Wenn gesunde Ernäh­rung krank macht

„An apple a day keeps the doctor away“, besagt eine einschlä­gige angel­säch­si­sche Rede­wen­dung. Doch was, wenn bestimmte Lebens­mittel plötz­lich den gesamten Spei­se­plan diktieren, während andere strikt daraus verbannt werden? 

„An apple a day keeps the doctor away“, besagt eine einschlä­gige angel­säch­si­sche Rede­wen­dung. Doch was, wenn bestimmte Lebens­mittel plötz­lich den gesamten Spei­se­plan diktieren, während andere strikt daraus verbannt werden? Wenn der Genuss verun­mög­licht und nur noch das gegessen wird, ja gar gegessen werden kann, was nach eigenem Ermessen als gesund gilt, dann spricht man von einer Krank­heit, für die sich ein eigen­stän­diger Name etabliert hat: Orthor­exia nervosa. Das klingt nicht zufällig wie Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa. Alle drei beschreiben Essstö­rungen, also psychi­sche Erkran­kungen, bei denen eine exzes­sive Beschäf­ti­gung mit dem eigenen Körper und der Nahrungs­auf­nahme zum Lebens­mit­tel­punkt wird. Orthor­exie, vom grie­chi­schen Wort für ‚richtig‘ abge­leitet, stellt in dieser Drei­er­nen­nung die deut­lich jüngste Bezeich­nung dar.

Die Eintei­lung als eigen­stän­dige Krank­heit ist in medi­zi­ni­schen Kreisen jedoch nicht unum­stritten. Einige Psych­ia­te­rInnen ordnen Orthor­exie als bisher wenig erforschten Ausdruck einer Neurose ein, andere klas­si­fi­zieren sie als Subgruppe der Anorexie. Sobald eine ortho­rek­ti­sche Erkran­kung mit Unter­ge­wicht einher­geht, liegt eine Anorexie vor. Häufig kommt dann auch eine körper­dis­morphe Störung hinzu. Das bedeutet, dass der physi­sche Körper nicht mit dem Körper­bild der Betrof­fenen über­ein­stimmt. Orthor­exie kann zu Unter­ge­wicht und Körper­dis­mor­phie führen oder damit einher­gehen, genauso aber auch bei normal­ge­wich­tigen Personen auftreten.

Das Fehlen einer klaren Abgren­zung von Orthor­exie zu anderen Essstö­rungen hat auch damit zu tun, dass die Krank­heit in der psych­ia­tri­schen Commu­nity begriff­lich noch nicht fixiert ist: „Orthor­exie ist ein geläu­figer Begriff, jedoch verwenden wir ihn am Unispital Zürich nicht, da es noch keine offi­zi­elle Klas­si­fi­ka­tion gemäss dem ICD-10, dem inter­na­tio­nalen, stati­sti­schen Klas­si­fi­ka­ti­ons­sy­stem für medi­zi­ni­sche Diagnosen, gibt. Es kommen aber viele Pati­en­tInnen zu uns, die eigen­dia­gno­stisch dieses Label wählen“, erzählt Beatrice Büttner, die als Psycho­login am Zentrum für Essstö­rungen der Univer­si­täts­klinik Zürich (USZ) tätig ist. Unge­achtet ihrer Abwe­sen­heit im ICD-10 ist Orthor­exie aus Sicht der Pati­en­tInnen also sehr wohl real.

Zahlen dazu, wie viele Personen von Orthor­exie betroffen sind, gibt es aber keine. Nicht einmal in einem kleinen Rahmen wie dem Pati­en­tIn­nen­spek­trum des Zentrums für Essstö­rungen in Zürich können saubere Schät­zungen vorge­nommen werden. Das hängt natür­lich mit dem Problem der medi­zi­ni­schen Abgren­zung zusammen: „Es gibt diverse Zwangs­stö­rungen wo die Orthor­exie mit rein­spielt, es ist ein sehr komplexer Bereich. Erbre­chen und Bingen gibt es genauso in der Orthor­exie, wie in anderen Essstö­rungen,“ sagt Beatrice Büttner.

Lebens­mittel im Kreuzfeuer

‚Gesund’ ist ein Kampf­be­griff. Die Lebens­mit­tel­pro­du­zen­tInnen ringen um das Ober­wasser auf dem Markt, die Konsu­men­tInnen sind dementspre­chend perma­nent wider­sprüch­li­chen Infor­ma­tionen ausge­lie­fert. Was die einen ‚unge­sund’ schimpfen, ist für die anderen eine Lebens­phi­lo­so­phie und umge­kehrt. Vor diesem Hinter­grund ist es nur zu verständ­lich, dass Betrof­fene ihre eigenen Stan­dards setzen: „‚Gesund‘ ist für Orthor­exie-Pati­en­tInnen eine Eigen­de­fi­ni­tion“, hält Beatrice Büttner fest. „Nicht alle Menschen mit dieser Krank­heit verstehen dasselbe darunter“. Gegen­tei­lige Infor­ma­tionen von Gesund­heits­exper­tInnen sind Orhor­e­xie­pa­ten­tInnen egal. Sie verhan­deln ihr Konzept von ‚gesund‘ nicht mit Aussen­ste­henden, höch­stens mit sich selbst, jeden Tag aufs Neue.

