Schweizer Incel (17): „Ich möchte eigent­lich keine Frauen hassen!“

Lori171717 redet online von Frauen, die es sich wünschen verge­wal­tigt zu werden und von jüdi­scher Welt­ver­schwö­rung. Darauf ange­spro­chen, rela­ti­viert er alles und verweist auf seine eigenen Schwä­chen. Wer ist dieser 17-jährige Incel aus dem Gross­raum Zürich? Ein Onlineporträt. 

Und plötz­lich war alles weg. Alle Fotos, Beschimp­fungen, Verschwö­rungs­theo­rien, Diskus­sionen über Penis­grössen: einfach alles. Er hat den Kontakt mit uns nach zwei Wochen abge­bro­chen. Längst haben wir aber seinen echten Namen, seine anderen Social-Media-Profile und seinen Wohnort ausfindig gemacht. Das Internet vergisst nie und wer sich darin bewegt, hinter­lässt zwangs­läufig Spuren.

Auf Reddit nennt er sich Lori171717. Seinen echten Namen möchte er uns nicht sagen, nur so viel: Er kommt aus dem Kanton Zürich und ist 17 Jahre alt. Treffen möchte er sich nicht, tele­fo­nieren auch nicht.

Er fühle sich am wohl­sten, wenn er sich mit uns über die Nach­rich­ten­funk­tion von Reddit unter­halten kann. Auf Englisch. Lori171717 hat eine Form von Asperger. Dazu aber später mehr.

Nach mehr als zwei Wochen ausführ­li­chem Kontakt bleibt der Eindruck eines sehr intel­li­genten jungen Mannes, der aus Neugierde in eine Online­com­mu­nity geraten ist – und dort seine Leidens­ge­nossen wähnt. Scheinbar zerrissen zwischen seiner psychi­schen Verfas­sung einer­seits und Männ­lich­keits­bil­dern ande­rer­seits, betei­ligt er sich an den oft sexi­sti­schen, rassi­sti­schen und gewalt­tä­tigen Fanta­sien der vermeint­lich anonymen Incel-Commu­nity. Es bleibt aber nicht beim Kommen­tieren und Liken. Lori171717 mischt kräftig mit.

Gekommen aus Neugierde – geblieben aus Verzweiflung

Begonnen hat alles im April 2018. Am 23. April tötet ein 25-jähriger Mann namens Alek Minas­sian mit einem Liefer­wagen in Toronto 10 Menschen – und ruft die Incel-Rebel­lion aus. Es geht nicht lange, dann erscheinen die ersten Erklä­rungs­ver­suche. Dann folgen längere Essays. Parallel dazu veröf­fent­li­chen aber auch Youtuber wie „cuestar“ verschie­dene Videos zum Incel-Phänomen. Über eines dieser sati­ri­schen Videos wird Lori171717 auf das Phänomen aufmerksam. Aus Neugierde tritt er Reddit am 26. April – drei Tage nach dem Anschlag – bei. Reddit ist eine der grössten Online­platt­formen und glie­dert sich in unend­lich viele Unter­foren, soge­nannte Subred­dits. Er wird sehr schnell sehr aktiv. Zuerst in den Unter­foren r/braincels, später aber auch in r/aspergers und r/drugs.

Die Auswahl dieser Unter­foren ist nicht zufällig. Lori171717 geht, wie er mir im Inter­view erzählte, seit drei Jahren zu einem Psych­iater. Er wurde, beru­hend auf eigenen Angaben und seinen Reddit-Beiträgen, mit einer Art von Asperger geboren und leidet ausserdem an Depres­sionen. Lori171717 postet fast täglich in die Reddit-Drogen­foren und zeigt den anderen UserInnen Bilder neuer Medi­ka­mente, die er seinem Thera­peuten scheinbar „abschnorren” konnte. Er fragt nach den besten Zusätzen für Misch­konsum und disku­tiert über poten­zi­elle Neben­wir­kungen. Ob das alles echt ist, ob Lori171717 wirk­lich in seinem Kinder­zimmer mit Drogen expe­ri­men­tiert, bleibt offen. Das Internet ist auch ein Ort um anzu­geben, um jemand zu sein, der man nicht wirk­lich ist.

Lori171717 betei­ligt sich seit Beginn seiner Reddit-Akti­vität an Diskus­sionen zu unter­schied­li­chen extre­mi­sti­schen Ideo­lo­gien und Posi­tionen, zeigt sich angetan von allem, was aneckt und schockiert. Der Extre­mismus, den er für sich selber entdeckt zu haben scheint, ist der Frau­en­hass. Im Gespräch mit mir rela­ti­viert Lori171717 seine myso­gynen Aussagen zu einem gewissen Grad wieder: Sein Problem sei, dass er nicht filtern könne. „Ich sage einfach alles so, wie ich es denke. Für eine sehr lange Zeit hatte ich deswegen keine engen Freunde. Ich denke, daher kommt auch meine Depres­sion“, schreibt mir Lori171717. Die Incel-Commu­nity sei für ihn dafür da, seine Frustra­tion und Wut zu kanalisieren.

