„Unsere Regie­rung verhält sich psychopathisch“

Doro­thee Wilhelm ist Psycho­the­ra­peutin und leistet unter­stüt­zende Arbeit in Moria. Im Inter­view mit das Lamm spricht sie über die Vorgänge nach dem Brand, Self-Care inmitten der Dystopie – und erzählt, dass sie die Brand­stif­tung versteht. 

Das Lamm: Du warst in der Zeit während und nach dem Brand in Moria vor Ort, um psycho­lo­gi­sche Arbeit zu leisten. Wie kam es dazu? 

Doro­thee Wilhelm: Seit es Moria gibt, möchte ich etwas tun. Aber ich bin Roll­stuhl­fah­rerin und wollte nicht im Weg stehen. Im Februar konnte ich dann verein­baren, von September an für mehrere NGOs psycho­lo­gi­schen Trai­nings anzubieten.

Auch hier in Zürich arbeite ich als Psycho­the­ra­peutin – und habe öfter mit Geflüch­teten und Helfenden zu tun, mit deren Ohnmachts­ge­fühlen wir uns gemeinsam auseinandersetzen.

Was sind das für psycho­lo­gi­sche Trainings? 

Einer­seits trai­niere ich Helfende darin, wie man mit trau­ma­ti­sierten Menschen umgeht. Dazu kläre ich mit ihnen, dass keines­wegs alle Geflüch­teten trau­ma­ti­siert sind, und erar­beite mit ihnen, was eine Trau­ma­ti­sie­rung ist. Dann behan­deln wir, was ein ange­mes­sener Umgang mit trau­ma­ti­sierten Menschen auf Frei­wil­li­gen­ebene sein kann.

Ande­rer­seits schule ich sie in Selbst­für­sorge, also in „Self-Care“. So leiste ich psycho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung für die Frei­wil­ligen, die dann wiederum die Geflüch­teten unterstützen.

Ist „Self-Carein einer solchen Situa­tion überhaupt möglich?

Wenn es nicht möglich ist, dann machst du diese Arbeit nicht lange. Selbst­für­sorge bedeutet, dass du dich selbst dafür lobst, was du machst und beiträgst. Denn es passiert gerade in einer solchen Situa­tion schnell, dass du in Verzweif­lung fällst, weil du so wenig tun kannst.

Um selbst eine nach­hal­ti­gere Ressource zu sein, musst du gut auf dich selbst achten. Wenn du dich ins Feuer stürzt, bist du schnell verbrannt. Es ist wichtig, dass die Frei­wil­ligen diese Hilfe länger­fri­stig leisten können.

Wie gross ist das Thema Frustration? 

Sehr gross. Nach dem Brand ist eine grosse Konfu­sion ausge­bro­chen. Auch die NGOs sind zu einem grossen Teil hand­lungs­un­fähig. Die Strasse von Moria wurde auf der Stelle von Militär und Polizei gesperrt.

Nach ein paar Tagen war es für die NGOs wieder möglich, Essen zu verteilen – welches das Militär bereit­ge­stellt hat. Und das ist eigent­lich ein Skandal. Eigent­lich wäre es die Aufgabe der Regie­rung, diese Grund­ver­sor­gung sicherzustellen.

Die NGOs waren über­for­dert, als ihre Frei­wil­ligen Essen an 13’000 hung­rige Menschen verteilten. Sie hätten Poli­zei­schutz gebraucht; manchmal brachen Schlä­ge­reien aus, in denen sich Geflüch­tete hätten verletzen können. Einmal mussten sich die NGOs mit dem Essen wieder zurück­ziehen. Das war unglaub­lich frustrierend.

Wie war denn die Situa­tion auf Lesbos in der Woche nach dem Brand?

Fami­lien und allein­rei­sende Frauen wurden dazu gedrängt, ins Camp zu gehen. Wenn nicht, wurden sie ille­ga­li­siert. Es bestä­tigte sich das Gerücht, dass die Asyl­ver­fahren nur dann weiter­ver­folgt werden, wenn die Gesuch­stel­lenden sich im neuen Camp niederlassen.

