Wieso darf ein Viertel der Bevöl­ke­rung nicht wählen?

Wahlen 2019 Im Oktober wählt die Schweiz ein neues Parla­ment. Die ganze Schweiz? Nein, nur dieje­nigen, die einen Schweizer Pass in ihrer Schreib­tisch­schub­lade liegen haben. Was bedeutet es für eine Demo­kratie, wenn ein Viertel der Bevöl­ke­rung nicht mitbe­stimmen darf? Das Lamm taucht im Stil von Sokrates in die Demo­kra­tie­theorie ein: in dialo­gi­scher Form. 
Das Lamm in der Wandelhalle. (Illustration: www.parlament.ch via Wikipedia; bearbeitet von Jeannie Schneider)

Knisternde Morgen­sonne scheint durch die Fenster und lässt den Stuck, der die Wände der Wandel­halle umfasst, fast goldig glänzen. Es ist Herbst geworden, und schon liegen die letzten Tage der Session vor uns. Bald wird der eine oder andere neue Kopf hier einen Kaffee trinken und mit Akten unter dem Arm auf den Anfang einer Sitzung warten. Denn nicht alle Parlamentarier*innen werden wieder­ge­wählt an den natio­nalen Wahlen im Oktober 2019.

Unser Lamm ist schon ganz aufge­regt, denn es ist zum ersten Mal im Bundes­haus. Pünkt­lich wird es von Helvetia abge­holt, die sich seiner heute annimmt.

das Lamm: Helvetia, wer wird im Oktober gewählt? Kommt es wirk­lich zu einem Linksrutsch?

Helvetia: Liebes Lamm, das weiss ich auch noch nicht. Wer gewählt wird, hängt nämlich davon ab, wer wählen geht. Und auch wenn viele die Wahl­cou­verts unge­öffnet und ein wenig beschämt am Tag nach der Wahl im Altpa­pier entsorgen: Die Möglich­keit mitzu­be­stimmen, ist etwas vom Wich­tig­sten in einer Demo­kratie. Weisst du auch, wieso?

Damit die rich­tigen Menschen uns vertreten? 

Genau. In einer Demo­kratie sollte das Staats­volk bestimmen, was poli­tisch mit dem Land passiert. Und bei einem reprä­sen­ta­tiven System heisst das, dass das Parla­ment die Bedürf­nisse der Bevöl­ke­rung spie­geln sollte. Diese ändern sich aber stetig, und diese Anpas­sungs­fä­hig­keit ist einer der grossen Vorteile einer Demo­kratie. Die peri­odi­sche Revi­dier­bar­keit von poli­ti­schen Entschei­dungen macht es legitim, Gesetze zu erwei­tern oder zu verän­dern. Stell dir eine abso­lu­ti­sti­sche Herr­scherin vor: Wenn sie nach vier Jahren eine Kehrt­wende machen und eine Steuer auf Benzin erheben würde, würde man sich doch fragen, wieso sie das nicht schon früher gemacht hat. Mit der Zeit könnte das Vertrauen in ihre Regie­rungs­kom­pe­tenz schwinden.

Du hast vorher den Links­rutsch ange­spro­chen. Ja, laut Prognosen legen die Grünen zu, gerade auch wegen dir, Lamm, weil du immer an den Klima­demos teil­ge­nommen hast und damit viele Menschen für das Thema sensi­bi­li­sieren konn­test. Bei der letzten Wahl 2015, du erin­nerst dich viel­leicht noch, schaffte es hingegen die SVP, den Diskurs zu domi­nieren. Sie instru­men­ta­li­sierte geopo­li­ti­sche Ereig­nisse zu ihren Gunsten, nämlich die vielen Menschen, die damals auf der Flucht waren und ihre Heimat verlassen mussten. Das heisst: Verän­dern sich die Werte des Volks, verän­dert sich auch das Parla­ment. Aber jetzt noch eine Frage: Wer ist das Volk?

Natür­lich alle, die in der Schweiz leben! 

