Mexiko bleibt optimistisch

Mexiko macht derzeit mit hohen Ansteckungs­zahlen Schlag­zeilen. Die Regie­rung schätzt, dass die reellen Fälle dem Acht­fa­chen der offi­zi­ellen Zahlen entspre­chen, da im inter­na­tio­nalen Vergleich wenig Tests durch­ge­führt werden. In Mexiko City beklagen bereits 30 Spitäler Über­la­stung, andere fehlende Infra­struktur. Die Arbeits­lo­sen­quote und Armut nehmen zu. Dennoch hat sich der Alltag im letzten Monat nicht grund­le­gend verän­dert und die Leute scheinen weiterhin die Ruhe zu bewahren 

Eines Abends im April steuert ein Trans­porter in die Einfahrt unserer Strasse. Auf der Lade­fläche sitzen fünf geduckte Gestalten mit Mund­schutz und sprühen Desin­fek­ti­ons­mittel auf den Boden. Die begin­nende Mond­däm­me­rung verleiht der Szene eine apoka­lyp­ti­sche Stim­mung. Ange­sichts der sonst laxen Anti-Corona-Mass­nahmen in Mexiko bekomme ich das mulmige Gefühl, dass jetzt die Stunde der Restrik­tionen schlägt. 

Ein Sonntag wie jeder andere: Von der Krise ist am Markt von Miacatlan wenig zu spüren. (Foto: Sergio Mariscal)

Die Märkte voll, die Stim­mung ausgelassen

Doch das erweist sich als Trug­schluss: Wenige Tage später, am 21. April, werden mit der Dekla­ra­tion der Phase Drei auf natio­naler Ebene zwar durchaus drasti­sche Ände­rungen einge­leitet, welche die alltäg­li­chen Routinen aber gering beein­flussen: Als essen­tiell dekla­rierte Geschäfte bleiben mit Einlass­be­schrän­kung oder Take-Away-Optionen geöffnet; nicht essen­ti­elle Geschäfte, die wider den Bestim­mungen den Betrieb weiter­ge­führt haben, sollen künftig sank­tio­niert werden und Firmen, die keine Leute entlassen haben, mit einer Erwerbs­aus­falls­ent­schä­di­gung belohnt werden; hohe Regie­rungs­an­ge­stellte müssen während der Quaran­täne auf bis zu 25% ihres Einkom­mens und den drei­zehnten Monats­lohn verzichten; einzelne Regionen verbieten die Einreise von Nicht-Anwohner*innen und die Laut­spre­cher­an­sagen, die hier in den Dörfern des Bundes­staates Morelos vor jeder Haustür ertönen, die Menschen über Covid-19 aufklären und ihnen drin­gend empfehlen, zu Hause zu bleiben, scheinen seither etwas lauter geworden. 

Auf unserer sonn­täg­li­chen Fahr­rad­tour stellen wir mit Ernüch­te­rung fest, dass der Sonn­tags­markt in Miacatlán voll wie immer und die Stim­mung ausge­lassen ist. Abge­sehen von einem Trans­pa­rent des Gesund­heits­mi­ni­ste­riums, das an social distan­cing erin­nert, und ein paar Indi­vi­duen mit Mund­schutz, erscheint die Pandemie wie ein Hirn­ge­spinst. Mitten im Markt treffen wir die Besit­zerin eines Restau­rants. „Die guardia nacional kommt regel­mässig vorbei und kontrol­liert uns“, erei­fert sie sich. „Sie wollen, dass ich schliesse. Ich habe zu ihnen gesagt: nur, wenn ihr mir eine Entschä­di­gung zahlt“, fügt sie trium­phie­rend hinzu. Und: „Wie soll ich sonst über­leben? Der Kompro­miss ist nun, dass ich ein paar Tische entfernen musste, damit die Leute weniger eng sitzen.“

