Schweigen als neue Kern­kom­pe­tenz: Öffent­liche Behörden in Zeiten von Corona

Das Corona-Virus hat die Öffent­lich­keit fest im Griff. Und während die Zivil­ge­sell­schaft sich nicht mehr versam­meln kann, kommt es zu Skan­dalen um Asyl­zen­tren, und der Stadtrat Raphael Golta entscheidet unter Ausschluss der Öffent­lich­keit wider den Grund­satz des Öffent­lich­keits­prin­zips über die Zukunft des besetzten Juch-Areals. Kurz: Die Exeku­tiven hinter­lassen den Eindruck, demo­kra­tie­müde zu sein. 

Im Zuge der aktu­ellen Lage wurden verschie­denste Rück­stände staat­li­cher Admi­ni­stra­tion bekannt. Mitte April zeigte sich, dass in so gut wie allen Asyl­un­ter­künften des Kantons Zürich die nötigen Hygie­ne­re­geln nicht einge­halten werden konnten. Erste Covid-19-Fälle tauchten in der Notun­ter­kunft Adliswil auf, und zunächst passierte wenig. Nach ein paar Tagen kündigte die Sicher­heits­di­rek­tion des Kantons an, man würde zusätz­liche Herbergen für Infi­zierte und Risi­ko­gruppen schaffen. Kurze Zeit später entzog der Kanton dem in Adliswil zustän­digen Arzt das Mandat, nachdem die Miss­stände in der Notun­ter­kunft öffent­lich gemacht wurden.

Die WOZ wandte sich daraufhin mit einem ausführ­li­chen Fragen­ka­talog an die vom Sozi­al­de­mo­kraten Mario Fehr gelei­tete Direk­tion. Als Antwort kam: nichts. Auch das Lamm fragte blau­äugig, für wie viele Personen diese „beson­deren Herbergen“ einge­richtet seien. Als Antwort bekamen auch wir ein grosses Schweigen. Die WOZ bemerkte entspre­chend, dass derzeit die Pres­se­frei­heit extrem leide. Verwei­gerter Zutritt für Journalist*innen, fehlende Aner­ken­nung des Pres­se­aus­weises, der eigent­lich Bewe­gungs­frei­heit garan­tieren soll, sowie unbe­ant­wor­tete Fragen bei virtu­ellen Pres­se­kon­fe­renzen seien laut Impressum, dem grössten Berufs­ver­band für Medi­en­schaf­fende, und der Gewerk­schaft Synd­icom an der Tagesordnung.

Die Situa­tion Geflüch­teter in der Schweiz und insbe­son­dere an der EU-Aussen­grenze bleibt weiterhin desa­strös. Während hier auf jedem zweiten Werbe­plakat vom „Retten von Menschen“ zu lesen ist, wird dort das massen­hafte Sterben willent­lich in Kauf genommen. Um zu zeigen, dass dies nicht hinnehmbar ist, wurde für den 18. April zu einer Auto­demo aufge­rufen. Hierzu kommen­tierte Kira Kynd im Lamm: „Die Auto­demo zeigte: Corona-Regeln gelten für alle ausser die Polizei“. Die Auto­de­mon­stra­tion wurde im Keim erstickt. Es scheint, als sei der Stadt die Pandemie als Recht­fer­ti­gung dafür gerade recht gekommen. In Deutsch­land mussten unlängst Gerichte die Behörden dazu anweisen, auch während Corona demo­kra­ti­sche Grund­rechte zu garantieren.

Das Debakel vom Juchhof

Ein beson­deres Spek­takel lieferte das Sozi­al­de­par­te­ment der Stadt Zürich in der vergan­genen Woche. Am 20. April wurde bekannt, dass das von SP-Poli­tiker Raphael Golta geführte Depar­te­ment zusammen mit der Asyl­or­ga­ni­sa­tion Zürich (AOZ) den im Oktober besetzten Juchhof in Altstetten räumen lassen wollte. Als Begrün­dung wurden Abbruch­ar­beiten und eine zukünf­tige Nutzung ange­bracht. Wie diese aussehen soll, wollte die Stadt partout nicht sagen. Der Tages-Anzeiger titelte: „Stadt verheim­licht Pläne zum Juch-Areal“, und auch gegen­über dem Lamm wurden nur unge­naue Aussagen gemacht. Nach mehreren Mails an das Sozi­al­de­par­te­ment, die AOZ und einem Kontakt­ver­such mit Raphael Golta erhielten wir einen Anruf von Medi­en­spre­cherin Heike Issel­horst. „Wir machen keine weiteren Aussagen zu dem Thema“, sagte sie. Und auch warum man nicht sagen wolle, wer das Areal zukünftig benutzen soll, wollte das Sozi­al­de­par­te­ment nicht sagen. „Sie werden es bald erfahren“, hiess es schlichtweg.

