Sexu­elle Gewalt auf der Flucht: Ein Monat, eine Woche und zwei Tage in der Hölle

Yodit floh vor drei Jahren aus Eritrea in die Schweiz. Ihre Flucht führte sie durch die Sahara, die Hände von Menschen­händ­lern und die Hölle liby­scher Inter­nie­rungs­lager. Yodits Geschichte steht stell­ver­tre­tend für die Gewalt­er­fah­rungen, die fast alle Frauen auf der Flucht nach Europa machen. Gleich­zeitig unter­stützt Europa die Verant­wort­li­chen in Libyen seit Jahren mit Beiträgen in Millionenhöhe. 
Libyen und seine Partnerstaaten reden von Flüchtlingslagern, Geflüchtete und Menschenrechtsorganisationen vor Ort sprechen hingegen von Gefängnissen mit prekärsten Zuständen. (Symbolbild CC: Freepik)

Der folgende Text beruht voll­ständig auf der münd­li­chen Erzäh­lung Yodits und enthält expli­zite Passagen zu sexu­eller Gewalt und Folter. Weitere Infor­ma­tionen zur Situa­tion in den liby­schen Gefäng­nissen finden sich in der Info-Box am Ende dieses Textes.

Yodit ist eine kleine Frau mit einer leisen, hauchenden Stimme. Als sie am 1. September im Niesel­re­geln vor drei­tau­send Menschen die Bühne betritt, wird es still. Sie erzählt den Menschen am Ende der Seebrücke-Demo in Zürich ihre Geschichte. Als Yodit die Massen­ver­ge­wal­ti­gungen durch Wachen in den liby­schen Inter­nie­rungs­camps beschreibt, bedient sie sich einer kind­li­chen Sprache. Die Männer machten Sex mit den Frauen, sagt sie. Zu dritt und zu fünft und die ganze Nacht lang. Sie trügen dabei keine Präser­va­tive und wenn die Frauen die brutalen Über­griffe über­lebten, dann trügen sie die Spuren nicht nur seelisch davon — HIV und andere sexuell über­trag­bare Krank­heiten gras­sierten in den Camps. Manche Frauen würden schwanger.

Flucht ist immer gefähr­lich. Nicht wenige Menschen verlieren auf dem Weg nach Europa ihr Leben. Fast alle Flüch­tenden machen Erfah­rungen mit Gewalt, Folter, Skla­verei. „Im Gefängnis in Libyen habe ich jeden Tag zu Gott gebetet, dass ich sterben kann. Ich war nicht stark genug, mir selber das Leben zu nehmen wie einige anderen, aber ich wollte so sehr sterben.“ Yodit hat über­lebt. Seit drei Jahren wohnt sie in der Schweiz in der Nähe Zürichs und verfügt über einen aner­kannten Flücht­lings­status mit B‑Bewilligung.

Die Geschichte der 28-Jährigen aus Eritrea steht stell­ver­tre­tend für das Leid, welches im beson­deren Frauen auf der Flucht angetan wird und welches in der Diskus­sion um Menschen­rechts­ver­let­zungen oft unter­geht: Verge­wal­ti­gung und sexu­elle Gewalt. „Wenn ich meine Geschichte erzähle, dann ist das eine Therapie“, sagt Yodit, und: „Die meisten Menschen, die hier­her­kommen, erzählen nur einen Teil der Geschichte oder sie schämen sich zu benennen, was ihnen angetan wurde — vor allem die Frauen. Ich will aber, dass du alles weisst.“

