Recht auf Wohn­raum – auch während der Corona-Krise

In Zürich Altstetten wurden heute vier Häuser besetzt. Gemäss den Besetzer*innen, um Menschen Raum zu bieten, die derzeit keinen Ort haben, um in Quaran­täne zu leben. Denn in Zürich mangelt es trotz grossem Reichtum an Wohn­raum. Beson­ders davon betroffen sind Sans-Papiers und Obdach­lose. Aber auch Mieter*innen sehen sich zuneh­mend allein gelassen. 
Die Besetzer*innen rufen zu Solidarität mit jenen auf, die durch die Maschen des «Stay the fuck home» fallen. (Foto: zvg)

Unter dem Motto #besetzen haben vergan­gene Woche Aktivist*innen in Berlin mehrere Wohnungen besetzt und Obdach­losen über­geben. „Die Coro­na­krise zeigt noch­mals viel deut­li­cher die Verletz­lich­keit von Obdach­losen und Menschen in Lagern“, hiess es dort. Heute Morgen geschah in Zürich Ähnli­ches: Vier Liegen­schaften wurden zeit­gleich besetzt. „Während die Mehr­heit in der Schweiz das Privileg hat, sich in ein Haus zurück­ziehen zu können, stehen jene im Regen, die das nicht können“, schreiben die Besetzer*innen im Commu­niqué, in dem sie zu Soli­da­rität mit jenen aufrufen, die durch die Maschen des „Stay the fuck home“ durchfallen.

Als Verwal­terin der Asyl­zen­tren im Kanton Zürich steht die kanto­nale Sicher­heits­di­rek­tion derzeit enorm unter Druck. Insbe­son­dere, seitdem vergan­gene Woche bekannt wurde, dass in so gut wie allen Asyl­zen­tren des Kantons Zürich die Hygie­ne­be­stim­mungen des Bundes nicht einge­halten werden können. Fehlende Hygiene, viele Menschen und Kollek­tiv­schlaf­räume gehören in den meisten Asyl­zen­tren zum Alltag. Es ist daher kein Wunder, dass mitt­ler­weile in den ersten Asyl­zen­tren Bewohner*innen positiv auf das Coro­na­virus gete­stet wurden. Als Reak­tion darauf kündigte der Kanton am 2. April an, dass spezi­elle Asyl­zen­tren für erkrankte Personen und Personen in der Risi­ko­gruppe geschaffen würden. Auf eine Anfrage von das Lamm vom vergan­genem Freitag, für wie viele Menschen diese Zentren Platz hätten, hat die Sicher­heits­di­rek­tion bis heute nicht geantwortet.

Mehr Trans­pa­renz bieten die Stellen an, die sich um Obdach­lose kümmern. Mehrere Einrich­tungen berichten, dass sie aufgrund der aktu­ellen Lage ihr Angebot umge­stalten oder redu­zieren mussten. Walter von Arburg, Medi­en­spre­cher des Sozi­al­werks Pfarrer Sieber, sagt, dass die Stif­tung ihre Notschlaf­stelle, den Pfuusbus, schliessen musste. „Im Pfuusbus konnten wir die erfor­der­li­chen Indi­vi­du­al­ab­stände nicht mehr einhalten. Bei uns hätten mehrere Menschen in einem Raum über­nachtet, ohne den nötigen Abstand zu halten. Wir haben nun neben dem Pfuusbus ein Fest­zelt aufge­stellt und können so bis zu 20 Obdach­losen Schlaf­plätze anbieten, die die Abstands­vor­schriften erfüllen.“ Um die Kapa­zi­täten nicht zu stra­pa­zieren, werden in der Stadt Zürich ange­mel­dete Personen an die städ­ti­sche Notschlaf­stelle verwiesen. Trotzdem sieht Arburg derzeit noch keinen Bedarf für mehr Raum: „Wir haben zwar darüber nach­ge­dacht, Hotels für mögliche Über­nach­tungs­plätze anzu­fragen. Momentan kommen wir aber mit der vorhan­denen Infra­struktur zurecht.“ Auch die städ­ti­sche Notschlaf­stelle musste ihre Platz­zahl von 52 auf 38 redu­zieren. Laut Sarah Jost, Medi­en­spre­cherin der sozialen Einrich­tungen der Stadt Zürich, hat man ange­fangen, einfache Hotel­zimmer anzu­mieten. Ausserdem hätten sie vorüber­ge­hend Obdach­lose aufge­nommen, die nicht in der Stadt Zürich ange­meldet sind. Diese würden dabei unter­stützt, in ihre Heimat­ge­meinde zu gehen.

