Unschuldig hinter Gittern

Ein Mann landet im Gefängnis, ohne zu wissen, warum. Nur mit Mühe und Glück gerät er an eine Anwältin, die ihn heraus­holt. Es ist kein Einzelfall. 
Einfach mal losschicken: Strafbefehle werden auch als "Testballons" bezeichnet. (Illustration: Anna Egli)

Am 9. Februar 2021 um ein Uhr nachts betritt Buku­rosh Snalla Zelle Nr. 1 im Gefängnis Bäss­lergut in Basel. Warum er hier ist, weiss er nicht. Vor wenigen Stunden noch sass er im Auto, auf dem Weg zu einem Treffen mit Verwandten. Dann plötz­lich: falsch abge­bogen, Grenz­wache, Befra­gung, Inhaf­tie­rung. Snalla hatte keine Anklage gesehen, stand vor keinem Gericht, konnte mit keiner Anwältin spre­chen. Alles, was er erfuhr: Seine Verur­tei­lung sei rechts­kräftig. Nun sitzt er fest. Insge­samt wird er 84 Tage im Gefängnis verbringen. 

Snallas Geschichte ist geprägt von unglück­li­chen Zufällen und beson­ders hartem Behör­den­vor­gehen. Denn am Ende bestä­tigt ein Gericht: Snalla ist unschuldig. Doch Snallas Geschichte ist kein Einzel­fall, sondern offen­bart ein über­la­stetes Straf­sy­stem, das insbe­son­dere Menschen ohne Schweizer Pass und ohne Wohn­sitz in der Schweiz benachteiligt.

Drei Jahre vor seiner Inhaf­tie­rung, am 12. Mai 2018, sitzt Snalla in einem Fern­rei­sebus. Er ist auf dem Weg von Hamburg nach Lyon. Snalla ist gelernter Maurer und Mitte zwanzig. Zehn Jahre zuvor verliess er sein Geburts­land Alba­nien und liess sich in Italien nieder. Nach ein paar Monaten auf Jobsuche in Deutsch­land möchte er dorthin zurück. 

Beim Auskund­schaften der Reise­route hat er ein Problem: Seitdem Snalla in der Schweiz mit dem Gesetz in Konflikt kam, darf er das Land nicht mehr betreten. Damals wurde er wegen Verstosses gegen das Auslän­der­ge­setz und eines Drogen­de­likts verur­teilt und des Landes verwiesen – so will es Artikel 66a des Straf­ge­setz­bu­ches, der nach Annahme der „Ausschaf­fungs­in­itia­tive“ von 2008 geschaffen wurde. 

Deswegen plant er an diesem Tag einen Umweg: In Frank­furt steigt Snalla auf den Bus in Rich­tung Lyon um, von dort will er weiter nach Italien und geht davon aus, die Schweiz so zu umfahren. Doch es kommt anders. Kurz nach 13 Uhr hält der Bus am Grenz­über­gang Weil am Rhein bei Basel an. Schweizer Grenzwächter*innen betreten das Fahr­zeug, nehmen die Ausweise der Reisenden mit ins Büro, tippen ihre Namen in ein Fahndungssystem. 

Auf dem Bild­schirm leuchtet ein Treffer auf: Snalla – Landes­ver­weis. Snalla versucht, den Irrtum aufzu­klären. Die Ticket­ver­käu­ferin habe ihm versi­chert, die Route führe nicht durch die Schweiz. Doch Snalla spricht nur italie­nisch und alba­nisch – die Grenzbeamt*innen verstehen ihn nicht. Sie sagen ihm: Wir machen nur unseren Job. Freund­lich seien sie gewesen, erin­nert sich Snalla. Sie verwei­gern ihm die Einreise. Snalla verlässt die Schweiz an diesem Tag zu Fuss. So erzählt er es heute und so ist es den Akten zu entnehmen. 