Da würden dir viele wider­spre­chen! Was ist eigent­lich ein Volk? Lange galt die Idee eines Staats­volks als Abstam­mungs­ge­mein­schaft, die sich durch eine gemein­same Sprache, Kultur und Reli­gion defi­niert. Aber die Schweiz hat vier Landes­spra­chen und dadurch werden die unter­schied­li­chen kultu­rellen Iden­ti­täten ganz offen­sicht­lich. An der Welt­aus­stel­lung 1992 regte der Künstler Ben Vautier zum Nach­denken an, denn sein Motto für den Schweizer Pavillon war: „La Suisse n’existe pas“. Es gebe keine Schweiz, weil ihr genau das wich­tigste Merkmal, ein einheit­li­ches Staats­volk, fehlt. Aller­dings ist die auf den ersten Blick ‚homo­gene Kultur‘ in unseren Nach­bar­län­dern auch eine trüge­ri­sche. Denn die meisten Länder haben ihre sprach­li­chen Mino­ri­täten einfach unter­drückt. Und heute ist der Anspruch, dass ein Staats­volk ‚homogen‘ sein sollte, noch unrea­li­sti­scher, weil viele Menschen mit ganz unter­schied­li­chen Wurzeln in einem Land leben.

Viel­leicht ist es also einfa­cher, wenn wir versu­chen, die Frage formal zu klären. Wer darf in der Schweiz wählen?

In der Bundes­ver­fas­sung steht: Alle, „die das 18. Alters­jahr zurück­ge­legt haben und die nicht wegen Geistes­krank­heit oder Geistes­schwäche entmün­digt sind“. Ausserdem: „Alle haben die glei­chen poli­ti­schen Rechte und Pflichten.“

Das stimmt fast ganz. Um auf Bundes­ebene wählen zu dürfen, muss man Schweizer*in sein. Deine Freundin, das schwarze Schäf­chen, ist sie Schweizerin?

 Ja, sie ging schon mit mir in den Kinder­garten und hat mit mir alle Schilder für die Klima­demos geba­stelt! Aber einen Schweizer Pass hat sie nicht... 

Recht­lich ist man Schweizer*in, sobald man einen Schweizer Pass besitzt. Also darf das Schäf­chen nicht wählen, auch wenn sie sich als Schwei­zerin versteht und Teil von unserer Zivil­ge­sell­schaft ist. Aber sie ist nicht Teil vom demos, der Entschei­dungs­fin­dungs­in­sti­tu­tion. Das sind nur die wahl­be­rech­tigten Personen. Gerade bei Ausländer*innen, die hier aufge­wachsen sind, stellt sich also die Frage, warum sie nicht stimm­be­rech­tigt sind, obwohl sie genauso von der Politik betroffen und Teil von der Gesell­schaft sind. Auslandschweizer*innen hingegen dürfen wählen, auch wenn sie auf der anderen Seite der Welt wohnen und nie mehr in die Schweiz zurückkehren.

Grund­sätz­lich hätten Gemeinden und Kantone die Kompe­tenz, ein Stimm­recht für Ausländer*innen einzu­führen, und einige Gemeinden haben das auch getan. Sogar zwei Kantone haben das Stimm- und Wahl­recht für Ausländer*innen einge­führt: Jura und Neuen­burg. Meistens kriegt man das Stimm­recht als Ausländer*in aber nicht einfach so, sondern es ist an gewisse Auflagen geknüpft. Im Kanton Jura muss man zum Beispiel 10 Jahre in der Schweiz wohnen und ein Jahr im Kanton, um das Wahl­recht zu beantragen.

Also dürfen Ausländer*innen, die im Jura oder in Neuen­burg leben, an den kommenden eidge­nös­si­schen Wahlen teilnehmen?

Nicht ganz. Weil der Bund Ausländer*innen kein Wahl­recht gewährt und die Wahl des Natio­nal­rats dem Bund obliegt, dürfen hier Ausländer*innen auch nicht mitbe­stimmen. Die Wahl des Stän­de­rats ist hingegen Sache der Kantone, also dürfen im Jura und in Neuen­burg Ausländer*innen hier ihre Stimme abgeben.

Das ist ja ganz schön kompli­ziert. Wieso ist es denn über­haupt ein Problem, wenn das Schäf­chen nicht wählen darf? 

Denken wir an die natio­nalen Wahlen: Die sollten so gut wie möglich die Bevöl­ke­rung reprä­sen­tieren. Menschen, die andere kultu­relle Wurzeln haben, gehören auch zur Schweiz. Auch wenn Studien ergeben, dass ihre Inter­essen sich den poli­ti­schen Präfe­renzen der in der Schweiz gebo­renen Menschen anglei­chen, sollten sie mitbe­stimmen dürfen, sobald sie vorhaben, eine gewisse Zeit in der Schweiz zu bleiben. Denn es geht hier eigent­lich um etwas wich­ti­geres als ein paar Prozent­punkte in einer Volks­ab­stim­mung – es geht um die Legi­ti­mität einer Demokratie.