Ganz anders sieht es für die etwa 19’000 Sans-Papiers im Kanton Zürich aus. Die Geschäfts­lei­terin der Sans-Papiers Anlauf­stelle Zürich (SPAZ) Bea Schwager sieht hier eine beson­dere Bedro­hungs­lage. „Durch die Krise haben die meisten Sans-Papiers ihre Arbeit per sofort verloren. Die ohnehin schon geringen Löhne verhin­derten, dass gespart werden konnte, um in solchen Zeiten weiterhin Lebens­mittel zu kaufen oder Mieten zu beglei­chen.“ Sans-Papiers haben im Normal­fall irre­gu­läre Miet­ver­hält­nisse und dadurch keinerlei recht­li­chen Schutz. „Wir stehen kurz vor einer Kata­strophe“, meint Schwager. Deswegen habe die SPAZ zusammen mit der Züri City-Card Initia­tive einen Spen­den­aufruf gestartet. Mit den Spen­den­ein­nahmen sollen Mieten von Sans-Papiers begli­chen und Essens­gut­scheine verteilt werden.

Aber auch Personen in regu­lären Miet­ver­hält­nissen werden durch die Corona-Krise bedroht. Walter Angst, Medi­en­spre­cher des Mieter*innenverband in Zürich, sagt, „dass viele Miete­rinnen und Mieter rasch in Zahlungs­schwie­rig­keiten kommen können. Die vom Bundesrat beschlos­sene Verlän­ge­rung der Frist für die Bezah­lung offener Mieten nach Andro­hung einer Zahlungs­ver­zugs­kün­di­gung hilft nicht wirk­lich weiter. Der Zwang zur pünkt­li­chen Zahlung des Miet­zinses bleibt bestehen“. Mieten seien im Vergleich zu den anderen beiden Fixko­sten, der Kran­ken­kasse und den Steuern, die mit Abstand grösste Bela­stung der Haus­halte. Und das Wohnen – der sichere Rück­zugsort – sei gerade in der gegen­wär­tigen Krise die wich­tigste Lebens­grund­lage. Unver­ständ­lich sei deshalb, dass „Miete­rinnen und Mieter vor Kündi­gungen nicht geschützt werden und dass Grundeigentümer*innen die einzigen sein sollen, die ihre exor­bi­tanten Profite weiterhin ins Trockene bringen können“.

Als Reak­tion auf die bedroh­liche Situa­tion wurde parallel zur heutigen Beset­zungs­ak­tion die Website zuhause.zureich aufge­schaltet. Neben dem Commu­niqué der Aktivist*innen findet sich dort ein Inter­view mit Corinne Mauch. Die Stadt­prä­si­dentin beschreibt Zürich als eine soli­da­ri­sche Stadt. Ein Hohn für all jene, die in Lagern fest­sitzen oder ange­sichts der Corona-Krise um ihre Existenz fürchten müssen. Denn Wohn­raum gäbe es eigent­lich genug; dass er nicht für alle geöffnet wird, ist eine poli­ti­sche Entschei­dung. Und wenn diese nicht über­dacht – und schliess­lich geän­dert wird, dann müsse der Raum halt besetzt werden, sagen die Besetzer*innen.


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