Tatsäch­lich wäre das völker­rechts­widrig. Auf einen Asyl­an­trag muss ein Verfahren erfolgen. Aber „völker­rechts­widrig“ ist kein Wort, das hier irgend­etwas blockiert.

Am Tag darauf wurden die allein­rei­senden Männer in das Camp genö­tigt, das zuvor blitz­artig um viele Zelte erwei­tert worden war. Trotzdem stehen die Zelte viel zu nah beiein­ander, und in den Zelten gibt es keine Infra­struktur. Corona-Mass­nahmen? Vergiss es.

Wie reagieren die NGOs? 

Sie stehen jetzt vor einem, wie ich finde, nicht lösbaren Dilemma.

Wenn sie in das neu ausge­baute Camp gehen, werden sie Handlanger*innen des Mili­tärs. Sie haben dann nicht viele andere Möglich­keiten, als einfach nur Befehle auszu­führen. Es gibt NGOs, die sich dem verwei­gern, habe ich gehört.

Die Entschei­dung ist so schwierig, weil man eigent­lich nicht verant­worten kann, dass unter dem Deck­mantel der Sofort­hilfe jetzt mögli­cher­weise Moria 2.0 errichtet wird.

Ande­rer­seits verstehe ich NGOs gut, die mit Blick auf die Geflüch­teten im neuen Camp sagen: Besser, wir begleiten sie, als das Militär.

Und wie verhält sich die lokale Bevölkerung?

Die regio­nale Bevöl­ke­rung ist keines­wegs nur feind­selig gegen­über den Geflüch­teten. Immer noch kommen regel­mässig Einhei­mi­sche und bringen Essen. Vor ein paar Tagen gab es auf dem Haupt­platz von Myti­lini eine Demon­stra­tion für das Recht der Geflüch­teten, sich frei auf der Insel, dem grie­chi­schen Fest­land und in Europa bewegen zu dürfen. Mehr als 500 Personen haben daran teilgenommen.

Bei vielen Leuten ist die Stim­mung aller­dings gekippt. 2015 waren die meisten Bewohner*innen von Lesbos gast­freund­lich, haben unter­stützt und geholfen, wo sie konnten.

Aber fünf Jahre der Über­for­de­rung haben ihre Spuren hinter­lassen; die meisten Leute werden zur schlech­te­sten Version ihrer selbst, wenn sie lange genug über­for­dert sind.

Was ist denn das erklärte Ziel der Regie­rung mit dem neuen Lager? 

Die Regie­rung behauptet jeden Tag etwas anderes. Einmal hiess es: Geht da rein und dann wird der Transfer aufs Fest­land geplant. Ein andermal: Geht da rein, es ist nur vorläufig. Dann: Geht da rein, bis zum Winter werden stabile Unter­künfte geschaffen. Und zuletzt: Bis Februar werden stabile Unter­künfte geschaffen.

Meiner Einschät­zung nach werden die Menschen den Winter in diesem Lager verbringen. Die 13’000 Menschen – tatsäch­lich weiss niemand genau, wie viele Leute im alten Moria waren – werden auf noch weniger Fläche zusammengedrängt.

Wie reagieren die betrof­fenen Menschen? 

Bis jetzt [eine Woche nach dem Brand, Anm. d. Redak­tion] gab es jeden Tag seit dem Brand Proteste. Mehr­fach pro Tag inter­ve­nierten Militär und Polizei mit Tränengas, sobald sich kleine Ansamm­lungen gebildet hatten.

Auch unter den Geflüch­teten gibt es Zwischen­fälle. Manche wollen Druck ausüben, um aufs Fest­land gebracht zu werden, und sind deshalb jetzt in Hunger­streik getreten. Einige von ihnen haben versucht, andere daran zu hindern, sich Essen zu holen oder ins Camp zu gehen.

Wie beur­teilst du die Situa­tion aus psycho­lo­gi­scher Sicht? 

Der Einsatz von Tränengas bringt mich extrem auf. Zwar sind nicht alle Geflüch­teten trau­ma­ti­siert, manche haben eine erstaun­liche Resi­lienz. Doch gibt es sehr viele Traumatisierte.

