„Es ist schrecklich, eine Katastrophe. Die halbe Stadt ist zerstört, überall liegen Verletzte oder Tote“, schreibt mir Jana Nakhal, Aktivistin der Kommunistischen Partei (KP), am Abend des 4. August über WhatsApp. Ihr selbst sei nichts passiert, doch viele ihrer Freund*innen hätten Verletzungen davongetragen.
Die im Januar 2020 gebildete „Technokrat*innen-Regierung“ unter Premierminister Hassan Diab gab im Verlauf vom Mittwoch bekannt, dass die Entzündung von 2’750 Tonnen Ammoniumnitrat die Explosion verursacht habe. Ammoniumnitrat ist ein hochexplosiver Stoff, der für die Herstellung von Dünger, aber auch für Sprengstoff verwendet wird, und seit 2014 in einer Lagerhalle im Hafen von Beirut lagerte. Laut libanesischen Medienberichten wurde das Ammoniumnitrat im September 2013 von einem russischen Schiff unter moldauischer Flagge konfisziert. Trotz wiederkehrender Warnungen, unter anderem vom Zollamt des Hafens, wurde es weder weggeschafft, noch unter ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen überwacht. Hassan Nasrallah, Anführer der schiitischen Hisbollah, der mächtigsten Partei im Libanon, die über quasi-staatliche Strukturen und eine von Iran stark ausgerüstete Miliz verfügt, wies jede Verantwortung von sich. Dies auch, nachdem Vorwürfe über eine Verbindung zur Lagerung des Ammoniumnitrats gegen ihn laut wurden. Die Hisbollah wisse mehr über den Hafen in Haifa als über denjenigen in Beirut.
Über 150 Menschen wurden durch die Explosion getötet, mehrere Tausend verletzt, etliche gelten als vermisst. Das Libanesische Rote Kreuz und Rettungskräfte aus dem Ausland versuchen noch immer, Menschen aus den Trümmern zu bergen. Die Regierung rief einen zweiwöchigen Ausnahmezustand für Beirut aus und übertrug der Armee die Kontrolle über die Stadt. Man werde die Verantwortlichen ausfindig machen und sie zur Rechenschaft ziehen, versprach Premierminister Hassan Diab und liess 16 Mitarbeiter*innen des komplett zerstörten Hafens verhaften. Da auch der wichtigste Kornspeicher des Landes vernichtet wurde und der Libanon bis zu 80 Prozent seiner Nahrungsmittel importiert (und auch Hilfsgüter in Richtung Syrien weiterleitet), droht nach der eigentlichen Katastrophe eine humanitäre Krise.
Zerstörte Stadt, gescheiterter Staat
„Häuser, die in sich zusammenfallen, begraben die jungen Menschen, die den Schutt wegräumen“, erzählt Jana Nakhal. Viele Freiwillige und Aktivist*innen aus den im Oktober 2019 entstandenen Protestgruppen beteiligen sich an Hilfsaktionen in der Stadt. Trümmer wurden weggeräumt, Wohnungen – zumindest einigermassen – bewohnbar gemacht und Verletzte und traumatisierte Menschen versorgt. All dies geschehe unter immensen Anstrengungen und in einer Art Schockzustand: „Alle, die das hier durchgemacht haben, spüren einen grossen Schrecken in sich.“
Bis zu 300’000 Menschen haben durch die Explosion ihr Zuhause verloren, teilte der Gouverneur der Stadt, Marwan Abboud, mit. Bei der Bewältigung der Folgen bleiben die Behörden gänzlich abwesend, sagt Jana Nakhal. Dafür würden die einfachen Menschen die Rolle des Staates einnehmen. Sie stellen Zelte auf, säubern die Strassen, öffnen die Häuser, vermessen die Strassen und Häuser neu. „Währenddessen tun die Spinner in den Behörden nichts als irgendwelche Unternehmen zu bezahlen, die die Untersuchung und Vermessung der Gebäude durchführen sollen – dieselben Unternehmen, die jahrelang Geld gestohlen und das System missbraucht haben.“
Das politische System des Konfessionalismus sollte die Repräsentation der 18 Religionsgemeinschaften regeln, führte aber zu Korruption und Klientelismus. Dieses System ist verantwortlich für die Entwicklungen der letzten Monate. Schon vor der Explosion war die Katastrophe für einen Grossteil der Menschen im Libanon Realität. Seit Mitte 2019 ist das Land in seine tiefste Krise seit Ende des Bürgerkrieges (1975–1990) gestürzt. Die Lebensmittelpreise sind seit März 2020 um das Dreifache gestiegen, gleichzeitig verlor das Libanesische Pfund rund 80 Prozent seines Werts. Die Menschen leiden Hunger, haben kein Geld, keinen Strom und keine Aussicht auf ein besseres Leben. Ein Drittel der Libanes*innen ist arbeitslos, die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Zudem leben 20 Prozent der 1.5 Millionen syrischen Geflüchteten im Land in informellen Zeltunterkünften, ohne legalen Aufenthaltsstatus und mittellos.