Vom erbit­terten Kampf um den begriff­li­chen Wolken­pa­last ‚gesund‘ kann auch die leitende Ernäh­rungs­be­ra­te­rin/-thera­peutin des USZ, Susanne Nicca, ein Lied singen: „Oft wird bei ortho­rek­ti­schen Pati­en­tinnen der Begriff von ‚gesund‘ komplett auf einzelne Lebens­mittel herun­ter­ge­bro­chen. Eine Person liest zum Beispiel etwas über die gesund­heits­för­dernden Effekte von OMEGA 3 und denkt sich: ‚Ah, das gibt es in Walnüssen, jetzt muss ich jeden Tag minde­stens eine halbe Packung Walnüsse essen, um gesund zu sein.‘“ Das klingt absurd, macht für Betrof­fene aber durchaus Sinn. Gemäss derselben Logik werden andere Lebens­mittel über den Teller­rand gestossen und als gesund­heit­liche No-Gos stigmatisiert

Bei OrthorexiepatientInnen wird der Begriff "gesund" auf einzelne Lebensmittel heruntergebrochen. Genuss hat hier keinen Platz mehr. (CC by Cowbell Solo)
Bei Orthor­e­xie­pa­ti­en­tInnen wird der Begriff „gesund“ auf einzelne Lebens­mittel herun­ter­ge­bro­chen. Genuss hat hier keinen Platz mehr. (CC by Cowbell Solo)

Nun leben wir in einer Zeit, in der gefühlt jedeR Zweite eine Unver­träg­lich­keit hat – aus gesund­heit­li­chen, ethi­schen oder ander­wei­tigen Gründen auf gewisse Lebens­mittel verzichtet, an der Biki­ni­figur arbeitet oder eine bessere Haut will. Dabei sind die Grenzen zwischen Lebens­stil, Diät­phase und Orthor­exie schwierig festzumachen.

Um eine Orthor­exie zu diagno­sti­zieren, bedarf es neben dem Einkaufs­korb deshalb weiterer Indi­zien: Sozialer Rückzug, Isola­tion und häufige Ausflüchte aus Essen invol­vie­renden Situa­tionen nennen sowohl Büttner als auch Nicca als klare Anzei­chen dafür, dass der Zugang zur Ernäh­rung ins Patho­lo­gi­sche kippt: „Man meldet sich ab, kommt lieber gar nicht erst an einen Apéro, als Gefahr zu laufen, dort etwas Falsches zu essen“, sagt Beatrice Büttner. „Es werden aktiv Ausreden gesucht, da die Pati­enten durchaus merken, dass da was nicht in Ordnung ist. Aber dies offen auszu­spre­chen, käme einem Outing gleich.“ Das Leben wird verkom­pli­ziert, Spon­ta­neität geht verloren, Ernäh­rung hat für Betrof­fene neben dem fehlenden Genuss auch keine soziale Kompo­nente mehr: In einer Mensa essen? „Unmög­lich! Da weiss man ja nicht, mit welchem Öl gekocht wurde“, resü­miert Susanne Nicca pointiert.

Sünden­bock vegane super-skinny-Bloggerinnen

Glaubt man den meisten Arti­keln, die durchs Web schwirren, sind die Schul­digen schnell gefunden: Neben den teil­weise aggres­siven Expan­sions- und Werbe­tech­niken gesunder Nahrungs­mit­tel­firmen sind es insbe­son­dere die durch­trai­nierten Bros ohne jegli­ches Bauch­fett auf Insta­gram, Germany’s Next Topmodel und vegane super-skinny Blog­ge­rinnen, die alle­samt zu mehr Gesund­heit und mehr Körper­kon­trolle animieren. „Der Life­style solcher Influen­ce­rInnen erscheint für einige Menschen extrem benei­dens­wert. Wenn einer nach eigenen Angaben gesund isst und dann so ein Leben hat, dann ergibt sich beim Betrachter eine Kausa­lität“, so Büttner. Die Ernäh­rung wird zur magi­schen Leiter in ein erstre­bens­wertes Leben.

