Knisternde Morgensonne scheint durch die Fenster und lässt den Stuck, der die Wände der Wandelhalle umfasst, fast goldig glänzen. Es ist Herbst geworden, und schon liegen die letzten Tage der Session vor uns. Bald wird der eine oder andere neue Kopf hier einen Kaffee trinken und mit Akten unter dem Arm auf den Anfang einer Sitzung warten. Denn nicht alle Parlamentarier*innen werden wiedergewählt an den nationalen Wahlen im Oktober 2019.
Unser Lamm ist schon ganz aufgeregt, denn es ist zum ersten Mal im Bundeshaus. Pünktlich wird es von Helvetia abgeholt, die sich seiner heute annimmt.
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das Lamm: Helvetia, wer wird im Oktober gewählt? Kommt es wirklich zu einem Linksrutsch?
Helvetia: Liebes Lamm, das weiss ich auch noch nicht. Wer gewählt wird, hängt nämlich davon ab, wer wählen geht. Und auch wenn viele die Wahlcouverts ungeöffnet und ein wenig beschämt am Tag nach der Wahl im Altpapier entsorgen: Die Möglichkeit mitzubestimmen, ist etwas vom Wichtigsten in einer Demokratie. Weisst du auch, wieso?
Damit die richtigen Menschen uns vertreten?
Genau. In einer Demokratie sollte das Staatsvolk bestimmen, was politisch mit dem Land passiert. Und bei einem repräsentativen System heisst das, dass das Parlament die Bedürfnisse der Bevölkerung spiegeln sollte. Diese ändern sich aber stetig, und diese Anpassungsfähigkeit ist einer der grossen Vorteile einer Demokratie. Die periodische Revidierbarkeit von politischen Entscheidungen macht es legitim, Gesetze zu erweitern oder zu verändern. Stell dir eine absolutistische Herrscherin vor: Wenn sie nach vier Jahren eine Kehrtwende machen und eine Steuer auf Benzin erheben würde, würde man sich doch fragen, wieso sie das nicht schon früher gemacht hat. Mit der Zeit könnte das Vertrauen in ihre Regierungskompetenz schwinden.
Du hast vorher den Linksrutsch angesprochen. Ja, laut Prognosen legen die Grünen zu, gerade auch wegen dir, Lamm, weil du immer an den Klimademos teilgenommen hast und damit viele Menschen für das Thema sensibilisieren konntest. Bei der letzten Wahl 2015, du erinnerst dich vielleicht noch, schaffte es hingegen die SVP, den Diskurs zu dominieren. Sie instrumentalisierte geopolitische Ereignisse zu ihren Gunsten, nämlich die vielen Menschen, die damals auf der Flucht waren und ihre Heimat verlassen mussten. Das heisst: Verändern sich die Werte des Volks, verändert sich auch das Parlament. Aber jetzt noch eine Frage: Wer ist das Volk?
Natürlich alle, die in der Schweiz leben!
Da würden dir viele widersprechen! Was ist eigentlich ein Volk? Lange galt die Idee eines Staatsvolks als Abstammungsgemeinschaft, die sich durch eine gemeinsame Sprache, Kultur und Religion definiert. Aber die Schweiz hat vier Landessprachen und dadurch werden die unterschiedlichen kulturellen Identitäten ganz offensichtlich. An der Weltausstellung 1992 regte der Künstler Ben Vautier zum Nachdenken an, denn sein Motto für den Schweizer Pavillon war: „La Suisse n’existe pas“. Es gebe keine Schweiz, weil ihr genau das wichtigste Merkmal, ein einheitliches Staatsvolk, fehlt. Allerdings ist die auf den ersten Blick ‚homogene Kultur‘ in unseren Nachbarländern auch eine trügerische. Denn die meisten Länder haben ihre sprachlichen Minoritäten einfach unterdrückt. Und heute ist der Anspruch, dass ein Staatsvolk ‚homogen‘ sein sollte, noch unrealistischer, weil viele Menschen mit ganz unterschiedlichen Wurzeln in einem Land leben.
Vielleicht ist es also einfacher, wenn wir versuchen, die Frage formal zu klären. Wer darf in der Schweiz wählen?
In der Bundesverfassung steht: Alle, „die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind“. Ausserdem: „Alle haben die gleichen politischen Rechte und Pflichten.“
Das stimmt fast ganz. Um auf Bundesebene wählen zu dürfen, muss man Schweizer*in sein. Deine Freundin, das schwarze Schäfchen, ist sie Schweizerin?
Ja, sie ging schon mit mir in den Kindergarten und hat mit mir alle Schilder für die Klimademos gebastelt! Aber einen Schweizer Pass hat sie nicht...
Rechtlich ist man Schweizer*in, sobald man einen Schweizer Pass besitzt. Also darf das Schäfchen nicht wählen, auch wenn sie sich als Schweizerin versteht und Teil von unserer Zivilgesellschaft ist. Aber sie ist nicht Teil vom demos, der Entscheidungsfindungsinstitution. Das sind nur die wahlberechtigten Personen. Gerade bei Ausländer*innen, die hier aufgewachsen sind, stellt sich also die Frage, warum sie nicht stimmberechtigt sind, obwohl sie genauso von der Politik betroffen und Teil von der Gesellschaft sind. Auslandschweizer*innen hingegen dürfen wählen, auch wenn sie auf der anderen Seite der Welt wohnen und nie mehr in die Schweiz zurückkehren.
