„Jetzt ist Zeit für Molotow!“

Hunger, finan­zi­elle Not und Perspek­tiv­lo­sig­keit treiben die Menschen im Libanon trotz Corona erneut auf die Strasse. Hunderte trotzen den Ausgangs­be­schrän­kungen und setzen Bank­fi­lialen in Brand – und das ohne Aufruf der revo­lu­tio­nären Bewe­gung. Während die Armee scharfe Muni­tion einsetzt, stellt sich für die revo­lu­tio­näre Bewe­gung erneut die Frage, wie weit sie gehen soll und über­haupt kann. 
Ein Polizist der Internal Security Forces (ISF) vor einer Sperrmauer in der Innenstadt von Beirut (CC by Jana Nakhal, zvg.)

Nachdem die liba­ne­si­sche Regie­rung in der letzten April­woche vermel­dete, dass sie das Coro­na­virus unter Kontrolle habe, dauerte es nicht lange, bis wieder erste Protest­rufe durch die Strassen von Tripoli, Beirut, Naba­tieh und Saida hallten. Da sich die Ansteckungs­zahlen stabi­li­sieren und die Bevöl­ke­rung gleich­zeitig unter der seit Mitte 2019 anhal­tenden massiven Wirt­schafts­krise leidet, verkün­dete das „Technokrat*innen-Kabinett“ unter dem ehema­ligen Professor Hassan Diab eine Locke­rung des Lock­downs und die sukzes­sive Öffnung der Geschäfte bis zum 8. Juni. „Das sind gute Neuig­keiten“, sagt Akti­vi­stin und Mitglied der Kommu­ni­sti­schen Partei Jana Nakhal über Zoom: „Gute Neuig­keiten für die Intifada.“

Die Locke­rungen würden den Menschen die Angst nehmen, ihren Unmut über die ausblei­benden Antworten des Staates auf die allge­gen­wär­tigen Probleme kund­zutun. Die Ankün­di­gung der Regie­rung löse die letzte Hürde, um die Strasse zurück­zu­holen. „Und dies radi­kaler als zuvor“, sagt Jana.

Weder die Kommu­ni­sti­sche Partei als eine der radi­kal­sten Grup­pie­rungen inner­halb der Revo­lu­ti­ons­be­we­gung noch andere Orga­ni­sa­tionen haben dazu aufge­rufen, wieder auf die Strasse zu gehen. Zu vage stellte sich die Situa­tion für die dreissig revo­lu­tio­nären Gruppen dar, die seit dem 17. Oktober 2019 unter der „Thawra“-Parole (‚Revo­lu­tion‘) zum ausser­par­la­men­ta­ri­schen Wider­stand im ganzen Libanon aufrufen. Das Land ist gebeu­telt von einer massiven Wirt­schafts­krise, die, zusam­men­fas­send gesagt, die Folge des Syri­en­kriegs, der fehl­ge­lei­teten Finanz­po­litik der Vorgän­ger­re­gie­rung von Multi­mil­li­ardär Saad Hariri und den ausge­blie­benen Inve­sti­tionen von Saudi-Arabien ist.

Vor diesem Hinter­grund konnte die Protest­be­we­gung in ihren ersten Wochen zehn­tau­sende Menschen im ganzen Libanon mobi­li­sieren. Sie führte den Sturz der Hariri-Regie­rung herbei und etablierte sich als mass­geb­li­cher ausser­par­la­men­ta­ri­scher Faktor in einem von Korrup­tion und Klien­te­lismus geprägten poli­ti­schen System, in dem insge­samt 18 Reli­gi­ons­ge­mein­schaften reprä­sen­tiert werden sollen.

Nach der Bildung der von der schii­ti­schen Hisbollah gestützten „Technokrat*innen-Regierung“ im Januar 2020 mündeten die Demon­stra­tionen immer häufiger in Ausschrei­tungen mit hunderten Verletzten. Nach der Ausru­fung des Lock­downs zog sich die Revo­lu­ti­ons­be­we­gung dann von der Strasse zurück. Die Regie­rung nutzte das Vakuum auf der Strasse zur Besei­ti­gung der visu­ellen Präsenz der Revo­lu­tion. So wurden etwa ihre Zelt­städte in der Innen­stadt von Beirut besei­tigt. Die Corona-Krise verschlech­terte die schon zuvor deso­late Wirt­schafts­lage. Die Folgen waren der Verfall der Währung, eine Lebens­mittel- und Medi­ka­men­ten­knapp­heit und massive Preis­stei­ge­rungen. Viele Menschen stehen vor dem Nichts.