1’600 Dollar bis Libyen

Wir sitzen auf dem kleinen Platz hinter der Auto­nomen Schule Zürich, als Yodit anfängt zu erzählen. Ihre Geschichte beginnt 2012, als sie das kleine Dorf Degra Libie in Eritrea verliess. Vor den poli­ti­schen Zuständen und der Diktatur im Land flüch­tend, ging sie in den Sudan, wo sie bei einer Familie als „Putz­frau“ ange­stellt wurde. Yodit war im Sudan eine Ille­gale, ihre Arbeit verrich­tete sie schwarz. Die Zustände bei der Familie, die sie wie eine Sklavin behan­delte, waren prekär. Als die Frau der Familie Yodit vorwarf, ihren Mann zu verführen, wurde ihr der Lohn verwehrt – der gesamte Lohn von sechs Monaten Arbeit. Yodit floh aus dem Haus und zog in eine Unter­kunft mit anderen Eritreerinnen und Eritreern. 45 Menschen waren es, die sich auf engstem Raum arran­gierten. „Tags­über waren alle unter­wegs, aber es war immer gefähr­lich, draussen zu sein. Dass wir wenig­stens zusammen schlafen konnten, gab allen etwas Sicher­heit“, erzählt sie. Yodit fand einen Lehrer, der ihr etwas Englisch beibringt. Einen Plan hatte sie nicht, ihr Alltag war auf das Über­leben ausgerichtet.

Eines Abends, erzählt Yodit, kamen die anderen aus der Unter­kunft und sagten, dass sie einen Schlepper gefunden haben, der sie nach Libyen bringen würde. Kosten­punkt: 1’600 Dollar pro Person. Die anderen verliessen die Unter­kunft am selben Abend. „Ich hatte eine Stunde Zeit mich zu entscheiden – entweder ich gehe mit, oder ich bleibe alleine hier.“ Noch vor der Abreise erhielt Yodit von einer anderen Frau eine Spritze in den Arm, einen starken Hormon­cock­tail, der eine Schwan­ger­schaft verun­mög­li­chen sollte. „Auf dem Weg nach Libyen wird jede Frau verge­wal­tigt“, soll Yodits Bekannte gesagt haben, „und wenn nicht auf dem Weg dorthin, dann späte­stens in Libyen.“

Drei Wochen, zwei in der Sahara

Yodit kann sich nicht an alle Einzel­heiten erin­nern. Deswegen schreibt sie alle Erin­ne­rungen nieder, in ein kleines rotes Heft, das sie immer bei sich trägt. Vor allem die Zahlen hat sie sauber beisammen.

In der Gruppe waren neun Frauen. Es waren insge­samt vier Fahrer für zwei Fahr­zeuge. Die Männer spra­chen Arabisch unter­ein­ander, und als die Fahrer eines Abends die Frauen von den Männern der Gruppe trennten, hörte eine der neun Frauen, die Arabisch sprach, unbe­ob­achtet zu und wusste, was sie vorhatten. Die Frauen rannten davon und schrieen um Hilfe, die Jüngste von ihnen war vier­zehn. „Wir hatten alle Prel­lungen von den Schlägen“, erzählt Yodit,„meine waren an den Beinen“.

Yodit stoppt ihre Erzäh­lung. „Wollen wir eine Pause machen?“ – „Nein, ich will dir alles erzählen.“ Die Szenerie wieder­holte sich jede Nacht.

Yodit notiert alles, woran sie sich erin­nern kann. Während des Gesprächs blät­tert sie immer wieder in ihrem roten Heft, vor allem Zahlen hält sie akri­bisch genau fest. (Foto: Natalia Widla)

Der ursprüng­liche Deal war, dass die Schlepper die Menschen­gruppe bis in die Sahara bringen, wo andere Schlepper bereits warten sollten, um sie weiter nach Libyen zu bringen. Doch die anderen Fahrer tauchten nicht auf, sie waren, wie Yodit später erfuhr, in einen Konflikt mit bewaff­neten Gruppen geraten. Die Gruppe wartete in der Wüste, zwei Wochen lang. Gepackt hatte Yodit für eine viel kürzere Reise. „In dieser Zeit spielte die Gewalt keine Rolle“, erzählt sie. „Wir hatten Hunger und Durst, es gab keinen Schatten und überall war nur Sand, sogar in unseren Augen und Lungen. Es war tags­über uner­träg­lich heiss und in der Nacht uner­träg­lich kalt.“ Die Fahrer hatten noch etwas Wasser, das sie spora­disch an die anderen weiter­reichten. Ein toter Mensch kann schliess­lich nicht mehr bezahlen. „Wenn ich das erzähle, dann kannst du es dir zwar vorstellen, aber nicht fühlen“, sagt Yodit. „Du hast ein Bild vor Augen, aber ich sehe eine Erin­ne­rung und ich spüre sie.“

Wir machen eine Gesprächs­pause, Yodit trinkt das Wasser­glas, das vor ihr steht, in einem Schluck leer. Ihre Hände zittern stark. „Das ist aber erst seit Libyen so“, sagt sie. „Sie zittern eigent­lich immer, egal worum es geht.“

Drei­zehn Frauen, zwei Tage. Zwei­tau­send Menschen. Drei Männer.

