der rund 13’000 Corona-Toten Kolum­biens auf Santa Marta, Carta­gena und Baran­quilla, also auf Kolum­biens Kari­bik­küste. Seit letzter Woche sind in Santa Marta die Spitäler voll. Ein schwerer Krank­heits­ver­lauf ist für viele das Todesurteil.

Von Montag bis Freitag komme ich gut mit meiner Situa­tion als Corona-Gefan­gene klar – Haus­flur sei Dank. Natür­lich habe ich meine schwa­chen Momente, in denen ich Leute auf Insta­gram stalke oder Geld für ein Handy-Game ausgebe. Ich kenne das latein­ame­ri­ka­ni­sche Netflix-Programm auswendig (Ja, Dark auf Spanisch!). Am Wochen­ende, wenn plötz­lich alles still­steht und ich nicht in meinem Remote-Job arbeite, tele­fo­niere ich mit meinen Schweizer Freun­dinnen und laufe sechs bis acht Kilo­meter – von Wand zu Wand. Aber das ist alles halb so wild. Ich habe genug zu essen, ein regel­mäs­siges Einkommen und bin gesund.

Komplette Ausgangs­sperre für über 70-jährige

Schwie­riger ist die Lage für die 72-jährige Señora, die im Haus lebt. Einmal pro Monat holt sie ihre Rente persön­lich am Schalter der Banco Agrario ab. In Kolum­bien sei das ein kultu­reller Brauch, erklärt man mir im Haus. Ältere Menschen würden diese Art der Auszah­lung bevor­zugen, weil sie unter anderem Miss­bräuche von Bank­karten befürchten. Doch oft finden sie sich dann in einer langen Schlange von mehreren Metern unter der kari­bi­schen Sonne wieder und verharren zwei Stunden vor dem Eingang.

Die Señora hat Glück. Sie kennt die Bank­an­ge­stellten und darf im Auto warten, bis sie zu ihr ans Fenster kommen. Seit Beginn der Pandemie ist es über 70-jährigen nur erlaubt, an diesem einen Tag im Monat das Haus zu verlassen. Anson­sten sind sie komplett zuhause isoliert. „Ich habe grosse Angst vor einer Ansteckung“, sagt sie mir eines Tages, während ihres abend­li­chen Spazier­gangs im Flur, als ich sie darauf anspreche.

Angst vor Überfällen

Vorder­gründig hat die Corona-Schock­starre für Kolum­bien auch seine posi­tiven Seiten. Ausser in Bogota, wo die Krimi­na­lität seit Anfang dieses Jahres steigt, sind die Zahlen rück­läufig. Das ist aber nur Stati­stik, die Unsi­cher­heit im Land nimmt spürbar zu. Im Quar­tier herrscht eine grosse Angst davor, über­fallen zu werden. In Bogota wurde Ende Juni, mit dem Vorwand einer Paket­lie­fe­rung, ein ganzer Wohnungs­kom­plex ausge­raubt. Klei­nere Delikte werden meistens gar nicht erst ange­zeigt, weil das Raubgut sowieso weg ist. Die Krimi­na­li­täts­sta­ti­stik ist deshalb kaum reprä­sen­tativ. Treiber der Krimi­na­lität ist die Armut. Ganz beson­ders jetzt: Die meisten Bewohner*innen Kolum­biens sind nur schlecht oder gar nicht versi­chert. Viele stehen vor dem Nichts.

José, ein Vene­zo­laner, der im selben Haus wohnt, kennt die Leute im Quar­tier und erklärt mir unbe­ein­druckt: „Alles, was nicht ange­macht ist, wird gestohlen, mit oder ohne Quaran­täne.“ Ein Beispiel: Drei Kilo­gramm Kabel werden auf dem Schwarz­markt für umge­rechnet etwa 16 Schweizer Franken gehan­delt. Davon kann eine vier­köp­fige Familie hier an der Küste etwa zwei Wochen lang leben. „Gestern ist sogar der Eisen­deckel des Senk­lochs um die Ecke geklaut worden, auch den kann man verkaufen“, erzählt mir José. Er patrouil­liert jede Nacht mit einem Gewehr, um unser Haus zu bewa­chen. Schon mehr­mals musste er es auf poten­zi­elle Räuber richten, um sie zu verjagen. Wenn er mir das jeweils lachend erzählt, packt mich kurz Panik – alles scheint mir hier irgendwie unwirklich.

Coro­na­virus zerstört Existenzen

Dass die Familie vergleichs­weise privi­le­giert ist, bedeutet nicht, dass der Lock­down nicht auch ihn in eine bedroh­liche ökono­mi­sche Schief­lage bringt. Ohne Touri­sten fällt sein Einkommen weg, während die Ausgaben gleich­bleiben. So wie meinem Host geht es vielen in der Mittel­schicht. Alle Bars und klei­neren Läden in Santa Martas Altstadt gingen in den ersten Wochen des Lock­downs Konkurs. Die Inhaber konnten Miete, Strom und Wasser nicht bezahlen. Die Wirt­schafts­kom­mis­sion für Latein­ame­rika und die Karibik der UNO schätzt, dass aufgrund der Pandemie rund 16 Millionen Menschen in die extreme Armut abrut­schen und insge­samt rund 83.4 Millionen von Hunger bedroht sind. Täglich errei­chen uns Geschichten von Freunden der Familie, die ihre Läden schliessen mussten.

Arri­enda – zu vermieten: Viele Take-Aways gehen in Santa Marta wegen des Lock­downs Konkurs. Foto: zVg.