Grundsätzlich hätten Gemeinden und Kantone die Kompetenz, ein Stimmrecht für Ausländer*innen einzuführen, und einige Gemeinden haben das auch getan. Sogar zwei Kantone haben das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer*innen eingeführt: Jura und Neuenburg. Meistens kriegt man das Stimmrecht als Ausländer*in aber nicht einfach so, sondern es ist an gewisse Auflagen geknüpft. Im Kanton Jura muss man zum Beispiel 10 Jahre in der Schweiz wohnen und ein Jahr im Kanton, um das Wahlrecht zu beantragen.
Also dürfen Ausländer*innen, die im Jura oder in Neuenburg leben, an den kommenden eidgenössischen Wahlen teilnehmen?
Nicht ganz. Weil der Bund Ausländer*innen kein Wahlrecht gewährt und die Wahl des Nationalrats dem Bund obliegt, dürfen hier Ausländer*innen auch nicht mitbestimmen. Die Wahl des Ständerats ist hingegen Sache der Kantone, also dürfen im Jura und in Neuenburg Ausländer*innen hier ihre Stimme abgeben.
Das ist ja ganz schön kompliziert. Wieso ist es denn überhaupt ein Problem, wenn das Schäfchen nicht wählen darf?
Denken wir an die nationalen Wahlen: Die sollten so gut wie möglich die Bevölkerung repräsentieren. Menschen, die andere kulturelle Wurzeln haben, gehören auch zur Schweiz. Auch wenn Studien ergeben, dass ihre Interessen sich den politischen Präferenzen der in der Schweiz geborenen Menschen angleichen, sollten sie mitbestimmen dürfen, sobald sie vorhaben, eine gewisse Zeit in der Schweiz zu bleiben. Denn es geht hier eigentlich um etwas wichtigeres als ein paar Prozentpunkte in einer Volksabstimmung – es geht um die Legitimität einer Demokratie.
Eine Demokratie wird dann legitim, wenn möglichst alle die politischen Entscheidungen akzeptieren. Und sobald man mitbestimmen kann, ist die Chance, dass man das Ergebnis annimmt, grösser. In der Schweiz wohnen 2.1 Millionen Menschen ohne Schweizer Pass; das ist ein Viertel der Bevölkerung. Wenn diese Menschen das Gefühl haben, dass sie fremdbestimmt werden und dass der Staat, in dem sie leben und Steuern zahlen, nicht auf ihre Bedürfnisse eingeht, kann das ziemlich problematisch für eine Demokratie werden.
Nicht zuletzt ist das Wahlrecht eines der wichtigsten Rechte einer Demokratie, eng verknüpft mit sozialer Würde. Mein Nachbar, der seit zwanzig Jahren in der gleichen Wohnung lebt, hat weniger Rechte als ich, und das ist problematisch für eine Demokratie. Denn dass alle Menschen grundsätzlich gleich und frei sind, ist eine Grundannahme unserer Demokratie. Hier wären wir also bei dem berüchtigten Demokratiedefizit angelangt. Ist eine Demokratie noch demokratisch, wenn ein Viertel der Bevölkerung fremdbestimmt wird?
Wie könnte man es denn anders machen?
Bis jetzt ist die Zugehörigkeit zum demos formal geregelt: Wenn die Eltern einen Schweizer Pass haben, hat das Kind automatisch auch einen. Wenn man lange genug im Land wohnt, kann man sich einbürgern lassen. Die Schweiz hat allerdings eine der restriktivsten Einbürgerungspraxen von ganz Europa. Und das, obwohl Studien klar zeigen, dass die Einbürgerung der beste Weg zur Integration ist. Unter anderem natürlich, weil man erst dann die gleichen Rechte hat.
Aber auch wenn man sich einbürgern lassen will und nicht vorhat, irgendwann in absehbarer Zeit die Schweiz zu verlassen, muss man unter Umständen jahrzehntelang warten – und kann während dieser Zeit nicht mitbestimmen. Das ist ein Problem. Es liegt deshalb nahe, über die Vorleistungen, die eine Person erbringen muss, zu diskutieren. Ist man wirklich erst dann kompetent, in einer Sache mitzubestimmen, wenn man über Jahre hinweg im gleichen Kanton gewohnt hat? Eine Möglichkeit wäre natürlich die Einführung des Ausländer*innenstimmrechts auf nationaler Ebene.
Zeit ist aber nicht der einzige Parameter, der bei der Frage, ob denn jemand nun dazu gehört oder nicht, eine interessante Perspektive offenbart. Heute sind die Konsequenzen von nationalen Politiken nicht auf deren nationales Territorium begrenzt, sondern sie haben weit verästelte Auswirkungen auf der ganzen Welt. In der transnationalen Demokratietheorie wird auch darüber nachgedacht, ob nicht alle, die von einem Gesetz betroffen sind, auch bis zu einem gewissen Grad mitbestimmen sollten.
Es würde sich dann auch die Frage stellen, ob nicht sogar andere Länder bis zu einem gewissen Grad in der nationalen Politik mitbestimmen dürften. Denk an den Steuerwettbewerb, bei dem ein Land Milliarden an einem anderen Staat vorbeischleust. Oder an die Konzernverantwortungsinitiative...
Dann dürfte beispielsweise die Fabrikarbeiterin in Indien auch mitbestimmen?
Natürlich wäre die praktische Umsetzung davon schwierig. Aber trotzdem sollte man sich die Frage stellen, ob es nicht sinnvoll wäre, nicht nur bei einer immer mobiler werdenden Gesellschaft, sondern auch bei der zunehmenden Vernetzung von Politikfeldern, deren Konsequenzen sich nicht auf nationale Territorien begrenzen lassen, Mitbestimmungsrechte neu und anders zu denken.
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Die beiden sitzen inzwischen vor dem Bundeshaus und schauen die unterschiedlichen Menschen an, die in der Herbstsonne rumspazieren und träumen: von gleichen Rechten für alle.
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