Eine Demo­kratie wird dann legitim, wenn möglichst alle die poli­ti­schen Entschei­dungen akzep­tieren. Und sobald man mitbe­stimmen kann, ist die Chance, dass man das Ergebnis annimmt, grösser. In der Schweiz wohnen 2.1 Millionen Menschen ohne Schweizer Pass; das ist ein Viertel der Bevöl­ke­rung. Wenn diese Menschen das Gefühl haben, dass sie fremd­be­stimmt werden und dass der Staat, in dem sie leben und Steuern zahlen, nicht auf ihre Bedürf­nisse eingeht, kann das ziem­lich proble­ma­tisch für eine Demo­kratie werden.

Nicht zuletzt ist das Wahl­recht eines der wich­tig­sten Rechte einer Demo­kratie, eng verknüpft mit sozialer Würde. Mein Nachbar, der seit zwanzig Jahren in der glei­chen Wohnung lebt, hat weniger Rechte als ich, und das ist proble­ma­tisch für eine Demo­kratie. Denn dass alle Menschen grund­sätz­lich gleich und frei sind, ist eine Grund­an­nahme unserer Demo­kratie. Hier wären wir also bei dem berüch­tigten Demo­kra­tie­de­fizit ange­langt. Ist eine Demo­kratie noch demo­kra­tisch, wenn ein Viertel der Bevöl­ke­rung fremd­be­stimmt wird?

Wie könnte man es denn anders machen? 

Bis jetzt ist die Zuge­hö­rig­keit zum demos formal gere­gelt: Wenn die Eltern einen Schweizer Pass haben, hat das Kind auto­ma­tisch auch einen. Wenn man lange genug im Land wohnt, kann man sich einbür­gern lassen. Die Schweiz hat aller­dings eine der restrik­tiv­sten Einbür­ge­rungs­praxen von ganz Europa. Und das, obwohl Studien klar zeigen, dass die Einbür­ge­rung der beste Weg zur Inte­gra­tion ist. Unter anderem natür­lich, weil man erst dann die glei­chen Rechte hat.

Aber auch wenn man sich einbür­gern lassen will und nicht vorhat, irgend­wann in abseh­barer Zeit die Schweiz zu verlassen, muss man unter Umständen jahr­zehn­te­lang warten – und kann während dieser Zeit nicht mitbe­stimmen. Das ist ein Problem. Es liegt deshalb nahe, über die Vorlei­stungen, die eine Person erbringen muss, zu disku­tieren. Ist man wirk­lich erst dann kompe­tent, in einer Sache mitzu­be­stimmen, wenn man über Jahre hinweg im glei­chen Kanton gewohnt hat? Eine Möglich­keit wäre natür­lich die Einfüh­rung des Ausländer*innenstimmrechts auf natio­naler Ebene.

Zeit ist aber nicht der einzige Para­meter, der bei der Frage, ob denn jemand nun dazu gehört oder nicht, eine inter­es­sante Perspek­tive offen­bart. Heute sind die Konse­quenzen von natio­nalen Poli­tiken nicht auf deren natio­nales Terri­to­rium begrenzt, sondern sie haben weit verästelte Auswir­kungen auf der ganzen Welt. In der trans­na­tio­nalen Demo­kra­tie­theorie wird auch darüber nach­ge­dacht, ob nicht alle, die von einem Gesetz betroffen sind, auch bis zu einem gewissen Grad mitbe­stimmen sollten.

Es würde sich dann auch die Frage stellen, ob nicht sogar andere Länder bis zu einem gewissen Grad in der natio­nalen Politik mitbe­stimmen dürften. Denk an den Steu­er­wett­be­werb, bei dem ein Land Milli­arden an einem anderen Staat vorbei­schleust. Oder an die Konzernverantwortungsinitiative...

Dann dürfte beispiels­weise die Fabrik­ar­bei­terin in Indien auch mitbestimmen? 

Natür­lich wäre die prak­ti­sche Umset­zung davon schwierig. Aber trotzdem sollte man sich die Frage stellen, ob es nicht sinn­voll wäre, nicht nur bei einer immer mobiler werdenden Gesell­schaft, sondern auch bei der zuneh­menden Vernet­zung von Poli­tik­fel­dern, deren Konse­quenzen sich nicht auf natio­nale Terri­to­rien begrenzen lassen, Mitbe­stim­mungs­rechte neu und anders zu denken.

Die beiden sitzen inzwi­schen vor dem Bundes­haus und schauen die unter­schied­li­chen Menschen an, die in der Herbst­sonne rumspa­zieren und träumen: von glei­chen Rechten für alle.


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