Noch am selben Tag verfassen die Grenzbeamt*innen eine Anzeige und senden diese an die Staats­an­walt­schaft Basel-Stadt: „Miss­ach­tung Landes­ver­weis“. Die Maschi­nerie der Justiz kommt nun in Gang. Am 29. Oktober 2018, gut fünf Monate später, schreibt ein Staats­an­walt in Basel einen Brief: „Die beschul­digte Person wird wie folgt bestraft: Frei­heits­strafe von 120 Tagen.“ Einen Tag später wird der Brief der Post übergeben. 

Wenig Zeit

Die Staats­an­walt­schaften in der Schweiz sind über­la­stet. Ein ordent­li­ches Verfahren kostet Zeit und Geld: Es müssen Beschul­digte und Zeug*innen befragt, Beweise gesam­melt und ein Gerichts­ver­fahren vorbe­reitet werden. Daher setzt die Schweiz auf das Verfahren per Straf­be­fehl. Hier ermit­teln die Staatsanwält*innen nur ober­fläch­lich und urteilen allein. Keine Rich­terin ist am schrift­li­chen Urteil betei­ligt. Beschul­digte werden nur in einigen Fällen befragt, bevor sie verur­teilt werden. Der Aufwand einer Verhand­lung wird auf einen einzigen einge­schrie­benen Brief verkürzt. 

Das ist ein Massen­ge­schäft: 92 Prozent aller Verfahren in der Schweiz werden auf diese Weise abge­wickelt. Allein im Kanton Basel-Stadt waren das im Jahr 2020 über 18 000 Straf­be­fehle. Meistens geht es um kleine Delikte, etwa Verkehrs­bussen. Bis zu einer Frei­heits­strafe von sechs Monaten ist es den Staats­an­walt­schaften erlaubt, so vorzu­gehen. Straf­be­fehle werden von Kritiker*innen aus der Forschung und der juri­sti­schen Praxis oft als „Test­bal­lone“ bezeichnet. Staatsanwält*innen würden sie leicht­fertig verschicken, ohne sich vertieft mit den Fällen zu befassen. Genauer schauten sie diese erst an, wenn es eine Einsprache gebe. 

Für die Einsprache haben Beschul­digte aber nur zehn Tage Zeit. Das kann proble­ma­tisch sein: Wer einen Straf­be­fehl beispiels­weise sprach­lich nicht versteht, kann womög­lich nicht so schnell reagieren. Und wer keine Hilfe von Jurist*innen hat, weiss nicht unbe­dingt, wie dabei vorzu­gehen ist. In einigen Fällen haben Beschul­digte gar nicht die Chance einer Einsprache, weil der Brief mit dem Straf­be­fehl sie nie erreicht. Genau das geschah Snalla.

Der Brief der Staats­an­walt­schaft Basel-Stadt flat­tert in einen Brief­ka­sten in Italien. Ein Onkel des Beschul­digten, bei dem er früher mal gewohnt hat, nimmt ihn entgegen, gibt Snalla aber nicht Bescheid. Die beiden haben keinen Kontakt mehr. Die Frist für die Einsprache verstreicht, Jahre bevor der Adressat selbst über­haupt erfährt, dass er verur­teilt wurde. Nach Ansicht der Staats­an­walt­schaft greift nun die soge­nannte Zustell­fik­tion: Obwohl nicht sicher ist, dass der Beschul­digte den Straf­be­fehl erhalten hat, wird er für rechts­kräftig erklärt. 

Drei Jahre später, am Tag seiner Fest­nahme im Februar 2021, sitzt Snalla mit Verwandten in einem Opel Corsa und rauscht über die fran­zö­si­sche Auto­bahn. Auf dem Weg in eine Stadt in Grenz­nähe zur Schweiz folgen sie dem Navi­ga­ti­ons­gerät. Plötz­lich taucht vor dem Wagen der Grenz­über­gang zur Schweiz auf. Snalla will, genau wie vor drei Jahren, nicht in die Schweiz einreisen. Hundert Meter vor dem Zoll­haus hält er auf dem Pannen­streifen an. Snalla steigt aus, winkt einen Zoll­be­amten zu sich, erklärt seine Situa­tion: Er dürfe die Schweiz nicht betreten, könne nun aber auf der Auto­bahn nicht mehr vor der Grenze wenden. Er wolle bei der nächst­mög­li­chen Gele­gen­heit umdrehen und zurück nach Frank­reich. Ob der Beamte ihm den Weg zeigen könne.