Das Erste, was du brauchst, wenn du eine trau­ma­ti­sche Situa­tion erlebt hast, ist körper­liche Sicher­heit. Auch um damit aufzu­hören, Cortisol auszu­schütten, welches das Hirn beschä­digt und eine Trau­ma­fol­ge­stö­rung erzeugen kann.

Es braucht also Schutz, Wärme und eine Person, die gebets­müh­len­artig sagt: Es ist vorbei, im Moment bist du in Sicher­heit. Das gehört auch zu den Inhalten, die ich vermittle.

Angriffe mit Tränengas sind das pure Gegen­teil. Wenn du vorher noch nicht trau­ma­ti­siert warst, dann ist es sehr viel wahr­schein­li­cher, dass du es danach bist: Du erlebst körper­li­chen Schmerz und wirst mit Tränengas ange­griffen, ohne dass du etwas getan hast.

Das ist ein erneuter Kontroll­ver­lust. Du bist erneut ausgeliefert.

Was hältst du von der Bericht­erstat­tung über Moria?

Was mich vor allem stört, ist diese Kommu­ni­ka­tion darüber, dass die Geflüch­teten die Brände selbst gelegt haben. „Selber schuld also“, ist klar. Erstens werden da wieder 13’000 oder mehr Menschen als eine Einheit zusam­men­ge­fasst, zudem mangelt es voll­kommen am Verständnis für das Ausmass der Verzweif­lung und Verelen­dung dort.

Ich selber verstehe die Leute, die die Brände gelegt haben – weil diese Verelen­dung nicht auszu­halten ist. Hier wird ja unter Bedin­gungen gelebt, die es sonst in Europa so nicht mehr gibt.

Das sind mittel­al­ter­liche Zustände. Im alten Lager teilten sich 1’300 Leute eine einzige Wasser­stelle. Das nur als ein Beispiel. Hinzu kommt Corona. Moria war seit März nonstop im Lock­down – unter unfassbar prekären Bedingungen.

Ande­rer­seits war es natür­lich grosses Glück, dass bei diesem Brand niemand zu Schaden gekommen ist. Wenn du so ein Camp anzün­dest, sperrst du auch Flucht­wege ab und riskierst, dass Kinder, Ältere oder Schwä­chere umkommen.

Vor allem aber bin ich wütend. Auf unsere Regie­rung. Deutsch­land hat 2015 1.4 Millionen Geflüch­tete aufge­nommen. Das Land steht noch. Die Schweiz hätte im Vergleich also 140’000 Menschen aufnehmen können. Zwanzig Kinder sind ein Witz.

Weigert sich die offi­zi­elle Schweiz, Verant­wor­tung zu übernehmen?

Die Schweizer Regie­rung verhält sich völlig unem­pa­thisch. Ein Mensch lernt schon in seinen ersten Lebens­jahren, empa­thisch zu sein. Schon ein Klein­kind ab 14 Monaten kann andere trösten und bietet seine Hilfe an.

Empa­thie ist gesund und völlig normal. Die Defi­ni­tion von Psycho­pa­thie ist es, kein Gewissen zu haben und keine soziale Verant­wor­tung oder Empa­thie zu empfinden.

Die Regie­rung verhält sich also psychopathisch.

Wie kann das sein?

Viele Menschen, auch Politiker*innen, halten es für erwachsen und rational, sich fremd zu stellen. Sie machen einen Unter­schied zwischen dem, was für sie selbst und ihre Kinder ange­messen wäre, und was für die Menschen hier in Moria gilt.

Nach dem Motto: Wir sind privi­le­giert, weil uns das auch zusteht. Die anderen haben hingegen etwas falsch gemacht – und sind daher selber schuld.

Unsere Regie­rung denkt anschei­nend, es sei ihr Job, sich ledig­lich für die Menschen­rechte von Menschen mit Schweizer Pass zu enga­gieren. Aber so steht das nicht in der Bundes­ver­fas­sung. Dort steht „alle Menschen“, nicht „alle Schweizer“.

 


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