Nach rund zwei Wochen trafen die liby­schen Schlepper in der Wüste ein und verluden die Gruppe wiederum auf zwei Autos. Als sie durch die Wüste fuhren, tauchten aus dem Nichts bewaff­nete Gruppen auf. Wer das war, weiss Yodit nicht. Die Bewaff­neten schossen auf die zwei Fahr­zeuge und trafen eines davon, drei oder vier Personen, hier ist sich Yodit nicht sicher, wurden am Rücken verletzt und in der Wüste zurück­ge­lassen. Als sie in der Nähe von Misrata ankamen, war die Gruppe in Yodits Auto voll­ständig. In dem anderen fehlten viele Personen, Yodit weiss nicht, was mit ihnen passiert ist. Die Menschen wurden in einem Schwei­ne­stall unter­ge­bracht, wo sie die 1’600 Dollar über­geben mussten.

Hier bricht Yodits Rede­fluss ab, sie erin­nert sich nur noch bruch­stück­haft und bringt Zeit und Ort durch­ein­ander. Der Über­setzer muss immer wieder nachfragen.

Die Soldaten, von denen Yodit nicht mehr weiss, woher sie kamen, ob sie von Anfang an da waren und ob sie über­haupt Soldaten waren, versam­melten drei­zehn der Frauen, die ihre Schulden bereits bezahlt hatten, in einem abge­le­genen Haus nahe der Stal­lung und vergingen sich an einigen von ihnen. Zwei Tage lang blieb Yodit an diesem Ort, bevor die Frauen von den Soldaten auf einen Bus geladen und in ein Gefängnis gebracht wurden. „Ich bin nicht sicher, ob es ein rich­tiges Gefängnis war, so wie in der Schweiz. Aber es waren viel­leicht zwei­tau­send Menschen dort. Männer, Frauen, alle gemischt.“

Libyen und seine Part­ner­staaten reden von Flücht­lings­la­gern, Geflüch­tete und Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen vor Ort spre­chen hingegen von Gefäng­nissen mit prekär­sten Zuständen. (Symbol­bild CC: Freepik)

In dem Gefängnis gab es keine Toiletten und alles war voller Fäka­lien, das Wort spricht sie auf Deutsch aus. „Unsere Kleider waren verklebt, alles stank und alle waren krank.“ Einen der Wachen nannten die Insassen in Anleh­nung an den gleich­na­migen ameri­ka­ni­schen Profi-Wrestler „John Cena“. Er war gross, kräftig und schlug alle, Männer, Frauen, Kinder. „Er benutze Stöcke und Stühle und Eisen­stangen.“ Sexu­elle Gewalt war an der Tages­ord­nung. „Ich hatte Glück“, sagt Yodit, „ich war immer krank und dann liessen sie mich ein wenig in Ruhe, viel­leicht weil sie sich ekelten“. Immer hörte Yodit die Schreie der anderen Frauen und Mädchen. Yodit wollte sterben, sie betete jeden Abend darum, sagt sie.

Yodit stockt. Erst am Ende unseres über zwei­ein­halb­stün­digen Gesprächs, als der Über­setzer bereits gegangen ist, kommt Yodit an diesen Punkt in der Erzäh­lung zurück. „Ich kann nicht alles sagen vor ihm“, flüstert sie wie als Entschul­di­gung. „Einmal von drei, ohne Verhü­tung. Draussen auf der Strasse neben dem Gefängnis. Sie hielten eine Pistole an meinen Kopf.“

2’000 Dollar bis nach Italien

Ein Jour­na­list der BBC besuchte das Gefängnis, das in Wahr­heit ein liby­sches Flücht­lings­lager ist. Er redete mit den Frauen, brachte Yodit unter anderem Imodium und fieber­sen­kende Mittel und über­zeugte schliess­lich die Leitung, die kranken Personen an einen anderen Ort zu bringen.