Der Beamte nimmt Snalla erst­einmal mit zur Befra­gung, durch­for­stet aber­mals die Fahn­dungs­sy­steme. Treffer: Gegen Snalla liegt ein rechts­kräf­tiges Urteil vor. 120 Tage Frei­heits­entzug, verhängt per Straf­be­fehl. Es handelt sich dabei um das schrift­liche Urteil, das die Staats­an­walt­schaft 2018 nach Snallas Reise im Fernbus nach Italien schickte, das dort niemals in Snallas Hände gelangte und in der Zwischen­zeit „voll­ziehbar“ wurde.

Snalla wird noch auf fran­zö­si­schem Boden verhaftet und nach Basel ins Gefängnis Bäss­lergut gebracht. Die Verfü­gung, die ihm ausge­hän­digt wird, versteht er nicht. Kein Wort ist über­setzt, auch nicht die Rechts­mit­tel­be­leh­rung. Dort steht: „Der Rekurs ist innert 10 Tagen nach Zustel­lung anzu­melden.“ Wäre Snalla Schweizer Bürger, würden die Behörden die Voll­streckung des Urteils höchst­wahr­schein­lich aufschieben und abwarten, ob er Beschwerde dagegen einge­legt. Er hätte dann Zeit, sich Unter­stüt­zung zu holen. In seinem Fall gehen sie aber von „Flucht­ge­fahr“ aus und setzen ihn umge­hend ins Gefängnis.

Die ersten fünf­zehn Tage muss Snalla wegen der Pandemie in Einzel­haft verbringen. „Ich habe nichts gegessen, nur Wasser und Tee getrunken“, erin­nert er sich. „Ich wusste über­haupt nicht, warum ich da war. Meine einzige Erklä­rung war: Das muss ein Fehler sein.“ Von den Mitar­bei­tenden im Gefängnis erfährt er nichts. Sie sagen nur: Das Urteil stehe fest, eine Anwältin könne jetzt nicht mehr helfen.

Wer in der Schweiz wegen einer Straftat verfolgt oder beschul­digt ist, kann sich kostenlos recht­lich beraten lassen und hat Anspruch auf recht­li­chen Beistand. Menschen, die sich bereits im Straf­vollzug befinden, steht dies nicht mehr zu. Seit
Jahren kriti­sieren Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen wie Humanrights.ch diesen Umstand. In Gefäng­nissen gibt es keine Rechts­be­ra­tung, nicht einmal eine Liste mit den Tele­fon­num­mern von Anwält*innen. Ab dem Moment, in dem Snalla in Zelle eins im Bäss­lergut gesetzt wird, ist juri­sti­sche Bera­tung für ihn beinahe unerreichbar.

Viele Briefe

Formell hat Snalla ab dem Zeit­punkt seiner Verhaf­tung zehn Tage Zeit, Beschwerde einzu­legen. Gemeinsam mit einem Mitge­fan­genen verfasst er einen Brief. In sorg­fäl­tiger Hand­schrift schreibt dieser auf einen Notiz­block: „Ich bitte Sie um Aufklä­rung (wenn möglich auf Italie­nisch) und eine Rück­mel­dung.“ Er versi­chert,
eine noch hängige Busse zu bezahlen, in der Hoff­nung, so eher freizukommen.

Der Brief landet auf dem Schreib­tisch einer Mitar­bei­terin des Amts für Justiz­vollzug Basel-Stadt. Hätte sie erkannt, dass Snalla gar nicht weiss, warum er im Gefängnis sitzt, hätte sie die Ange­le­gen­heit von Amtes wegen prüfen und einschreiten können. Sie hätte auch die Möglich­keit gehabt, das Schreiben als Einsprache an die Staats­an­walt­schaft oder als Beschwerde an das Appel­la­ti­ons­ge­richt weiter­zu­leiten. Doch die Beamtin sieht in diesem in gebro­chenem Deutsch formu­lierten Text keinen Hilferuf und kommt auch der Bitte nach einer Über­set­zung nicht nach. Zudem ist die Frist bereits abgelaufen. 