Hier mahnend den Finger drauf­zu­legen, wäre aber naiv. „Natür­lich gibt es Trigger, aber damit es zu einer Krank­heit kommt, sind charak­ter­liche Prädis­po­si­tionen notwendig, wie etwa ein ausge­prägter Perfek­tio­nismus“, so Büttner.  Menschen mit Essstö­rungen gehören immer auch in psycho­lo­gi­sche oder psych­ia­tri­sche Behand­lung. „Nur die Ernäh­rung anzu­schauen, sich von Social Media abzu­melden und Distanz zu schaffen, bringt meist wenig.“ Die Psycho­login fragt ihre Pati­en­tInnen deshalb meist: „Was über­deckst du und wie könnte man das auch anders lösen? Denn wenn nur die Ernäh­rung umge­stellt wird, kommt das zugrun­de­lie­gende Problem irgend­wann wieder an die Ober­fläche – in der glei­chen oder in anderer Form.“

Genauso wie die Schuld­frage ist auch der rest­liche Kanon um den gesunden Zwang namens Orthor­exie von Vorur­teilen geprägt. Die meisten betreffen das Geschlecht. Vor allem junge Frauen, so das gängige Narrativ, neigen zur Selbst­ka­steiung in der Küche. Beatrice Büttner rela­ti­viert: „Bei Männern ist eine Orthor­exie oder Anorexie tenden­ziell etwas versteckter oder drückt sich verstärkt über Sport aus. Ausserdem sind die Zahlen verzerrt, denn Männer kommen immer noch deut­lich weniger in die Therapie.“ Dennoch verzeichnet sich auch hier eine Zunahme. Ob diese auf mehr Präva­lenz oder mehr Präsenz zurück­zu­führen ist, ist schwer zu beantworten.

Aber nicht nur der Gender-Bias haftet der Krank­heit an. Auch die Vermu­tung, Orthor­exie sei erst kürz­lich aufge­kommen, ist falsch. „Die Sympto­matik wurde in den letzten vier, fünf Jahren zuneh­mend publik, neu ist aber nichts daran ausser der Begriff“, so Büttner. Orthor­exie ist in ihrer Sympto­matik ein alter Hut, aber genauso wie es die Anorexie und die Bulimie vor ihr taten, bahnt sich nun auch die Orthor­exie langsam ihren Weg in die öffent­liche Wahr­neh­mung. Es scheint wie Aktion und Reak­tion: Mit der zuneh­menden Promi­nenz der Ernäh­rungs- und Gesund­heits­the­matik ist in den letzten Jahren auch die Sensi­bi­lität für deren Schat­ten­seiten gestiegen.

Mit Mass­lo­sig­keit gegen Haltlosigkeit

Wie die Orthor­exie beim Indi­vi­duum entsteht, woraus sie sich in der Gesell­schaft speist, ist also gar nicht so einfach zu klären. Wenn man durch die Gänge diverser grös­serer und klei­nerer Super­markt­ketten schlen­dert, wo eine gesunde Inno­va­tion die nächste jagt, drängt sich aller­dings ein Erklä­rungs­ver­such auf: Zwang­haft gesund sein zu wollen – ist das nicht das Wohl­stands­pro­blem über­haupt? Beatrice Büttner und Susanne Nicca kennen diese Plat­ti­tüde. Nicca winkt ab: „Wohl­stand­krank­heit würde ich nicht sagen. Orthor­exie hat nichts mit Wohl­stand zu tun, nur mit Halt­lo­sig­keit.“ Früher, so die Ernäh­rungs­be­ra­terin, wusste man, dass man drei Mal am Tag isst, am Tisch und oft in Gesell­schaft. Heute fallen diese Struk­turen für viele Menschen aufgrund äusserer Umstände, sei es am Arbeits­platz oder in der Ausbil­dung, weg. Wo ein äusseres Regel­werk fehlt, wird ein eigenes geschaffen. Susanne Nicca bevor­zugt deswegen Über­for­de­rung statt Wohl­stand, denn die Über­for­de­rung muss nicht einmal mit Essen zu tun haben, um darin Ausdruck zu finden: „Viele äussere Faktoren liegen nicht im Einfluss­be­reich der Betrof­fenen. Die eigene Ernäh­rung jedoch schon, hier kann Kontrolle ausgeübt werden.“

Orthor­exie ist also in gewisser Form, und sei es auch nur durch die Schaf­fung eines eigenen Begriffs dafür, ein Ausdruck gesell­schaft­li­chen Wandels. Doch die Auswüchse dieser Krank­heit deswegen irgend­wel­chen öffent­li­chen Akteu­rInnen und deren gesund­heits­ge­färbten Lohn­bü­chern in die Schuhe zu schieben, würde zu kurz greifen. In einer komplexen Lebens­rea­lität durch das eigene Essver­halten Ordnung zu schaffen und Sicher­heit zu gene­rieren, das klingt weniger kurz­sichtig als die Idee, Essstö­rungen leiteten sich in erster Linie von falschen Vorbil­dern ab. Gegen­seitig ausschlies­send sind die beiden Ansätze jedoch nicht.


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