Schmuggler: Ein diskur­siver Trick

In Samos findet ein aufse­hen­er­re­gender Prozess gegen zwei geflüch­tete Männer statt. Im Inter­view spricht die deut­sche Akti­vi­stin Julia Winkler über den Prozess und warum der Diskurs rund um Schmuggler mehr schadet als hilft. 
Die griechische Insel Samos. (Foto: Ann Esswein)

Julia Winkler, wer sind die „Samos Two“?

Julia Winkler: Bei den „Samos Two“ handelt es sich um zwei Männer, Hassan und N., der seinen Namen nicht in der Öffent­lich­keit lesen möchte. Sie erlitten zusammen mit 22 anderen Menschen vor knapp einem Jahr vor der grie­chi­schen Insel Samos Schiff­bruch. Bei diesem Schiffs­un­glück sind alle ins Meer geworfen worden, wobei ein sechs­jäh­riges Kind ums Leben kam. Hassan und N. wurden im Zusam­men­hang mit diesem Fall  ange­klagt. Ihnen drohen hohe Haftstrafen. 

Foto: zvg.

Julia Winkler ist Akti­vi­stin bei „border­line-europe“. „border­line-europe – Menschen­rechte ohne Grenzen e. V.“ ist eine zivil­ge­sell­schaft­liche Orga­ni­sa­tion, die durch unab­hän­gige Unter­su­chungen und Öffent­lich­keits­ar­beit für die Wahrung der Menschen­rechte, insbe­son­dere an den EU-Aussen­grenzen eintritt.

N. ist der Vater des verstor­benen Kindes. Was wird ihm genau vorgeworfen? 

Die grie­chi­schen Behörden bezich­tigen ihn der Kindes­wohl­ge­fähr­dung mit Todes­folge, weil er sich mit seinem Kind in das Schlauch­boot für die Über­fahrt von der Türkei nach Samos gesetzt hat. Ihm drohen dafür zehn Jahre Haft. Dass ein Vater dafür ange­klagt wird, mit seinem Kind geflüchtet zu sein, ist eine neue Eskalationsstufe. 

Wie meinen Sie das?

Bisher war weder uns von „border­line-europe“ noch den grie­chi­schen Anwält:innen vor Ort ein solcher Fall bekannt. Die Anklage ist nicht nur reali­täts­fremd, sondern auch eine Form der Schuld­um­keh­rung. Plötz­lich lautet die Botschaft: Nicht etwa das euro­päi­sche Grenz­re­gime und die euro­päi­sche Politik, die die Grenzen immer wie stärker mili­ta­ri­sieren und so Flucht­wege gefähr­li­cher machen, sind verant­wort­lich für den Tod des Kindes, sondern der Vater. 

Dabei ist das Kind von N. bei Weitem nicht das erste Kind, das auf der Flucht stirbt. Ich kontra­stiere die Anklage gegen N. gerne mit dem Fall Alan Kurdi, dem syri­schen Jungen, dessen Leichnam 2015 an der türki­schen Küste ange­schwemmt wurde. Die Bilder gingen um die Welt und führten kurz­zeitig zu öffent­li­cher Empö­rung über die euro­päi­sche Grenzpolitik. 

Warum aber gerade diese Eska­la­tion bei N.?

Dazu können wir nur speku­lieren. Auffal­lend ist, dass alle, die zusammen mit N. auf dem Schiff waren, erzählen, dass die grie­chi­sche Küsten­wache sie zwar entdeckt hatte, aber keine Hilfe gelei­stet habe. N. hat deswegen selbst die grie­chi­sche Küsten­wache wegen unter­las­sener Hilfe­lei­stung ange­klagt. Die Vermu­tung liegt nahe, dass die grie­chi­schen Behörden mit dem Gerichts­pro­zess von den eigenen Fehlern ablenken und die Schuld für den Tod des Kindes in die Schuhe von N. schieben wollen. 

Das wäre nicht der erste schwer­wie­gende Vorwurf gegen die grie­chi­sche Küstenwache…

Nein. Der Vorwurf der unter­las­senen Hilfe­lei­stung ist vergleichs­weise harmlos. Unsere Kollegin von „border­line-europe“ in Lesbos berichtet ständig von Menschen, die auf Lesbos ankommen, sich dort auch zu erkennen geben und dann Stunden später wieder in der Türkei auftau­chen. Sie werden von maskierten Männern syste­ma­tisch aufge­griffen und mit den Booten der grie­chi­schen Küsten­wache raus aufs Meer gefahren, wo sie dann auf Schwimm­in­seln sich selbst über­lassen werden. Wie Recher­chen von Spiegel, Report Mainz und Light­house gezeigt haben, handelt es sich bei den maskierten Männern um grie­chi­sche Sicherheitskräfte. 

Dem zweiten Ange­klagten der „Samos Two“ droht das absurde Straf­mass von 230 Jahren Gefängnis. Wie ist das möglich?