Übler Rassismus wech­selt sich mit latentem Sexismus ab

Während Lori171717 im persön­li­chen Gespräch mit mir ein Unbe­hagen gegen­über dem Islam ausdrückt, schreibt er im Unter­forum r/braincel, dass er alle Immi­granten hasse, und dass diese in seinem Land, der Schweiz, nur Frauen verge­wal­tigten und Steu­er­gelder schnorrten. Es folgen mehrere Kommen­tare, die seinen Hass gegen­über Immi­granten und Flücht­lingen unter­stützen. Ein User schreibt, dass Flücht­linge die Frauen nicht verge­wal­tigten: „Die wollen das doch.“ Lori171717 wider­spricht nicht. Rassimus, Sexismus — in r/braincels schlagen beide in dieselbe Kerbe und verstärken sich gegen­seitig. Die Grenzen sind fliessend.

Lori171717 ist nicht der Meinung, dass die Incel-Commu­nity rassi­stisch sei. Konfron­tiert mit einer kleinen Auswahl seiner rassi­sti­schen Posts („Gibt es eine jüdi­sche Welt­ver­schwö­rung? Wenn ja, dann wäre ja Hitler ein Held gewesen“), sagt er ledig­lich: „Rassismus ist bei uns kein grosses Thema. Wenn du einige Umfragen anschaust, wirst du merken, dass nur etwa 60% der User hier weiss sind.“

Einfache Antworten auf komplexe Fragen: Die simple Logik der Commu­nity spie­gelt sich auch in unserem Gespräch wider. Die Haut­farbe spielt bei den Incels eine grosse Rolle. Laut der eigenen Theorie müssen ethni­sche Minder­heiten grös­sere gesell­schaft­liche Hinder­nisse über­kommen, um sexuell aktiv zu werden. „Weisse Männer sind die Attrak­tiv­sten”, meint Lori171717. „Daher werden andere Ethnien nicht gehasst, sondern sie bekommen Mitleid.” Andere Ethnien, das sind Curry­cels (Inder), Rice­cels (Chine­si­sche Incels) oder etwa Black­cels, Incels dunkler Hautfarbe.

Lori171717 streitet zwar ab, dass die Incel-Commu­nity rassi­stisch sei, aber selbst er kann den teils latenten, meist aber sehr offenen Frau­en­hass in den Foren nicht in Abrede stellen. Ein grosser Teil dieses Hasses wird durch Screen­shots von Twit­ter­ge­sprä­chen geschürt, in denen sich Frauen über ihre Ansprüche an Männer unter­halten. Ob diese Posts tatsäch­lich von Frauen stammen oder aus den Tasten eines Trolls, kann Lori171717 nicht beweisen – aber das scheint er auch nicht unbe­dingt zu wollen. „Ich möchte keine Frauen hassen, aber das ist schwer, wenn ich so Sachen lese und sehe!“, schreibt er. „Denn egal wie häss­lich eine Frau ist, sie wird immer einen genug verzwei­felten Mann finden, der mit ihr Sex haben will. Bist du aber ein Incel, dann ist es vorbei!“

Alles halb so wild?

Lori171717 gibt zu, dass er persön­lich noch keine schlechten Erfah­rungen mit Frauen gehabt hat. Er erzählt, dass er zu beiden Eltern ein sehr gutes Verhältnis hat, über seine Mutter im beson­deren verliert er kein Wort, erst recht kein Schlechtes. Lori171717 hat Kolle­gInnen, aber keine engen Freun­dInnen. In der Schule hat er von einigen seiner Klas­sen­ka­me­raden gehört, dass sie bereits sexuell aktiv sind – genauere Details konnten die Teen­ager nicht liefern. Lori171717 fühlte sich verun­si­chert von diesen Erzäh­lungen, in einem Post sagt er, er habe Hass empfunden. In einem anderen Post äussert sich Lori171717 besorgt darüber, dass ihm zwei Klas­sen­ka­me­ra­dinnen Homo­se­xua­lität „unter­stellen” würden. Andere User geben ihm daraufhin den Rat, die „Gay-Buddy”-Strategie zu fahren, sich also gezielt fälsch­lich zu outen, um sich Frauen körper­lich zu nähern, ohne dass diese ihm unlau­tere Absichten unter­stellen. Lori171717 weist den Vorschlag ab. Dafür, so schreibt er, fehle ihm das nötige Charisma.

