Mädchen­haus Zürich: „Jede Auto­bahn ist besser finanziert“

Gewalt gegen­über Frauen und Mädchen ist meist privat und unsichtbar. In Zürich gibt es einen Ort, der ebenso unsichtbar ist wie diese Gewalt. Im Mädchen­haus Zürich können sich 14- bis 20-Jährige einfinden, die aus ihrer Situa­tion keinen Ausweg mehr sehen – und Abstand brau­chen: Ruhe, Schutz und Anony­mität. Doch das Mädchen­haus steht finan­ziell auf wacke­ligen Beinen, erzählt die Leiterin Doro­thea Hollender im Gespräch. 

Das Mädchen­haus Zürich feiert dieses Jahr sein 25-jähriges Bestehen. Es ist ein Geburtstag, der in der Öffent­lich­keit ohne Geburts­tags­kind gefeiert werden muss. Denn niemand ausser einer Hand­voll Ange­stellter, ehema­liger und aktu­eller Bewoh­ne­rinnen und Verant­wort­li­chen weiss, wo das Mädchen­haus liegt oder wie es aussieht. Das Mädchen­haus ist in keinem Tele­fon­buch zu finden und an keiner Klingel ange­schrieben. Dies scheint über­trieben, doch ist es für den Schutz der Mädchen und jungen Frauen zwischen 14 und 20, die sich hier einfinden, notwendig.

Mit dem Modell der abso­luten Anony­mität steht das Zürcher Mädchen­haus schweiz­weit alleine da, denn das soge­nannte Modell der Subjekt­fi­nan­zie­rung durch Bund und Kantone erschwert die Etablie­rung solcher Einrich­tungen, in deren Natur es liegt, kein konstantes Ausla­stungs­level zu haben. Doch dazu später mehr.

„Für die Eltern ist es ein Riesenschock“

Der Prozess ist immer derselbe: Betrof­fene Mädchen oder vermit­telnde Personen wie Schul­so­zi­al­ar­bei­te­rInnen melden sich tele­fo­nisch bei der Ansprech­nummer. Am Telefon wird ein Treff­punkt verein­bart, wo die Mädchen wegen der Ortungs­dienste das Handy ausschalten müssen, bevor sie ins Mädchen­haus begleitet werden – in Sicherheit.

Es sind Mädchen, die in der Regel über Jahre hinweg Gewalt erlebt haben, sagt Doro­thea Hollender, die das Mädchen­haus leitet. „Alles an Gewalt, was man sich denken kann. Psychisch, physisch, sexuell. Kontrolle, Abwer­tung, Schläge, Drohungen. Bei manchen ist es mehr Einsperren, bei anderen sind es mehr Handy­kon­trollen. Die meisten melden sich, wenn das Fass voll ist, nochmal etwas passiert ist, das den letzten Ausschlag gibt.“ Oftmals seien vor dem Einzug ins Mädchen­haus schon diverse Bera­tungs­stellen kontak­tiert worden – aber ohne den erhofften Effekt.

Sieben dauer­hafte Schlaf­plätze stehen zur Verfü­gung; für maximal drei Monate bietet das Mädchen­haus Schutz. Die Zeit ist knapp bemessen. Es muss also schnell gehen. Sofort nach dem Eintritt wird die Kindes- und Erwach­se­nen­schutz­be­hörde (KESB) infor­miert und eine Gefähr­dungs­mel­dung ausge­löst. „Schliess­lich könnten auch andere Personen im selben Haus­halt von Gewalt betroffen sein“, erklärt Hollender. Das komme oft vor. Auch die Eltern werden kontak­tiert und darüber aufge­klärt, dass ihre Tochter an einem sicheren, aber anonymen Ort ist.

„Das ist für die Eltern immer ein riesiger Schock. Denn obwohl viele immer wieder gedroht haben, rech­neten sie doch nicht damit, dass die Tochter wirk­lich geht – und nicht so schnell wieder zurück­kommt“, sagt Hollender. Mit dem betrof­fenen Mädchen werden derweil inten­sive Gespräche geführt. In Fällen massiver Gewalt arbeitet das Mädchen­haus mit der Opfer­be­ra­tungs­stelle zusammen und vernetzt das Mädchen mit Thera­pie­an­ge­boten und Bera­tung. Auch ein Anwalt oder eine Anwältin wird, falls notwendig, gestellt. Eine gleich anfangs zuge­wie­sene Betreu­ungs­person begleitet die Betrof­fene auf ihrem Weg: Sie unter­stützt sie, klärt die Gefähr­dungs­lage ab, infor­miert Ausbild­ne­rInnen – und begleitet die Betrof­fene oftmals zur Schule. „Inter­es­san­ter­weise gibt es hier wenig Zwischen­fälle. Offenbar schützt Öffent­lich­keit.“ Wenn die Mädchen nicht zur Schule gehen können, etwa weil der Weg zu gefähr­lich ist, können sie sich in der Tages­struktur des Mädchen­hauses in einer sepa­raten Wohnung einbringen. Hier können sie an diversen Frei­zeit­an­ge­boten teil­nehmen, ohne sich in Gefahr zu bringen.

