„Wenn man sagt: ‚Diese Leute wären sowieso gestorben‘, finde ich das furchtbar.“

Mehr Wert­schät­zung und ein gesell­schaft­li­ches Umdenken zu den Themen Tod und Sterben, bitte! Eine diplo­mierte Pfle­ge­fach­frau erzählt aus ihrem Corona-Alltag. 
(Foto: Waldemar Brandt / unsplash)

Die Corona-Krise reisst nicht ab, das war zu erwarten. Darum gebe ich auch diesen Monat meinen Kolum­nen­platz an jemanden ab, der direkt an der Front arbeitet. Letzten Monat hat Ivona Brdja­novic in ihrem Essay „Während ihr klatscht“ über Schein­hei­lig­keit und Unge­rech­tig­keiten geschrieben. Diesen Monat gibt’s die Geschichte von Sofia*: Sie ist 28 und eine liebe Bekannte von mir. Sofia hat mir in einer Sprach­nach­richt von ihrem Alltag als diplo­mierte Pfle­ge­fach­frau erzählt.

„Ich habe vor fünf Jahren das Studium an der ZHAW in Winter­thur abge­schlossen und arbeite seit vier­ein­halb Jahren als diplo­mierte Pfle­ge­fach­frau. Zuerst in Zürich auf einer onko­lo­gi­schen Abtei­lung für Erwach­sene und seit etwa drei­ein­halb Jahren in einer Krebs­klinik für Kinder. Im April habe ich auf einer erwei­terten Corona-Inten­siv­sta­tion in unserem Spital gear­beitet. Dort habe ich sehr viel Neues gelernt, einen Zugang zur Welt der Inten­siv­me­dizin erhalten und in einem inter­dis­zi­pli­nären Team gear­beitet – also mit Leuten aus der Inten­siv­me­dizin, aus der Anäs­the­sie­pflege und Pfle­ge­fach­per­sonal aus anderen Abtei­lungen. Das hat mir viel Spass gemacht und die Zusam­men­ar­beit lief sehr gut, auch wenn sie noch immer eine alltäg­liche Heraus­for­de­rung ist.

Auf der Inten­siv­sta­tion selber habe ich vor allem in der soge­nannten ’sauberen Zone‘ gear­beitet, also nicht direkt mit COVID-Patient*innen. Wir haben Medi­ka­mente und Mate­rial vorbe­reitet. Dadurch müssen die Pfleger*innen, die direkten Kontakt mit den COVID-Patient*innen haben, nicht jedes Mal den Schutz­anzug abziehen, wenn sie neues Mate­rial benö­tigen. So wird versucht, die Konta­mi­na­tion in den Spitä­lern so klein wie möglich zu halten.

In unseren Insti­tu­tionen wurde sehr früh viel Personal aufge­stockt: Der Aufwach­raum wurde in eine Inten­siv­sta­tion umge­wan­delt, und für die Bewäl­ti­gung des drohenden Patient*innenansturms wurde Personal von anderen Stationen rekru­tiert. Das fand ich sehr positiv, schliess­lich hatte ich die Szenen aus Italien und dem Tessin noch im Hinter­kopf: über­rannte Notfall­sta­tionen, Patient*innen, denen das Pfle­ge­per­sonal nicht mehr gerecht werden konnte und die ihnen unter den Händen wegstarben. Das war bei uns zum Glück wirk­lich nicht der Fall und dafür bin ich dankbar.

Ich musste nicht auf die Corona-Inten­siv­sta­tion wech­seln, ich hätte auch ablehnen können. Meine Chefs waren dies­be­züg­lich sehr zuvor­kom­mend. Für mich war dieser Einsatz aber selbst­ver­ständ­lich. Nicht einmal für das Spital als Insti­tu­tion, sondern für die Bevöl­ke­rung und die Patient*innen. Für sie möchte ich – gerade in einer Krise – da sein. Gerade jetzt möchte ich dafür sorgen können, dass das System erhalten bleibt und funk­tio­niert. Uns wurde immer wieder gesagt, dass das Care-Team, das im Spital auch sonst allen für psycho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung zur Verfü­gung steht, für uns da ist. Meine Chefs und die Stati­ons­lei­terin haben sich per WhatsApp bei mir für meine Arbeit bedankt und gesagt, dass ich mich jeder­zeit bei ihnen melden darf. Auch die Leitung auf der Inten­siv­sta­tion hat uns immer wieder gesagt, dass wir uns melden sollen, wenn wir etwas brau­chen. Ich habe mich sehr gut unter­stützt und aufge­hoben gefühlt. Es hiess nicht: ‚Ja, du gehst jetzt halt dorthin und musst endlose Tage durcharbeiten.‘