Sieht man (mit Mühe) über die wüsten Beschimp­fungen gegen­über Mino­ri­täten, Frauen und Homo­se­xu­ellen hinweg – dann ist Lori171717 ein ganz normaler 17-Jähriger. Er geht ins Gymna­sium, inter­es­siert sich für Drogen und Video­spiele, hört gerne Rap und steht unter dem Eindruck, dass Sex das alles bestim­mende Thema ist.

Über Letz­teres wird aber unter jungen Männern nicht offen gespro­chen, wie Fach­psy­cho­lo­gInnen erzählen. Sex ist als Thema in Gesprä­chen zwar omni­prä­sent, aber lieber wird geprahlt, als effektiv über persön­liche Erfah­rungen, Ängste und Unsi­cher­heiten zu spre­chen. „Ich nehme einfach an, dass alle, die in meinem Alter in einer Bezie­hung sind, auch Sex haben”, schreibt mir Lori171717. Als ich ihn darauf aufmerksam mache, dass Schwei­ze­rInnen laut Bundesamt für Stati­stik im Durch­schnitt mit 17 Jahren zum ersten Mal sexuell aktiv werden, geht er nicht darauf ein. Für mich entsteht der Eindruck, dass Lori171717 die Probleme und Zweifel eines ganz gewöhn­li­chen Jugend­li­chen plagen, aber dass er zu tief von seinem Incel-Status über­zeugt ist. Beschwich­ti­gungs­ver­suche oder Rela­ti­vie­rungen meiner­seits errei­chen ihn nicht – viel­mehr redet er sich ein, dass er zur Einsam­keit verdammt ist.

Am Schluss ein biss­chen ratlos

Und so sitze ich jetzt hier und bin ein biss­chen ratlos. Das skiz­zierte Porträt entspricht nicht den Erwar­tungen, die ich zu Beginn der Gespräche mit Lori171717 hatte. Statt eines ruch­losen Rassi­sten und Sexi­sten habe ich in den Gesprä­chen einen komplexen und in seiner Wort­wahl durchaus auch intel­li­gent wirkenden jungen Mann kennen­ge­lernt. Die ruhigen und freund­schaft­li­chen Gespräche, die wir geführt haben, die schnellen Antworten und vor allem seine Zustim­mung, sich über­haupt mit mir zu unter­halten, wollen nicht so recht mit seinen Posts über den Islam, Juden und Frauen zusammenpassen.

Seine Schwie­rig­keiten, sexuell aktiv zu werden, erklärt Lori171717 durch seine psychi­sche Veran­la­gung. Aber er lässt sich auch immer wieder von anderen Incels bewerten, schreibt, dass sein Gesicht seine grösste Hypo­thek auf dem Sexmarkt sei. Unter­hält sich in anderen Foren über die Länge seines Penis und seinen Körperbau, seine Haut, seinen Humor, den die anderen nicht verstehen würden. Gerne würde ich ihm zurufen, dass alles nur halb so schlimm sei. Dass es für alle einen Platz habe und dass er doch erst 17 Jahre alt sei. Aber dieser Ruf verhallt in der Incel-Bubble. Und warum sollte er auch ausge­rechnet mir glauben, wenn ihm 29’000 selbst­er­nannte Incels tagtäg­lich einreden, dass seines­glei­chen zu einem Leben in Einsam­keit verdammt sind?

Ein Fazit? Schwierig.

Viel­leicht bringt uns die Ausein­an­der­set­zung mit einem Indi­vi­duum nicht das, was wir uns zu Beginn der Gespräche mit Lori171717 erhofft hatten: Ein klares Bild davon, was einen jungen Incel zum Frau­en­hass und Rassismus treibt. Die Probleme, mit denen die unfrei­willig Zöli­ba­t­ären zu kämpfen haben, sind im Kern gesell­schaft­lich bedingt. Klar, viele junge Männer bekommen in ihrem Leben einen Korb, werden später als erhofft sexuell aktiv, finden andere Formen der Selbst­de­fi­ni­tion als über sexu­elle Erfah­rungen und Errun­gen­schaften, oder vertiefen statt­dessen plato­ni­sche Bezie­hungen. Aber nur die wenig­sten flüchten sich in diese dunkle Ecke des Inter­nets. Die meisten finden einen anderen Weg, mit diesem Druck umzugehen.

Lori171717 hat diesen Weg noch nicht für sich gefunden. Er hat nach unserem Gespräch all seine Posts auf Reddit gelöscht und den Kontakt mit mir abge­bro­chen. Für kurze Zeit war er weg. Seit mehreren Tagen postet er wieder — rassi­sti­scher und sexi­sti­scher denn je.

Lori171717 sieht für sich keinen Ausweg, ausser einen: „Wenn ich eine Freundin finde, dann werde ich die Incels verlassen.” Das schreibt er mir. In einem Reddit-Unter­forum klingt es dann aber so:„Wenn ich mit 25 noch Single bin, dann bringe ich mich um.”


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