Gewalt gegen Mädchen und Frauen kennt viele Gesichter

Die Gefähr­dungs­lage sei oft schwer abzu­schätzen, weil etwa der Ehemann, der Bruder oder der Vater ein soziales Netz akti­viert, das intensiv nach dem betrof­fenen Mädchen sucht. Hollender betont aber: Die Gewalt, der die Mädchen ausge­setzt sind, die ins Mädchen­haus kommen, gehe nicht nur von den Vätern oder Brüdern aus: „Gerade bei Mädchen beob­achten wir, dass die Gewalt eben­falls oft von den Müttern ausgeht.“ Dennoch spricht Hollender von patri­ar­chaler Gewalt: „Was wir sehen, ist, dass es oft in Fami­lien mit rigider Rollen­tei­lung und starker Vater­figur zu Gewalt an Mädchen kommt. Die Mütter über­nehmen hierbei eine Art erzie­he­ri­sche Exeku­tiv­funk­tion gegen­über den Kindern. Sie schlagen und bedrohen sie, werden selbst aber ebenso Opfer von häus­li­cher Gewalt.“ Oft seien Armut und Über­for­de­rung Faktoren, die Gewalt gegen­über den Kindern begün­stigen. Auch Migra­ti­ons­hin­ter­grund oder eine Migra­ti­ons­ge­schichte, etwa Trau­mata bei den Eltern selbst, seien Faktoren. Hollender betont jedoch, dass es auch in vielen gutschwei­ze­ri­schen Mittel­schichts­fa­mi­lien zu Gewalt kommt. Vernach­läs­si­gung und über­mäs­sige Kontrolle etwa seien klas­sen­über­grei­fende Phänomene.

Auf der Opfer­seite könne man aber klar fest­stellen, dass Mädchen und junge Frauen öfter und massiver von häus­li­cher Gewalt betroffen sind als etwa ihre Brüder. Vor allem bei sexua­li­sierter Gewalt sei das der Fall. „Das sind Gründe, warum es mädchen­spe­zi­fi­sche Heime braucht“, sagt Hollender. Hier seien Mädchen meist viel bereiter, sich zu öffnen als in den gemischt­ge­schlecht­li­chen Insti­tu­tionen. Gerade im Teen­ager­alter sei so ein safe space wichtig.

Nach drei Monaten im Mädchen­haus gehen rund 40% der Mädchen wieder nach Hause. „Mit dem Eintritt wird die Arbeit der KESB ange­stossen, und wir gehen davon aus, dass sich inzwi­schen auch zu Hause etwas verän­dert hat. Ausserdem gibt es jetzt eine Aufsicht und der Fall liegt offen. Fast immer gibt es einen Beistand“, erklärt Hollender. Doch ein Beistand betreut oftmals bis zu 100 Fälle, und auch dass die Eltern einsichtig werden, ist keine Selbst­ver­ständ­lich­keit. So kommt es immer wieder vor, dass sich die Situa­tion nach dem Aufent­halt im Mädchen­haus verschlim­mert. Einige Mädchen kommen wieder.

Für die übrigen 60%, die nach den drei Monaten nicht zurück nach Hause möchten, wird eine Anschluss­lö­sung gesucht, etwa ein Angebot für betreutes Wohnen. „Proble­ma­tisch ist, dass es wenig solche Wohnungen nur für Mädchen gibt. Viele wünschen sich nach einem Aufent­halt bei uns aber sehr, weiterhin unter Frauen zu bleiben.“ Und es gibt ein weiteres Problem: „Eigent­lich alle anderen Heime kann man im Tele­fon­buch finden. Wer dann seine Tochter finden will, der schafft das auch“, sagt Hollender, „Ehrver­let­zung gibt Kraft“.

Kein Geld für Volljährige

Das Gespräch mit Doro­thea Hollender und die Geschichten der ehema­ligen Bewoh­ne­rinnen selbst, die zum Jubi­läum des Mädchen­hauses erst­mals gesam­melt als Buch erschienen sind, verdeut­li­chen, wie wichtig diese Insti­tu­tion ist. Trotzdem steht sie auf wack­ligen Füssen. In den vergan­genen 25 Jahren wurde das einzige voll­an­onyme Mädchen­haus der Schweiz schon mehr als einmal totge­sagt. Und auch heute noch ringt es um eine stabile Finanzierungslösung.