Hassans Fall ist beispiel­haft dafür, wie die Euro­päi­sche Union Menschen auf der Flucht krimi­na­li­siert. Früher wurden vorwie­gend Schmuggler verhaftet, also jene, die die Flüch­tenden für die Über­fahrt bezahlen. Weil diesen hohe Haft­strafen drohen, verlassen sie vermehrt früh­zeitig das Boot. Das Steuer muss dann eine flüch­tende Person über­nehmen, weil das Boot sonst kentert.

Genau das hat Hassan gemacht: Er hat das Steuer des Bootes über­nommen und versucht, sicher an die Küste von Samos zu gelangen. Der Versuch schei­terte. Als sie dann an Land gefragt wurden, wer das Boot gesteuert hatte, meldete sich Hassan. Er meldete sich, weil ihm gar nicht bewusst war, dass ihm das zum Verhängnis werden könnte. Jetzt drohen ihm wegen dem Tod von N.s Sohn sowie wegen  Beihilfe zur uner­laubten Einreise in 23 Fällen 230 Jahre Gefängnis. Gerade Hassans Fall zeigt eindrück­lich, wie absurd und will­kür­lich die Jagd der EU auf vermeint­liche Schmuggler ist. 

Steckt da eine Syste­matik dahinter?

Ja, ganz klar. Wir müssen das im Kontext der euro­päi­schen Grenz­po­litik sehen: Die EU möchte nicht, dass diese Menschen nach Europa kommen. Deswegen versucht sie alles, um sie davon abzu­halten. Dass Personen auf der Flucht wegen angeb­li­cher Beihilfe zur uner­laubten Einreise verur­teilt werden, ist Alltag und Teil der Krimi­na­li­sie­rungs­praxis. Manchmal reicht es schon, wenn eine Person über das Funk­gerät mit der Küsten­wache kommu­ni­ziert oder Wasser verteilt, um als Schmuggler ange­klagt zu werden. 

Unserer Erfah­rung nach werden im Schnitt pro Boot, das an den Küsten von Europa ankommt, ein bis zwei Personen deswegen inhaf­tiert und ange­klagt werden. Zahlen der grie­chi­schen Regie­rung für das Jahr 2019 zeigen: Menschen auf der Flucht, die wegen angeb­li­cher Beihilfe zur uner­laubten Einreise verur­teilt wurden, bilden die zweit­grösste Gruppe an Menschen in den grie­chi­schen Gefäng­nissen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei einfach um Menschen, die sich gegen­seitig bei der Flucht unterstützen.

Das ist nicht das Bild von Schmugg­lern, das medial und poli­tisch vermit­telt wird. 

Ja, die EU zeichnet in der Öffent­lich­keit gerne ein Bild von Schmugg­lern als skru­pel­lose Verbre­cher, die zum Schutz von Flüch­tenden krimi­na­li­siert werden müssen. Wer sich heute die euro­päi­sche Grenz­schutz­po­litik anschaut, muss sich jedoch einge­stehen, dass es der EU nie um den Schutz von Flüch­tenden geht. 

Deswegen kriti­sieren wir auch immer das Narrativ, dass Personen auf der Flucht vor Ausbeu­tung durch Schmuggler geschützt werden müssen. Damit versteckt sich die EU hinter ihrem huma­ni­tären Deck­mantel: Schmuggler sind auch nur ein Symptom des euro­päi­schen Grenz­re­gimes, und oftmals sogar die einzige verblei­bende Möglich­keit für Flüch­tende, auf ihrem Weg vorwärts zu kommen. 

Wenn es wirk­lich um den Schutz von Flüch­tenden ginge, dann würde die EU Bedin­gungen schaffen, unter denen niemand mehr auf Schmuggler ange­wiesen wäre. Aber sie macht genau das Gegen­teil: An immer mehr Grenzen werden Zäune errichtet, Europa schottet sich mit mili­tä­ri­schen Mitteln ab. 

Mit der Fokus­sie­rung auf die Schmuggler kann man gegen­über der euro­päi­schen Öffent­lich­keit die Repres­sionen gegen Menschen auf der Flucht legi­ti­mieren. Das ist nicht nur zynisch, sondern verlogen. 

Auffal­lend ist, wie wenig Aufmerk­sam­keit die Perspek­tive von Geflüch­teten in der Öffent­lich­keit erhält, die die Krimi­na­li­sie­rung von Flucht zu spüren bekommen. In der Schweiz hat bisher nur das Radio RaBe ausführ­lich über den Prozess berichtet. Die Repres­sionen, die etwa Aktivist:innen in der Seenot­ret­tung erleben, machen viel eher Schlag­zeilen. Woher kommt das?

Das hat zum einen ganz prak­ti­sche Gründe: Die Menschen werden meistens direkt nach der Ankunft inhaf­tiert. So können sie gar keine Kontakte zu lokalen Aktivist:innen knüpfen. In grie­chi­schen Gefäng­nissen kann man Häft­linge nur besu­chen, wenn man ihre Namen kennt und entweder ihre Rechts­ver­tre­tung oder ein Fami­li­en­mit­glied ist. 