„Eine solche Infor­ma­ti­ons­ver­wei­ge­rung wider­spricht grund­sätz­lich dem Öffent­lich­keits­prinzip, welches auch im Kanton Zürich gesetz­lich veran­kert ist“, meinte Martin Stoll am 24. April. Er ist Geschäfts­führer von Öffentlichkeitsgesetz.ch, einer Verei­ni­gung von Medi­en­schaf­fenden für Trans­pa­renz in der Verwal­tung. Die beim Bund und in den meisten Kantonen imple­men­tierten Gesetze sollen garan­tieren, dass öffent­liche Debatten auf der Basis von Infor­ma­tionen statt­finden können, die der Verwal­tung vorliegen. „Eine solche Offen­le­gungs­pflicht, die im öffent­li­chen Inter­esse ist, wurde hier offen­sicht­lich eigen­mächtig igno­riert“, kriti­siert Stoll. Das Öffent­lich­keits­prinzip ist mit mehreren Gesetzen auf Bundes- und kanto­naler Ebene fest­ge­schrieben. Bei all diesen Gesetzen gilt grund­sätz­lich: Behörd­liche Infor­ma­tionen sollen immer zugäng­lich sein, ausser dies würde andere Rechte – wie etwa den Daten­schutz – einschränken.

Mit den Vorwürfen konfron­tiert beruft sich das Sozi­al­de­par­te­ment in einer Stel­lung­nahme vom 28. April auf das Infor­ma­tions- und Daten­schutz­ge­setz (IDG). Man orien­tiere sich „bei der Infor­ma­tion der Öffent­lich­keit in puncto Zeit­punkt und Detail­ie­rungs­grad in erster Linie am IDG, aber auch jeweils an den aktu­ellen Umständen“. Es sei zu dem Zeit­punkt darum gegangen, „den medialen Diskurs nicht weiter zu befeuern“, man sei am Donnerstag schon im Dialog mit Vertreter*innen der Besetzer*innen „sowie anderen invol­vierten Stellen“ gewesen.

Die linken Parteien im Gemein­derat fühlten sich bei dem Entscheid über­gangen. Zuerst zeigten sich am 23. April die Grünen der Stadt in einem Medi­en­schreiben erstaunt über das intrans­pa­rente Vorgehen von Golta. Gerade in Zeiten von Corona und während der Früh­lings­fe­rien sei es völlig unan­ge­bracht, eine solche Mass­nahme zu voll­ziehen, ohne den Gemein­derat oder die Presse zu infor­mieren. Zwei Tage später veröf­fent­lichten die SP, die AL und die Grünen der Stadt ein gemein­sames Pres­se­schreiben. Sie forderten den Stadtrat auf, von der Räumung abzu­sehen, und kriti­sierten das intrans­pa­rente Vorgehen. In einem Inter­view vom Donnerstag, dem 23. April, vermu­tete die Gemein­de­rätin der Grünen Elena Marti, dass der Abbruch even­tuell mit dem Bau des Eishockey­sta­dions neben den Baracken des Juch­hofs zu tun haben könnte. „Ohne die Besetzer*innen, die das Schreiben der Stadt öffent­lich gemacht haben, hätten wir nicht bemerkt, dass die Stadt hier klamm­heim­lich die Nutzung öffent­li­cher Grund­stücke verän­dert.“ Könnte hier insge­heim ein Grund­stück an einen privaten Akteur verscha­chert werden? Wird so die Stadt gleich­zeitig unge­müt­liche Besetzer*innen los? Nutzt sie dafür die unge­wisse Zeit der Corona-Pandemie? Wir wussten es nicht bis zum Freitagnachmittag.