Finanzielle Unterstützung für das Land schien bis vor der Explosion nicht in Sicht: Weder die seit zwei Monaten laufenden Verhandlungen um das beim Internationalen Währungsfonds (IWF) gestellte Gesuch um Finanzhilfen noch die Bitten der Regierung bei der ehemaligen Mandatsmacht Frankreich stiessen auf offene Ohren. Dies, weil europäische Staaten die Finanzhilfen an Reformprojekte der Regierung knüpfen und diese auffordern, die Korruption zu bekämpfen und den Einfluss der Hisbollah zu schmälern, was nicht geschehen ist.
Nun, nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut, werden Hilfsleistungen durch die internationale Gemeinschaft plötzlich Realität. In neokolonialer Manier besuchte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zwei Tage nach der Explosion Beirut und versprach den aufgebrachten Libanes*innen Hilfsgelder und dass diese nicht in korrupte Hände fliessen würden. Zudem initiierte Macron eine internationale Konferenz zur Sprechung von Nothilfen. Diese beschloss, dass 250 Millionen über die UNO und lokale Projekte die libanesische Bevölkerung erreichen sollten.
„Macron umarmte die Menschen in der Strasse, als wäre er ihr Vater“, sagt Jana Nakhal dazu. „Westliche Regierungen geben sich jetzt schockiert und überrascht, obwohl sie dieses System jahrelang mit Geld und politischer Rückendeckung unterstützt haben.“
Es ist zu hoffen, dass die angekündigten Zahlungen die Lage der Menschen ohne Umweg über Regierungsstellen verbessern werden. Nur schon, ob das geschehen wird, ist offen. Darüber hinaus bräuchte es weitaus höhere Summen, um den Schaden einer der grössten nicht-nuklearen Explosionen der Geschichte zu mildern.
Klar ist: Die internationale Gemeinschaft steht in der Verantwortung mit Geld und Hilfsgütern zu helfen. Doch die tieferliegenden Probleme des Landes werden mit Hilfe zum Wiederaufbau nicht gelöst. Es reicht nicht, wenn Macron betont, dass er von der libanesischen Regierung Reformen erwartet. Hinzu kommt, dass er als Präsident der ehemaligen Besatzungsmacht die Souveränität des Libanons zu respektieren hat. Besonders weil seine einzigen Verhandlungspartner der Präsident des Libanons, Michel Aoun, und die amtliche Regierung sind – eine Regierung, die nach internen Rücktritten aufgrund der Proteste vom 10. August zurückgetreten ist und deren Justizministerin beim Versuch, mit dem Besen in der Hand auf der Strasse zu helfen, angegriffen und davongejagt wurde.
Der Protestbewegung bleibe nichts anderes übrig, als auf eigene Faust Hilfe zu organisieren, sagt Jana Nakhal: „Wir haben im ganzen Land und in der ganzen Welt dazu aufgerufen, zu spenden für medizinische Hilfe. Ausserdem gibt es mit dem Roten Kreuz und dem Secours Populaire zwei vertrauenswürdige Organisationen, die unentgeltlich helfen.“
Der Protest erwacht von neuem
In den Tagen nach der Katastrophe hat sich die durch den Wirtschaftszerfall und Corona zurückgedrängte Protestbewegung reaktiviert. Nach der Explosion sind Libanes*innen aus allen Landesteilen nach Beirut gereist, um bei der Essensverteilung und dem Aufräumen zu helfen. „Die Regierung dagegen hat sich überhaupt nicht um die Opfer gekümmert, gleichzeitig aber den Ausnahmezustand ausgerufen, sodass das Militär die Bewegungsfreiheit einschränken kann“, sagt die feministische Aktivistin Ilham Barjas. „Dieser neuerliche Machtmissbrauch hat uns dazu gezwungen, schnell zu handeln und am Samstag zu einer Demonstration aufzurufen.“
Im Herbst 2019 hat ein Konglomerat aus dreissig Gruppierungen von linksliberalen Demokrat*innen über feministische Sozialist*innen bis hin zu libertären Anarchist*innen den Sturz des Premierministers Saad Hariri herbeigeführt. Seither kam es unter der Parole „Thawra“ (‚Revolution‘) im ganzen Land zu Protesten für einen Systemwechsel. In der jetzigen Notlage kann die Protestbewegung deshalb auf geschaffene Strukturen zurückgreifen.