Auf Deutsch antwortet sie ledig­lich: Eine Geld­über­wei­sung kann die Strafe nicht tilgen. Snalla startet drei Wochen später einen zweiten Versuch. Ein Bekannter seiner Familie, der juri­sti­sche Kennt­nisse hat, verfasst ein fran­zö­si­sches Beschwer­de­schreiben, indem er erneut darum bittet, ihn aus der Gefan­gen­schaft zu entlassen. „Insge­samt schrieb ich vier oder fünf Briefe“, sagt er. Ein Mitge­fan­gener gibt Snalla schliess­lich die Tele­fon­nummer von Angela Agostino-Passe­rini. Als die Anwältin Snalla im Gefängnis besucht, sieht der zum ersten Mal den Straf­be­fehl, den die Staats­an­walt­schaft drei Jahre zuvor im Oktober 2018 verfasst hat. Zu diesem Zeit­punkt sitzt Snalla bereits seit 74 Tagen im Gefängnis.

Es ist Agostino-Passerinis dritter Fall inner­halb weniger Monate, bei dem eine Person inhaf­tiert wurde, ohne den Straf­be­fehl je gesehen zu haben. Die Juri­stin bean­tragt beim Verwal­tungs­ge­richt umge­hend Snallas Entlas­sung aus dem Gefängnis. Ihre Begrün­dung: Snalla habe die Rechts­be­leh­rung in deut­scher Sprache nicht verstanden und daher nicht inner­halb der Frist Rekurs gegen die Inhaf­tie­rung einlegen können. Der Antrag wird abge­wiesen, Snalla bleibt im Gefängnis. Das Verwal­tungs­ge­richt führt in seiner Begrün­dung aus: „Wenn der Rekur­rent geltend macht, den ange­foch­tenen Entscheid nicht verstanden zu haben, so kann ihm dies nicht helfen.“

Diesen Entscheid zieht Agostino-Passe­rini weiter ans Bundes­ge­richt, wo bis heute ein Verfahren hängig ist. „Ich bin über­zeugt, dass dieses Urteil Menschen­recht verletzt“, sagt sie. Später erfährt die Anwältin via Jurist*innen von ähnli­chen Geschichten in Bern und Lausanne. „Ich gehe davon aus, dass die Dunkel­ziffer derer, die zu Unrecht per Straf­be­fehl verur­teilt werden und im Gefängnis sitzen, hoch ist.“

Agostino erhebt bei der Staats­an­walt­schaft auch Einsprache gegen das Urteil im Straf­be­fehl. Sie ist über­zeugt: Snalla ist unschuldig. Er wollte die Schweiz damals im Februar 2018 gar nicht betreten, hat sogar alles dafür getan, seinen Landes­ver­weis zu respek­tieren. Diese Einsprache kommt durch: Die Staats­an­walt­schaft entlässt ihn im Mai 2021 auf der Stelle – wenige Tage bevor er sowieso auf Bewäh­rung entlassen worden wäre.

Vor dem Straf­ge­richt kommt es nun doch noch zu einer Einspra­che­ver­hand­lung. Snalla ist längst zurück in Italien, er nimmt per Video­über­tra­gung teil. Das Straf­ge­richt urteilt: Snalla ist unschuldig. Ihm wird eine Genug­tuung in Höhe von 21’000 Franken für den unrecht­mäs­sigen Gefäng­nis­auf­ent­halt zuge­spro­chen und er wird von allen Anklagen freigesprochen. 

Die Zeit im Gefängnis bela­stet Snalla bis heute. Im Video­call – inzwi­schen ist seit seiner Verhaf­tung ein Jahr vergangen – sitzt er in einer Wohnung in Italien, an der Decke im Hinter­grund dreht ein Venti­lator. Er sagt: „Die Erfah­rung, einge­sperrt zu sein, ohne zu wissen warum, gehört zu den dunkel­sten Episoden in meinem Leben.“

Dieser Text erschien zuerst im Magazin Surprise (520/22).

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