„Eigent­lich sind wir in einer guten Lage, was die Minder­jäh­rigen angeht“, erklärt Hollender. Wenn man als Heim die Auflagen erfülle, kriege man hierfür Geld von Bund und Kanton und eine Defi­zit­ga­rantie. „Da haben Frau­en­häuser ganz andere Probleme.“ Mit seinem momen­tanen Finan­zie­rungs­mo­dell stösst das Mädchen­haus trotzdem an seine Grenzen. Das Problem: Die Mädchen zwischen 18 und 20 fallen nicht mehr unter das Kinder- und Jugendheimgesetz.

Entspre­chend fliesst für die Betreuung von Voll­jäh­rigen kein Geld von Bund oder Kanton. Dasselbe gilt für die vorgängig beschrie­bene Tages­struktur, die eben­falls nicht deckend finan­ziert wird. Bei den Voll­jäh­rigen muss sich das Mädchen­haus an die kanto­nale Opfer­hil­fe­stelle wenden. Diese bezahlt jedoch nur eine maxi­male Aufent­halts­pe­riode von drei Wochen. Das sei jeweils viel zu kurz, um eine fall­ge­rechte Anschluss­lö­sung zu finden. Also geraten die jungen Frauen an die Sozi­al­hilfe. Laut Hollender sei dies ein grosses Problem: „Junge Frauen, die massive Gewalt erlebt haben, sind plötz­lich Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ge­rinnen ohne ihr eigenes Verschulden.“ Beson­ders bei Personen ohne sicheren Aufent­halts­status sei das prekär: Weil sie Sozi­al­hilfe beziehen, droht diesen Frauen die Abschiebung.

2017 hat die Schweiz die Istanbul-Konven­tion zum Schutz von Mädchen und Frauen rati­fi­ziert, am 1. April 2018 ist sie in Kraft getreten. Will die Eidge­nos­sen­schaft der Konven­tion gerecht werden, muss sich noch viel ändern. Gerade im Bereich der Krisen­in­ter­ven­ti­ons­fi­nan­zie­rung. Der Ausla­stungs­grad von Heimen und (Frauen-)häusern vari­iert teil­weise stark und komplett ausser­halb des Beein­fluss­baren. Dennoch gibt der Bund Ausla­stungs­grenzen vor, die es zu errei­chen gilt. Sonst wird die Finan­zie­rung gekürzt oder ganz einge­stellt. Subjekt­fi­nan­zie­rung nennt sich das Modell.

Fällt der Ausla­stungs­grad des Mädchen­hauses unter 75%, flat­tert eine kanto­nale Mahnung ins Haus. Aufgrund der anhal­tenden Schwan­kungen ist es im Fall des Mädchen­hauses jedoch nicht bei den Mahnungen geblieben: Auf Empfeh­lung des Amtes für Kinder- und Jugend­schutz hat der Regie­rungsrat bloss eine verkürzte Betriebs­be­wil­li­gung durch­ge­wunken, für zwei statt wie üblich für vier Jahre. „Die Existenz einer solchen Insti­tu­tion von der Bele­gung abhängig zu machen, ist absurd. In einzelnen Monaten könnten wir doppelt belegen und müssen Mädchen wegweisen, in anderen sind wir wieder fast leer. Wir haben keine Möglich­keit, das auszu­glei­chen“, erklärt Hollender. Sie plädiert für eine Ände­rung des Finan­zie­rungs­mo­dells: „Wünschens­wert wäre für uns eine Objekt­fi­nan­zie­rung, so wie es bei Auto­bahnen gemacht wird. Oder bei den Bundes­bahnen: Der SBB wird auch nicht einfach Geld abge­zogen, weil pro Monat 20 Züge nicht voll belegt sind.“

Trotz aller Unsi­cher­heiten bleibt Doro­thea Hollender aber hoff­nungs­voll – schliess­lich sei das Mädchen­haus schon mehr als einmal in seiner Existenz­be­rech­ti­gung ange­zwei­felt worden: „Mit der Istanbul-Konven­tion haben wir nun aber ein gutes Instru­ment in der Hand, auf diese Unzu­läng­lich­keiten aufmerksam zu machen und zu verdeut­li­chen, wie wichtig und unent­behr­lich unsere Arbeit zum Schutz von Mädchen und jungen Frauen ist.“ Schliess­lich, so Hollender, betreibe man nicht nur Krisen­in­ter­ven­tion und Symptom­be­kämp­fung, sondern auch präven­tive Arbeit: „Wir brechen einen Gewalt­zy­klus und ermäch­tigen die Frauen und Mädchen oft nachhaltig.“


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