Präsi­dent Iván Duque kennt keine Gnade, wenn es um die Verlän­ge­rung des Lock­downs geht, obwohl dieser teils gravie­rende Auswir­kungen auf die Bevöl­ke­rung hat. Rund 50 % der Bewohner*innen der Gross­städte Kolum­biens arbeiten im infor­mellen Sektor, sie verkaufen beispiels­weise Kaffee oder Avocados auf der Strasse – und leben von der Hand in den Mund.

Wenn sie während des Lock­downs versu­chen, etwas zu verkaufen, werden sie gebüsst. In Santa Marta schaut die Polizei aller­dings oft weg. Die Hilfe, die von der Regie­rung Duques im März verspro­chen wurde, ist nur teil­weise oder nie bei den Bedürf­tigen ange­kommen. Viele der Betrof­fenen sind erst gar nicht bei den Subven­ti­ons­sy­stemen regi­striert. Seit Monaten schlägt das UN-Flücht­lings­hilfs­werk Alarm, Aufnah­me­länder wie Kolum­bien während der Pandemie nicht im Stich zu lassen. Seit Ausbruch der Krise in Vene­zuela sind rund 1.8 Millionen Venezolaner*innen nach Kolum­bien migriert.

Wie immer trifft es die Ärmsten

Tausende von ihnen warten an Busbahn­höfen kolum­bia­ni­scher Städte auf die Rück­kehr in ihr Heimat­land: Mehr als 60’000 sind bereits zurück­ge­kehrt. Dort geht es ihnen zwar auch nicht viel besser, aber sie haben wenig­stens ein soziales Netz­werk. In Santa Marta wurden die Menschen aus Vene­zuela während der Quaran­täne in frei stehenden Häusern der Stadt unter­ge­bracht. Diese verfügen weder über sani­täre Anlagen noch Strom. Zum Teil wohnen bis zu 15 Personen auf engstem Raum – seit fast fünf Monaten.

Private lokale Orga­ni­sa­tionen und Verbände haben zu Nahrungs­spenden aufge­rufen. Diese werden an die Bedürf­tigen verteilt. Auch meine „Gast­fa­milie“ enga­giert sich sozial, und auch aus dem Ausland errei­chen private Spenden das Land. Aber weil der Lock­down schon so lange dauert, ist das nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Situa­tion wird von Tag zu Tag prekärer.

In Kolum­bien signa­li­siert ein rotes Tuch, das aus dem Fenster gehängt wird, dass ein Haus­halt Hunger leidet. In den ärmeren Gegenden ist fast jedes Haus rot behängt. Die Situa­tion, die sich mir offen­bart, wenn wir auf Spen­den­tour gehen, ist beklemmend.

Immerhin: Die sozialen Netz­werke in Kolum­bien funk­tio­nieren gut. „Die Leute orga­ni­sieren sich, hier wird niemand verhun­gern“, sagt mir mein Host. Doch die Leute leiden unter der stän­digen Verlän­ge­rung der Quaran­täne, und Fälle von häus­li­cher Gewalt gegen Frauen und Kinder haben drastisch zugenommen.

Präsi­dent Duque meinte in einem Inter­view zur schritt­weisen Reak­ti­vie­rung der Wirt­schaft, „dass wir jetzt mit dem Virus leben lernen müssen“, da hier die erste Welle ewig zu sein scheint, die Infek­ti­ons­zahlen nicht sinken, aber der Lock­down nicht ewig weiter­gehen kann. Aber wie soll in einem Staat mit OECD-Durch­schnitt von 1,7 Kran­ken­haus­betten pro 1’000 Einwohner*innen das Leben weiter­gehen? Und auch wenn sie tatsäch­lich einen Platz erhielten, könnten sich die meisten Bewohner*innen Kolum­biens einen Spital­auf­ent­halt nicht leisten. Die drei von Papst Fran­ziskus gespen­deten Beatmungs­ge­räte werden kaum ausrei­chen, um im Ernst­fall 50 Millionen Menschen zu versorgen.

„Steck Dich bloss nicht an“

Die Situa­tion scheint ausweglos. Und das gilt mehr oder weniger für ganz Latein­ame­rika sowie für alle anderen Länder, die nicht über einen euro­päi­schen OECD-Gesund­heits­standart verfügen. Es gilt hier bis auf Weiteres bloss eines: „Steck Dich bloss nicht an!“ Das gilt auch für mich; ich habe Asthma. Wenn ich einkaufe, wasche ich alles mit Seife und ziehe danach meine Klei­dung im Gang aus.

Langsam und schmerz­haft wird uns bewusst, dass die Pandemie auf der Südhalb­kugel viel­leicht nie wirk­lich ein Ende finden wird. Täglich erin­nere ich mich daran, wie das Lachen und die Musikant*innen im März vom einen auf den anderen Tag von den Strassen Santa Martas verschwanden – und nur das Bellen der Stras­sen­hunde übrig blieb.

Wenn mich mein Host komisch ansieht und wieder einmal fragt, wieso ich über­haupt noch hier bin, weiss ich manchmal nicht, was ich ihm antworten soll. Ich verfüge in dieser Situa­tion über andere Möglich­keiten als er, weil mein Pass eine andere Farbe hat als seiner. Ein ungutes Gefühl, das mich hier jeden Tag begleitet.

Aber bereut habe ich es kein einziges Mal, mich für diese Realität entschieden zu haben. Auch wenn ich seit vier Monaten einge­sperrt bin. Ich habe viel gelernt, was ich, wie so viele Leute, verlernt hatte. Zum Beispiel: eine Situa­tion einfach auszu­halten. Denn weiter geht es immer. Die Frage ist nur wie.

 


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