Noch vor einigen Wochen habe ein Grossteil der Aktivist*innen keine Hoffnung mehr verspürt und weder an die Sinnhaftigkeit noch an die Weiterführung der Proteste geglaubt, sagt Jana Nakhal. Die Explosion im Hafen habe aber das Verlangen neu geweckt, diejenigen mit aller Härte anzuklagen, die dafür verantwortlich seien: „Wir müssen den Menschen klarmachen, dass diese Explosion einen politischen Ursprung hat“, sagt Jana Nakhal. Die Katastrophe sei nicht durch einen Tsunami, Pech oder einfache Fahrlässigkeit ausgelöst worden. „Sie ist die Folge des Machtmissbrauchs der führenden Schicht. Das Ammoniumnitrat wurde im Wissen des Staates über die Explosionsgefahr im Hafen gelagert. Sie haben es gewusst und es dabei belassen. Das Lager mit dem explosiven Material wurde vor sechs Jahren angelegt, um es später zu verkaufen. Das ganze Risiko wurde eingegangen, um damit Geld machen zu können!“
Diese Zusammenhänge werden nun einer breiteren Bevölkerungsschicht wieder schlagartig bewusst. An der Demonstration vom Samstag, dem 8. August, die unter dem Titel „Tag der Wut“ angekündigt wurde, kamen Tausende Menschen unterschiedlicher politischer Richtungen zusammen. Bei heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Internen Sicherheitskräften (ISF), der Armee und den Demonstrierenden wurden mehrere Hundert Menschen verletzt und ein Polizist getötet. Mehrere Ministerien wurden gestürmt, das Aussenministerium durch ehemalige Armeeangehörige besetzt. Der Sitz des libanesischen Bankenverbands wurde in Brand gesetzt. Premierminister Diab kündigte am Abend vorgezogene Neuwahlen an. In den sozialen Medien verbreitete Videos zeigen heftige Auseinandersetzungen und den Einsatz scharfer Munition durch Sicherheitskräfte in zivil. „Das Militär und die Polizei setzten extrem gefährliche Mittel ein – Mittel, die töten können“, sagt Ilham Barjas. „Das System militarisiert sich. Alle, die sich an den Protesten beteiligen, sind in grosser Gefahr.“
Obwohl die „Technokrat*innen-Regierung“ unter Hassan Diab das Handtuch geworfen hat, bleibt offen, ob die Bewegung den Schub der Wut über die Explosion nachhaltig nutzen kann. Gerade werden die Demonstrierenden vor allem von der Verzweiflung getragen. Diese ist auch zu hören, wenn Jana Nakhal sagt: „Das Momentum kehrt zurück, wenn die Menschen zurück auf die Strasse gehen mit der Haltung, dass sie sowieso sterben werden und dass keine Hoffnung mehr besteht. Wir wollen schreiend in den Tod gehen und das Fundament ihrer Türme mitreissen, statt still in unserem Zuhause zu sterben.“
Wie kann der Wandel funktionieren?
„Wir fühlen uns, als wären wir nur noch zufälligerweise am Leben“, sagt Ilham Barjas. In dieser Situation sei es schwierig, die Hoffnung zu bewahren: „Aber wir kennen unser Ziel, das System, das wir wollen. Dafür arbeiten wir Tag und Nacht.“ Gleichzeitig wüssten die Demonstrierenden, wie klein ihr Handlungsspielraum sei. Ministerien können besetzt, Bankensitze in Brand gesteckt werden. Doch am grundlegenden Problem, der Verstrickung der Interessen, in der sich die Mächtigen im Libanon befinden, wird das nichts ändern. Hinzu kommt, dass das politische Schicksal des Landes nicht primär in Beirut, sondern vor allem in Teheran entschieden wird. Ausschlaggebend ist der iranische Einfluss über die Hisbollah. Die schiitische Partei und Miliz bleibt der grosse Lähmungsfaktor im Libanon. Je weiter die Aktivist*innen gehen, desto stärker wird die Repression. „Es ist klar, dass wir alle gezwungen sein werden, das Land zu verlassen, selbst wenn wir einige unserer Ziele erreichen werden“, meint Ilham Barjas.
Auch die von Frankreich angeführte internationale Gemeinschaft wird an den bestehenden Verhältnissen weiterhin nichts Grundlegendes ändern können. Zu hoch wäre der Preis einer militärischen Zuspitzung mit dem Iran, würde sich der Einfluss des Westens auf die politische Entwicklung im Libanon vergrössern.
Sowieso sollte Macron nicht dazu ermutigt werden, sich in die inneren Angelegenheiten des Libanons einzumischen. Stattdessen müssen Frankreich und die Europäische Union Geflüchtete aufnehmen, Hilfslieferungen anbieten und über die UNO längerfristig beim Wiederaufbau helfen – in Beirut und im Rest des Lands.
Unabhängig davon, was die internationale Gemeinschaft tun wird, scheint klar: Die Proteste werden sich radikalisieren. Doch wie lange werden sie weitergehen? Niemand kann vorhersehen, wohin die Mischung aus Wut, Hoffnungslosigkeit und Radikalisierung führt. Ein Krieg und der Zusammenbruch der zivilen Ordnung scheinen derzeit nicht mehr abwegig. Weil jedem bewaffneten Aufstand die Niederschlagung durch die Hisbollah droht, wird die ausweglose Lage wohl viele Libanes*innen dazu veranlassen, ihr Land zu verlassen.
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