Etwas schwierig fand ich das Thema Schutz­mass­nahmen. Im Spital selber wurde das unter­schied­lich gehand­habt: Wer muss welche Art von Masken anziehen? Wann muss man eine Schürze tragen? Klar, bei uns auf der Inten­siv­sta­tion immer. Aber in anderen Berei­chen galten andere Sicher­heits­mass­nahmen, das wurde nicht immer klar kommu­ni­ziert. Das Reini­gungs­per­sonal wiederum fühlte sich gar nicht geschützt. Und dann siehst du diese Videos auf Face­book aus dem Triem­li­spital in Zürich, wo alle einen kompletten Schutz­anzug tragen müssen – das sorgte für Verwir­rungen, auch betriebs­in­tern. Aber ich denke, das ist auch nicht ganz einfach, weil man den Keim des Virus aus wissen­schaft­li­cher Sicht schlichtweg noch nicht so gut kennt. Da sind noch viele Fragen offen: Wird er wirk­lich durch die Luft über­tragen? Auf welchen Ober­flä­chen bleibt er wie lange und wie ansteckend ist er dort? Trotzdem hätte man die Kommu­ni­ka­tion einheit­li­cher gestalten müssen, auch um dem Personal ein Gefühl der Sicher­heit zu geben. Schon nur aus Dank­bar­keit und Wert­schät­zung dafür, dass sie ihre Arbeit machen und sich tagtäg­lich diesem Risiko aussetzen.

Ich habe eine Weiter­bil­dung in Pallia­tive Care und arbeite seit dem Ende meines Studiums mit Menschen, die Krebs haben und teil­weise auch daran sterben werden. Dadurch wurde ich sehr früh mit dem Thema Tod und Sterben konfron­tiert und habe sehr schnell gemerkt, dass es mir ein Anliegen ist, Leute zu pflegen, die eine begrenzte Lebens­er­war­tung haben. Dadurch habe ich in den letzten Jahren eine Stra­tegie entwickelt, wie ich selber damit umgehe. Auch auf der Inten­siv­sta­tion, auf der ich gear­beitet habe, sind Leute an COVID-19 gestorben. Zum Glück nicht viele, wir hätten 12 freie Betten gehabt für COVID-19-Patient*innen und hatten im April jeweils vier bis fünf besetzt. Dass viele Menschen panisch auf COVID-19 reagieren und teil­weise den Bezug zur Ratio­na­lität verlieren, liegt sicher auch an der ganz mensch­li­chen Angst vor dem Tod.

Dafür habe ich Verständnis: Der Tod kann einem Angst machen. Trotzdem wider­spie­gelt diese Krise, wie die Themen Tod und Sterben in unserer Gesell­schaft behan­delt werden – nämlich prak­tisch gar nicht. Wir spre­chen nicht darüber. Ich würde mir wünschen, auch in meiner Tätig­keit in der Pallia­tive Care, dass wir uns als Gesell­schaft gegen­über dem Umgang mit dem Sterben mehr öffnen. Jedes Leben, jede*r Einzelne*r von uns, wird irgend­wann zu Ende gehen. Ich weiss, dass meine Freund*innen sehr traurig wären, wenn ich sterbe. Ich weiss, dass ich sehr traurig sein werde, wenn mein Mami stirbt. Aber genau darum versuche ich, mein Leben und auch meine Arbeit so zu gestalten, dass die Freude im Vorder­grund steht. Dass die Lebens­qua­lität der Patient*innen im Vorder­grund steht. Viel­leicht fällt es einem so am Ende des Lebens auch einfa­cher, loszu­lassen. Zu sagen: Es ist okay so, wie es ist.

Das Leben ist erst dann fertig, wenn man klinisch tot ist, alles Vorhe­rige ist ein Ster­be­pro­zess und gehört immer noch zum Leben dazu. Ich stelle mir das gerne so vor: Du wirst geboren und dann beginnt ‚dein Kreis‘. Der schliesst sich irgend­wann. Bei manchen, etwa bei Kindern mit Krebs, ist der Kreis kleiner. Bei einer 98-Jährigen, die am Ende fried­lich einschläft, ist er grösser. Dieses Bild hilft mir immer wieder sehr, gerade bei meiner Arbeit. Wir hatten 79-jährige Menschen auf der Inten­siv­sta­tion, die für ihr Alter superfit waren, die viel­leicht eine Vorer­kran­kung hatten, aber durch die nicht stark beein­träch­tigt waren. Dann erkrankten sie an COVID-19 und starben. Wenn man sagt: ‚Diese Leute wären sowieso gestorben‘, finde ich das furchtbar. Viel­leicht stimmt es, aber COVID-19 hat ihnen ein paar Jahre genommen, und das ist schlimm. Viel­leicht hätte die Person noch zehn Jahre leben können. Aber dieses Virus ist jetzt unser Schicksal und wir müssen damit umgehen können.

Das Klat­schen vom Balkon oder dass jetzt überall geschrieben wird, wie system­re­le­vant unser Job ist, ist schon nett. Aber es ist einfach so: Das Ansehen der Pfle­ge­be­rufe ist wirk­lich nicht hoch. Ich höre oft: ‚Ah, musst du den ganzen Tag Ärsche abputzen?‘ Ähm, nein. Ich muss den ganzen Tag Bezie­hungen mit Kindern aufbauen, die Eltern infor­mieren, Infu­sionen legen, Blut­ent­nahmen machen, Medi­ka­mente und Chemo­the­ra­pien verab­rei­chen, Visiten machen, Austritte orga­ni­sieren und so weiter. Dafür wünsche ich mir mehr Dank­bar­keit – immer, nicht nur während der Coronakrise.“


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