Ein Rück­zieher in letzter Minute

Während sich die Besetzer*innen auf eine kommende Räumung vorbe­rei­teten, das Ajour-Magazin eine erhöhte Poli­zei­prä­senz und will­kür­liche Kontrollen um den Juchhof kriti­sierte, und wir dem Sozi­al­de­par­te­ment gerade eine Mail mit dem Vorwurf, es verstosse gegen das Öffent­lich­keits­ge­setz, abge­schickt hatten, voll­zogen die Behörden plötz­lich eine Kehrtwende.

Kurz nach 16 Uhr veröf­fent­lichte das Sozi­al­de­par­te­ment eine Medi­en­mit­tei­lung: Die Räumung werde um einen Monat verschoben, hiess es darin. Aufgrund der aktu­ellen Lage und weil man gemerkt habe, dass sehr viel mehr Menschen auf dem Areal leben würden „als ursprüng­lich ange­nommen“. Eine äusserst erstaun­liche Erkenntnis, wenn es doch in einer vorhe­rigen Mail hiess, man sei im „regel­mäs­sigem Kontakt mit den Besetzer*innen gewesen“. Die Medi­en­mit­tei­lung beinhal­tete ausserdem die Lösung des Rätsels um die Zukunft des Areals: Die Stadt plant, die Baracken abzu­reissen und hat das Grund­stück für die Bauzeit des benach­barten Eishockey­sta­dions an die Baufirma HRS Real Estate AG vermietet. Aufgrund unge­nü­gender Platz­ver­hält­nisse auf der Baustelle. Gegen­über dem Lamm erklärt das Sozi­al­de­par­te­ment, dass die Gespräche betref­fend der Nutzung seit November 2019 laufen und ein Vertrag „Anfang April“ unter­schrieben worden sei. Aufgrund der aktu­ellen Umstände habe man einzig die Über­gabe um einen Monat verzögert.

Ein Hauch von Trans­pa­renz wehte durch die Gänge der Zürcher Stadt­ver­wal­tung. Es bestä­tigte sich aber auch: Die Exeku­tive hatte versucht, ein städ­ti­sches Gelände an private Akteure zu vergeben, unlieb­same Besetzer*innen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu entfernen und erst im Nach­hinein die Öffent­lich­keit über die Vorgänge in Kenntnis zu setzen – ohne Debatte, Konflikte oder Kompro­misse. Trans­pa­renz ist in einer funk­tio­nie­renden Demo­kratie unab­dingbar. So hätten, laut Elena Marti, „der Gemein­derat und die Bevöl­ke­rung zumin­dest über das Nutzungs­kon­zept des Areals infor­miert werden sollen“. Der Stadtrat ging anschei­nend davon aus, dass die Räumung des besetzten Juch­hofs zugun­sten einer Baustelle auf grosse Kritik gestossen wäre. Der Schuss ging nach hinten los: „Der Stadtrat ist hier sehr unge­schickt vorge­gangen und hat damit nicht nur die Besetzer*innen vor den Kopf gestossen“, so Marti.

Ein weiterer Clou der Geschichte: Während die Stadt vehe­ment betont, sie habe regel­mäs­sigen Kontakt mit den Besetzer*innen gehabt, wird dies von anderer Seite verneint. „Unser Kontakt war bisher sehr spär­lich und beschränkte sich vor allem auf die AOZ“, so die Besetzer*innen. „Wir hatten wenig Mail­kon­takt wegen der Bezah­lung von Strom und Wasser und die wenigen Besuche dienten ausschliess­lich der Vermes­sung der Gebäude.“

Die Kommu­ni­ka­ti­ons­po­litik des Sozi­al­de­par­te­ments war also mehr als frag­würdig. Dabei sollte gerade in Zeiten von Corona und Regie­rungs­ober­häup­tern mit Allmachts­phan­ta­sien beson­ders auf die Einhal­tung demo­kra­ti­scher Grund­re­geln geachtet werden. Dazu gehört auch – so möglich –, heim­lich gezeich­nete Verträge rück­gängig zu machen, Debatten über die Zukunft städ­ti­scher Grund­stücke öffent­lich zu führen und alles daran zu setzen, das Versamm­lungs­recht auch in diesen Zeiten irgendwie gewähren zu können.


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