Mit Humor die Krise meistern

Die Sicht­weise der doña wider­spie­gelt die Mehr­heits­mei­nung der Mexikaner*innen. Laut aktu­ellen Schät­zungen des Consejo Nacional de Evalu­a­ción de la Polí­tica de Desar­rollo Social (CONEVAL) und der neue­sten Studie des Insti­tuto Nacional de Estadí­stica y Geografía (INEGI) lebt rund die Hälfte der Landes­be­völ­ke­rung in Armut und ohne offi­zi­elle Anstel­lung. Deshalb kann die Regie­rung keine restrik­tive Quaran­täne­po­litik durch­setzen und ein Gross­teil der Bevöl­ke­rung kaum Mass­nahmen reali­sieren. Die Regie­rung hat diese heikle Situa­tion jedoch früh erkannt und bereits Ende März Kredite gespro­chen für Menschen, die am Existenz­mi­nimum leben. Seit Beginn der Phase Drei wurde die finan­zi­elle Unter­stüt­zung auf kleine und mitt­lere Firmen sowie Arbeiter*innen, die aufgrund der Pandemie ihre Arbeit verloren hatten, ausge­weitet; seit Mitte Mai können auch Selbst­stän­dig­er­wer­bende davon profi­tieren. Insbe­son­dere für die Ärmsten stellen die damit verbun­denen büro­kra­ti­schen Prozesse jedoch ein nicht zu unter­schät­zendes Hindernis dar aufgrund deren Träg­heit oder des fehlenden Zugangs zu Infor­ma­tionen oder dem Internet. In der Pres­se­kon­fe­renz vom 20. April bestä­tigte der Präsi­dent, dass Drogen­kar­telle, um die Gunst der Bevöl­ke­rung für sich zu gewinnen, Hilfs­güter verteilten. Diese waren mit dem Logo ihres Kartells und netten Botschaften wie, im Falle des Kartells von Jalisco CJNG, „von deinen Freunden“ versehen. Gegen­über den büro­kra­ti­schen Ange­boten der Regie­rung locken diese mit ihrer Unmittelbarkeit. 

Trotz oder gerade wegen der schwie­rigen Umständen – die für ihren Humor bekannten Mexikaner*innen lassen sich vom Virus nicht die Heiter­keit verderben. Ein Freund von mir hat es einmal so ausge­drückt: „Selbst beim gravie­renden Erdbeben von 2017 zirku­lierten bereits Stunden danach Memes im Netz. Wir sind Krisen eben gewohnt und Komik ist unsere erfolg­reichste Verar­bei­tungs­stra­tegie.“ So verwun­dert es auch nicht, dass in der Metro stache­lige Massa­ge­bälle als Coro­na­virus-Spiel­zeuge ange­priesen werden. Neben Komi­kern trifft man immer wieder auf Verschwörungstheoretiker*innen, welche unter dem Deck­mantel der sani­tären Krise ein Komplott des Systems auszu­ma­chen meinen. 

Ernäh­rungs­tipps in Zeiten von Corona

Kaum weniger berühmt ist die mexi­ka­ni­sche Feier­lu­stig­keit. Doch nun haben verschie­dene Gemeinden Verkauf und Ausschank aller alko­ho­li­schen Getränke verboten. Dies mit der Begrün­dung, die Mass­nahme würde dazu beitragen, die Entste­hung grös­serer Menschen­an­samm­lungen zu verhin­dern. Unter der Hand ist Alkohol aber immer noch erhält­lich und laut­starke Haus­feste hier und dort kaum zu über­hören. Dem bekann­te­sten mexi­ka­ni­schen Bier, Corona, hat die Pandemie indes zwei­fels­ohne einen bitteren Abgang verpasst. 

Im Einklang mit den stän­digen Ernäh­rungs­tipps im Radio, die an die in Mexiko verbrei­teten Probleme Über­ge­wich­tig­keit, Diabetes und Blut­hoch­druck mahnen, wirkt die Alko­hol­pro­hi­bi­tion wie das Bemühen um eine Kehrt­wende in der Ernäh­rungs­kultur. Derweil wird die Vergöt­te­rung fettiger Fleisch-Tacos und von Süss­ge­tränken zynisch-unbe­küm­mert weiter­be­trieben. Es scheint daher frag­lich, ob die biopo­li­ti­sche Offen­sive der Regie­rung Früchte tragen wird. Doch vom unbeug­samen mexi­ka­ni­schen Opti­mismus können wir uns in Zeiten der Pandemie alle eine fette Scheibe abschneiden.


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