Deswegen bleiben die Leute für die Öffent­lich­keit in der Regel uner­reichbar. Ganz im Gegen­satz dazu sind Aktivist:innen meist in grosse Netz­werke einge­glie­dert, sind in sozialen Medien aktiv. Dazu kommt ein inter­na­li­sierter Rassismus: Medi­en­schaf­fende können sich besser mit weissen Aktivist:innen als mit syri­schen Menschen auf der Flucht identifizieren. 

Wo steht der Prozess um die „Samos Two“ aktuell?

Der Prozess beginnt am 18. Mai 2022. In solchen Fällen bleiben die Ange­klagten norma­ler­weise ab Zeit­punkt der Verhaf­tung für die ganze Zeit bis zum Prozess in Unter­su­chungs­haft, weil das Gericht bei Geflüch­teten ironi­scher­weise eine erhöhte Flucht­ge­fahr sieht. Im Fall der „Samos Two“ wurde aller­dings auf die Unter­su­chungs­haft verzichtet. Dies könnte mit dem öffent­li­chen Druck von NGOs zusammenhängen. 

In einer Peti­tion fordern wir und andere Orga­ni­sa­tionen und Aktivist:innen, dass die Anklage gegen N. und gegen Hassan fallen gelassen wird. Zudem wollen wir die Frei­las­sung aller errei­chen, die für das Steuern eines Bootes inhaf­tiert sind. 

Die Kampagne „Free The #Samos2“ fordert, dass die Anklage gegen N. und gegen Hassan fallen gelassen wird. (Foto: zvg.)

Welche sonstigen Wege gibt es, um dieser Grenz­po­litik entgegenzutreten? 

Ich bin wenig opti­mi­stisch, dass die euro­päi­sche Grenz­po­litik auf insti­tu­tio­nellem Weg refor­mierbar ist. Das hat sich in den letzten Jahren deut­lich gezeigt. Wichtig ist neben verschie­denen Formen des Akti­vismus ein stetiger öffent­li­cher Druck auf die Politik. Und wir müssen über unsere Sprache nach­denken, mit der wir über Menschen auf der Flucht sprechen. 

Aktuell wird über die Menschen an der polnisch-bela­rus­si­schen Grenze gespro­chen, als wären sie Waffen in einem geopo­li­ti­schen Konflikt. So werden Menschen zu einer Bedro­hung hoch­sti­li­siert und Repres­sionen gegen sie gerecht­fer­tigt. Das gleiche gilt für den diskur­siven Trick der Schmugg­ler­be­kämp­fung: Er lenkt von der Verant­wor­tung der EU für das Sterben an den Grenzen ab und legi­ti­miert die Prozesse gegen Flüch­tende, macht sie von Opfern des euro­päi­schen Grenz­re­gimes zu Tätern. Wer sich wirk­lich für Flüch­tende einsetzen möchte, fordert sichere Fluchtwege. 

Wie würden solche sicheren Flucht­wege aussehen?

Es gibt viele kleine Schritte, die helfen würden. Zum Beispiel könnten wir aufhören, Mauern gegen Menschen zu errichten. Dann könnten wir wieder staat­liche Seenot­ret­tung betreiben. Wir müssen uns vor Augen führen, auf welchem Niveau wir bereits disku­tieren: Menschen, die Flüch­tenden in Lebens­ge­fahr helfen, werden heute krimi­na­li­siert. Eigent­lich sollte die Seenot­ret­tung selbst­ver­ständ­lich sein, wenn man die Menschen auf der Flucht auch als Menschen behandelt. 

Ganz grund­sätz­lich wäre es aber an der Zeit, die Visa­be­din­gungen zu ändern, sodass sich Menschen gar nicht erst auf die lebens­ge­fähr­li­chen Flucht­wege begeben müssen. Wir müssen uns fragen, warum wir anderen Menschen das Recht auf freie Reise verwehren, das wir für uns selber in Anspruch nehmen. 

Wer tatsäch­lich mit Menschen auf der Flucht spricht, weiss, dass viele gerne für ein paar Jahre in Europa arbeiten und Geld verdienen möchten, um dann wieder in ihre Heimat zurück­zu­kehren. Das ist aber unmög­lich mit den heutigen Visa­be­din­gungen: Wenn ich die Flucht einmal geschafft habe, fliege ich sicher nicht wieder zurück, weil ich sonst den ganzen lebens­ge­fähr­li­chen Fluchtweg wieder auf mich nehmen muss.

Dieses Inter­view ist zuerst bei der P.S.-Zeitung erschienen. Die P.S.-Zeitung gehört wie Das Lamm zu den verlags­un­ab­hän­gigen Medien der Schweiz.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 10 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 780 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel