Wer ein echtes Wiener Proletkult-Kunstwerk besichtigen will, sollte mit der 43er-Strassenbahn nach Hernals in den 17. Wiener Gemeindebezirk hinausfahren. Bei der Haltestelle Rosensteingasse steht der Christine-Nöstlinger-Hof: ein zwischen 1949 und 1950 errichteter Gemeindebau mit 265 Wohnungen, die um eine schöne Parkanlage mit alten Bäumen herum errichtet worden sind.
In heissen Sommertagen dient der Hof den Bewohner*innen als Erholungsort. Erwachsene sitzen auf den Treppenstufen und tratschen. Kinder toben herum und kicken einen Ball auf jenen Wiesen, an deren Rändern die Stadtverwaltung Schilder mit der Aufschrift „Ballspielen verboten“ aufgestellt hat. Christine Nöstlinger, der in Hernals aufgewachsenen Kinderbuchautorin, hätte das gefallen.
Nicht bekannt ist, was die überzeugte Antifaschistin Nöstlinger von dem Wandrelief hielt, welches in Richtung Hernalser Hauptstraße an der Aussenfassade des Gebäudes hängt: Zwei muskulöse Arbeiter mit nacktem Oberkörper, einer mit Hammer, der andere mit Zirkel. Die Arbeiter des Kopfes und der Hand vereint im Schaffen für die Zukunft.
Und so schauen die Muskelprotze täglich auf die Arbeiter*innenklasse hinab, die sich jeden Werktag an der Haltestelle Rosensteingasse in die notorisch überfüllte 43er-Strassenbahn zwängt. Ab fünf Uhr früh kommen die Bau- und Schichtarbeiter*innen, später bevölkern Angestellte und Schüler*innen die Bim (wienerisch für Tram a.d. Red.). Am Nachmittag und Abend pendeln alle wieder retour.
Hier in der Nähe wohnt auch Steffanie Nagel. Die Künstlerin ist aus Niederösterreich zugezogen und wohnt nun seit 15 Jahren in Wien. Das Viertel ist ihr Lebensmittelpunkt. Hier trifft sie ihre Freund*innen, und hier befindet sich auch ihr Atelier.
Hernals, das ist ein Bezirk der Lohnabhängigen. Neben den Bezirken Ottakring, Rudolfsheim-Fünfhaus und Penzing gehört er zu den klassischen proletarischen Wiener Vorstadtbezirken im Westen der Stadt. Das durchschnittliche Nettoeinkommen der Einwohner*innen lag im Jahr 2020 bei 33’000 Euro im Jahr. Der gesamtwienerische Durchschnitt ist 35’000 Euro. Hernals liegt also unter dem Durchschnitt.
Es ist somit ein Bezirk der Gemeindebauten und Genossenschaftswohnungen. Beide Modelle des sozialen Wohnbaus sind zu einem internationalen Markenzeichen der österreichischen Bundeshauptstadt geworden. Beobachter*innen durchgentrifizierter Grossstädte wie Zürich, Berlin oder London sehen in Wien einen Leuchtturm, der wohnpolitische Utopie verspricht. Aus ganz Europa schielen Stadtbewohner*innen neidisch auf die scheinbar erschwinglichen Altbauwohnungen mitten in der Stadt. Die Wirklichkeit des Wiener Wohnbaus ist aber weitaus weniger utopisch.
Denn: Der Wiener Gemeindebau ist längst mehr Mythos als Realität.
Das hat Steffanie Nagel am eigenen Leib erfahren. Obwohl sie ein tiefes Einkommen und somit Anspruch auf einen Platz im sozialen Wohnbau hätte, hat sie auch nach 15 Jahren in der Stadt noch nie in einer der viel gelobten sozialen Wohnbauten gelebt. Damit ist sie bei weitem nicht die Einzige.
Wie konnte es so weit kommen? Und was ist geblieben von der wohnpolitischen Utopie?
Widersprüche einer wachsenden Grossstadt
Österreichs Hauptstadt präsentiert sich der Welt gerne als dynamische europäische Metropole mit hohen Zufriedenheitswerten. Fast 2 Millionen Einwohner*innen leben hier Anfang 2023. Im Jahr 2005 war es rund eine halbe Million weniger. Die allermeisten Neu-Wiener*innen ziehen aus den umgrenzenden österreichischen Bundesländern nach Wien, um hier Arbeit und Bildung zu finden – und ihr persönliches Glück. Auch Steffanie Nagel. „Meine Kunst kann ich in der Grossstadt Wien besser verwirklichen als draussen auf dem Land, wo ich aufgewachsen bin“, sagt sie.
Dies steht im krassen Gegensatz zur rechtspopulistischen Propaganda der FPÖ, die Asylsuchende und angebliche „Sozialschmarotzer“ für das Bevölkerungswachstum verantwortlich macht. Rechten Parteien wie der FPÖ oder der ÖVP gilt die Bundeshauptstadt entsprechend als ein Moloch und als Wurzel allen Übels.
Denn Wien ist das Herz der österreichischen Sozialdemokratie – und das Kernstück der Wiener sozialdemokratischen Politik war seit jeher der Wohnbau.
Vor allem die Gemeindebauten sollten bezahlbaren Wohnraum schaffen für lohnabhängige Menschen mit gemeinsamen Infrastrukturen – etwa einer geteilten Waschküche. Gemeindebauten wie der im Jahr 1930 eröffnete „Karl-Marx-Hof“ im Bezirk Heiligenstadt sind Vorreiter und Ikonen einer Politik, die sozialistische Ideale in Stein und Mörtel verwirklichen sollten.
Doch der soziale Wohnbau in Wien geriet zunehmend unter Druck.
1994 wurde unter sozialdemokratischer Mitwirkung das österreichische Mietrecht liberalisiert. Seither können private Vermieter*innen allerlei Zuschläge verlangen und befristete Mietverträge aufsetzen. 2004 privatisierte eine aus ÖVP und FPÖ gebildete Regierungskoalition 60’000 Bundeswohnungen. Seit 2008 dürfen die dem Wohnbau gewidmeten Staatsgelder auch für die Sanierung von Gemeindebudgets zweckentfremdet werden. Staatliche und kommunale Bauprojekte wurden in derselben Zeit weitgehend eingestellt.
Sozialer Wohnbau unter Druck
Mit dem Ende des Neubaus von Gemeindewohnungen gewann der geförderte Wohnbau in Wien an Bedeutung. Sie werden oft von Wohnbaugenossenschaften getragen, die nah an der SPÖ sind. Eine davon ist die Sozialbau AG, deren Mehrheitsanteile bei der „Vienna Insurance Group“ liegen, während ein grosser Teil der Minderheitsanteile vom SPÖ-nahen „Verein Wiener Arbeiterwohnhäuser“ gehalten wird.
Wer in eine solche geförderte Wohnung einziehen möchte, muss zuvor einen Genossenschaftsanteil entrichten, der bis zu 30’000 Euro kosten kann. Dafür garantieren Genossenschaften unbefristete Mietverträge und einen im Vergleich zum privaten Wohnmarkt billigeren Quadratmeterpreis. Zurzeit gibt es mehr als 200’000 Miet- und Genossenschaftswohnungen.
Durch ein Gesetz sind die Mieten in diesen Wohnungen gedeckelt. Gleichzeitig müssen Neumieter*innen bei den Bauträgern Genossenschaftsbeiträge entrichten. Diese können Tausende oder Zehntausende Euro betragen. Ziehen Mieter*innen aus, können sie den verbliebenen Genossenschaftsanteil zurückerhalten.
Alternativ besteht bei vielen Genossenschaftswohnungen nach einigen Jahren die Möglichkeit, die Mietwohnung in eine Eigentumswohnung umzuwandeln. Dadurch werden allerdings jedes Jahr Wohnungen dem gedeckelten Mietmarkt entzogen. Das führt dazu, dass zwar in Wien jedes Jahr Tausende neue gemeinnützige Wohneinheiten errichtet werden, die Summe gedeckelter Mietwohnungen in der Grossstadt aber kaum zunimmt.
So wurde sogar der geförderte Wohnbau in Wien teilweise privatisiert.
Stärkere Privatisierung und mehr Menschen in der Stadt. Die Kombination sorgt für wachsenden Druck am öffentlichen, gemeinnützigen und privaten Wohnungsmarkt.
Dieser Druck wird von der Stadt Wien durch das „Wohnticket“ weiter verstärkt. Dieses schliesst Neuankömmlinge in der Stadt systematisch vom Gemeindebau aus. Sie müssen mindestens zwei Jahre durchgängig an derselben Meldeadresse in Wien leben, um überhaupt auf die Warteliste für eine Gemeindewohnung zu gelangen.
Vor allem für junge Menschen wie Steffanie Nagel ist das kaum möglich. Für den Gemeindebau war sie wegen des Wohntickets bei ihrem Umzug nach Wien nicht berechtigt, für die Genossenschaftswohnung fehlte ihr das Geld. Übrig blieb nur der private Wohnungsmarkt.
Sie mietete zunächst eine Zweizimmerwohnung in einem Altbau in Wien Hernals. Sie flog dort aber bald wieder raus. Der Grund: Ein neuer Hauseigentümer wollte den Mieter*innen ihre befristeten Mietverträge nicht verlängern, sondern die Mietwohnungen lieber in Eigentumswohnungen umwandeln.
Auch Nagels nächste Behausung war eine private Altbauwohnung, ebenfalls in Hernals. Wieder zwei Zimmer und ein Gemeinschaftsgarten. Der Eigentümer lebte mit den übrigen Bewohner*innen im Haus. Doch nun hat er verkauft – und Nagel steht schon wieder vor dem Rauswurf. „Ich gehe stark davon aus, dass mein befristeter Mietvertrag Ende des Jahres nicht verlängert wird“, sagt sie. Der neue Eigentümer habe ihr gesagt, sie könne sich nach der geplanten Sanierung eine Eigentumswohnung im Haus kaufen. „Aber wie soll ich mir eine Eigentumswohnung leisten können?“
Steigende Mietpreise und Gentrifizierung
Nagels Erfahrungen sind bezeichnend für eine allgemeine Entwicklung in Wien: Befristete Mietverträge befeuern am privaten Wohnungsmarkt die Preisentwicklung und erzeugen Spekulationsdruck. Die Auswirkungen dieser Prozesse wurden etwa im Jahr 2017 im von der Stadt Wien herausgegebenen „Integrationsmonitor“ beschrieben. Darin heisst es: „Leistbares Wohnen wird für neu zugewanderte WienerInnen zunehmend zu einer Herausforderung: Sie haben nicht nur die durchschnittlich höchsten Wohnkosten, sondern sind auch von den größten Steigerungen der Wohnkosten betroffen.“
Laut einer Analyse des von der TU-Wien entwickelten Wiener Mietmonitors sind die Mieten am privaten Wohnungsmarkt in der Bundeshauptstadt zwischen 2008 und 2016 um 53 Prozent gestiegen, die durchschnittlich verfügbaren Haushaltseinkommen jedoch nur um 22 Prozent. Die Mietkosten steigen somit schneller als die Einkommen.
Eine 2019 im Auftrag der Wiener Arbeiterkammer veröffentlichte Studie des Instituts für empirische Sozialforschung ergab, dass 84 Prozent aller junger Wiener*innen zu hohe Mieten als Problem bei der Wohnungssuche benennen.
Was für die einen trockene Statistiken sind, ist für die Künstlerin Steffanie Nagel konkretes Erleben. Die Wohnungssuche gestaltet sich ernüchternd und frustrierend. Auf Gemeindebauten hat sie keine Chance: „Ich bin alleinstehend und habe keine Kinder, also werde ich bei den Wartelisten ganz nach hinten gereiht.“ Am privaten Markt wollen die Vermieter*innen einen Lohnzettel vorgelegt, der beweist, dass sie mindestens das Dreifache der verlangten Miete verdiene. Als Selbstständige ein Ding der Unmöglichkeit. „Eigentlich kann ich mir schon ein Plätzchen unter der Brücke suchen“, sagt Nagel.
Das Haus, in dem sie bislang wohnte, liegt nur wenige Gehminuten vom Elterleinplatz entfernt. Dieser liegt genau wie der nur eine Haltestelle entfernte Christine-Nöstlinger-Hof entlang der Route der 43-Strassenbahnlinie im Wiener Vorstadtbezirk Hernals. Und genau hier soll bald eine neue U‑Bahnstation entstehen. Für den Hernalser Wohnungsmarkt bedeutet das einen dramatischen Anstieg der Preise.
Stellschrauben am spekulativen Wohnungsmarkt
Aufgrund wachsender Kritik an der Wiener Wohnsituation versucht die Stadtregierung inzwischen an einigen Stellschrauben zu drehen. So trat im März 2019 ein neuer Passus in der Wiener Bauordnung in Kraft. Seitdem sind bei Umzonungen zwei Drittel der Fläche für sozialen beziehungsweise geförderten Wohnbau vorgesehen. Dasselbe gilt bei der Umwandlung von Flächen in Wohngebieten zu Bauland.
So sollen Preissteigerungen am Wohnungsmarkt gedämpft werden.
Inzwischen hat die Stadt wieder in einem geringen Ausmass mit dem Neubau von Gemeindewohnungen begonnen. Dennoch bauen private Firmen den grössten Teil der Neubauten. Laut einer Statistik wurden zwischen 2018 und 2021 38’000 frei finanzierte Wohnungen errichtet. Demgegenüber stehen 19’600 geförderte Wohnungen.
In einer Ende Juni 2022 erschienen Studie beklagt die Wiener Arbeiterkammer zudem eine grassierende Spekulation mit Wohnraum in Wien. Zwar werde doppelt so viel gebaut wie gebraucht, aber von sinkenden Preisen sei nichts zu spüren. Die Mietpreise im privaten Wohnsegment seien zwischen 2018 und 2021 um zwölf Prozent gestiegen. Im Segment des Wohnungseigentums würden ausserdem zunehmend private Investor*innen Wohnraum aufkaufen.
Alledem steht der auch in Hernals beobachtbare Leerstand gegenüber: Zwar wird die Nachbarschaft immer schmucker, aber Menschen scheinen in den neu hergerichteten alten Wohnhäusern kaum zu wohnen. Schon lange fordern aktive wohnpolitische Initiativen einen Lehrstandsmonitor, um einen statistisch belastbaren Überblick zu bekommen.
Doch die Stadt Wien ignoriert diese Forderungen seit Jahrzehnten, während sie unter dem Schlagwort „Wien Wächst“ den privaten Wohnbau befördert. Ein Wohnbau, der hauptsächlich in Stadtrandgebieten mit schlechter öffentlicher Verkehrsanbindung passiert.
Das sind Gebiete, in die Steffanie Nagel nicht ziehen mag. „Von Hernals aus komme ich in zehn Minuten in die Innenstadt. Die Neubaugebiete bieten mir das nicht“, sagt sie. Zumindest nicht ohne Besitz eines Autos, was für Nagel ebenso unerschwinglich ist wie eine neue Mietwohnung oder ein fünf Euro teurer Kaffee.
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