Ein Menschen­händ­ler­ring fing die Gruppe während der Über­füh­rung ab, erschoss die Fahrer und verschleppte die Frauen. „Sie hatten die Strasse mit Stahl­seilen versperrt“, erzählt Yodit, „wir wussten nicht, was passiert“.  Eine Frau führte die Menschen­händ­ler­gruppe an, sie hatte eine Kalasch­nikow und bedrohte die Entführten damit. Wer 2’000 Dollar auf sich hatte, wurde von der Gruppe an den Hafen von Misrata gebracht und in ein Schlauch­boot gesetzt. Yodit konnte nicht bezahlen. Selbst wenn sie so viel Geld gehabt hätte, wäre es ihr im Gefängnis abge­nommen worden. Sie wurde mit einigen anderen in eine Hütte im Wald gebracht, aus den Fenstern sah man nur Bäume, erin­nert sie sich. Yodit wurde von den Menschen­händ­lern gefol­tert. Mit Strom, sagt sie, und macht mit den Fingern eine Bewe­gung, als würde sie Kabel in die Arte­rien an ihren Hand­ge­lenken einführen.

Yodit hat einen Onkel in Kanada. Dessen Nummer hatte sie auf einem Taschen­tuch nieder­ge­schrieben und versteckt. Die Menschen­händler kontak­tierten Yodits Onkel und er über­wies das Geld. Yodit wurde an den Hafen von Misrata gefahren und in ein über­la­denes Boot gesteckt. Yodit erin­nert sich, dass sie irgend­wann von einem zivilen Rettungs­schiff aufge­griffen wurden. Wie viele Tage sie auf dem Meer war, weiss sie nicht.

Andert­halb Jahre keinen Schlaf

Yodit wurde in ein italie­ni­sches Flücht­lings­camp gebracht, wo sie um medi­zi­ni­sche Versor­gung bettelte. Sie hatte Angst, dass sie in Libyen mit HIV ange­steckt worden war. Die medi­zi­ni­sche Hilfe wurde ihr verwehrt, man sagte ihr, so ein Test sei nicht üblich und ausserdem teuer. Yodit schaffte es nach Rom und von dort aus am 6. Juli 2015 in die Schweiz. Bei ihrem ersten Inter­view mit der Grenz­po­lizei in Biasca bat sie erneut um einen Arzt, dieses Mal wurde ihr der Wunsch erfüllt. Yodit hatte im Gegen­satz zu vielen anderen Frauen Glück. Sie hat sich nicht infiziert.

Heute lebt Yodit bei einer Familie in einem grossen Haus in der Region Zürich. Sie lernt Deutsch und sucht gerade eine neue Stelle. Von den Personen, die sie auf der Flucht kennen­lernte und mit denen sie den Kontakt aufrecht­erhalten hatte, konnte niemand in der Schweiz bleiben. „Ich weiss nicht, wo sie sind“, sagt Yodit, „die Face­book-Konten sind nicht mehr aktiv“. Ein Jahr und sechs Monate lang nahm Yodit in der Schweiz Schlaf­ta­bletten. Ihr wurde eine Thera­peutin in Wetzikon zuge­wiesen. In der Therapie hat sie vor allem viel gemalt, erzählt sie.

Ich frage Yodit, wie es ihr heute geht. „Ich schlafe wieder“, sagt sie, „manchmal“. Das Schlimmste, erzählt Yodit, sind nicht die Bilder, die sie in ihrem Kopf trägt, sondern die Vorstel­lung, dass tausende Frauen und Männer weiterhin in den liby­schen Gefäng­nissen festsitzen.

Herz­li­chen Dank an Mussie Y., der den ersten Teil des Gesprächs mit Yodit von Tigrinya ins Deut­sche über­setzt hat.


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