Die Revo­lu­tion erobert die Strasse zurück — Blockade in Beirut, 27.4.2020 (CC by kafeh.lebanon كافِح )

Schlimmer als Corona

Bis Ende April verlor das liba­ne­si­sche Pfund mehr als das Zwei­ein­halb­fache seines Werts. Zusätz­lich wurden erneut Kapi­tal­kon­trollen beschlossen, was zur Folge hat, dass die Menschen prak­tisch keinen Zugang mehr zum stabilen Dollar haben. Gleich­zeitig steigen die Preise für Grund­nah­rungs­mittel. Den Menschen blieb daher nichts anderes übrig, als sich den Corona-Mass­nahmen zu wider­setzen und aus der Isola­tion auszu­bre­chen. „Wenn du nicht an Corona stirbst, stirbst du an Hunger!“, lautete eine Parole der Protest­mär­sche, die in den letzten zwei April­wo­chen in Tripoli, einer der ärmsten Städte des gesamten Mittel­meer­raums, statt­ge­funden haben.

Mit einem durch­schnitt­li­chen Monats­ein­kommen von umge­rechnet 200 Dollar können sich die Menschen prak­tisch nichts mehr leisten. Laut Angaben der Welt­bank lebten vor der Corona-Krise mehr als 45 Prozent der Bevöl­ke­rung unter der Armuts­grenze. Nun hat die Regie­rung verkündet, dass bis zu 75% der Bevöl­ke­rung Hilfs­lei­stungen benö­tigen. Ausserdem leben unge­fähr 54% der 1.5 Millionen syri­schen Geflüch­teten in extremer Armut.

Gebeu­telt von den kata­stro­phalen Lebens­be­din­gungen begaben sich am 22. April mehrere hundert Menschen in verschie­denen Städten spontan auf die Strasse – trotz Ausgangs­be­schrän­kungen. Die Prote­stie­renden errich­teten Stras­sen­bar­ri­kaden und versam­melten sich in Gruppen vor Bank­fi­lialen, um ihren Unmut gegen die verhee­rende Finanz­po­litik kund­zutun. In Saida, Tripoli und Beirut verwan­delten sich die Parolen rasch in wutent­brannte Sprech­chöre wie „Jetzt ist Zeit für Molotow!“ Radi­kale Split­ter­gruppen warfen in der Folge Molotow-Cock­tails auf die Banken, mehrere Filialen brannten komplett aus. Diese Form der Gewalt gegen Sachen ist neu und stösst inner­halb der Revo­lu­ti­ons­be­we­gung auf gemischte Reak­tionen, wobei die Unter­stüt­zung überwiegt.

„Das ist legale Gewalt“, meint beispiels­weise Jana Nakhal. „Der Banken­sektor macht einen Fünftel der liba­ne­si­schen Wirt­schaft aus. Das ist unser Geld.“ Nicht die Kommu­ni­sti­sche Partei hätte die Angriffe initi­iert, aller­dings täte es gut, solche Aktionen zu sehen, weil sie für die Regie­rung eine „explo­sive Signal­wir­kung“ hätten. Zudem würden sie auf eine stär­kere Mobi­li­sie­rung der Unter­schicht hindeuten, sagt ein anderes Mitglied der Kommu­ni­sti­schen Partei, Samir Skayni: „Anfangs, in der Zeit nach dem 17. Oktober, wurde die Bewe­gung eher von der Mittel­klasse getragen, von gut bezahlten Leuten.

In den kommenden Tagen werden sich die Menschen aus niederen Klassen vordrängen, weil sie kein Geld, keine Lebens­mittel mehr haben.“ Viele Aktivist*innen haben seit längerem auf eine Radi­ka­li­sie­rung der Bewe­gung gewartet. Doch es gibt auch solche, die vor Gewalt­ex­zessen warnen, wie Samir ausführt: „Eine Mehr­heit befür­wortet die Gewalt. Sie sind über­zeugt, dass die Regie­rung nur so auf ihre Forde­rungen reagieren wird. Dann gibt es die zweite Meinung, die sich gegen Gewalt ausspricht und davor warnt, Zustände wie in Syrien herbei­zu­führen. Man müsse fried­lich bleiben, abwarten.“

Neue Stufe der Repression

Die folgenden Tage waren geprägt von heftigen Ausein­an­der­set­zungen zwischen Demonstrant*innen und der liba­ne­si­schen Armee. In verschie­denen Städten – allen voran in Tripoli – eska­lierte die Gewalt. Die in einigen Strassen mit Panzern auffah­rende Armee posi­tio­nierte sich auf Dächern, stachelte die Demonstrant*innen zu Angriffen an und zersplit­terte schluss­end­lich die Proteste, indem sie scharfe Muni­tion einsetzte. Am 27. April erlag der 26-jährige Demon­strant Fawaz Fouad Al-Saman seinen durch scharfe Muni­tion der Armee zuge­fügten Verlet­zungen – der erste Verstor­bene im neuen Jahr und eines von insge­samt zwölf als Märtyrer*innen gefei­erten Todes­op­fern seit dem 17. Oktober 2019.

Zwar streitet die Armee ab, von scharfer Muni­tion Gebrauch zu machen. Aller­dings zeigen in den sozialen Medien verbrei­tete Videos aus Tripoli, wie Demonstrant*innen im Rattern von Kalasch­ni­kows die Flucht ergreifen. Je länger die Krise andauert, desto wahr­schein­li­cher wird es, dass die Armee nicht mehr nur Warn­schüsse in die Luft abgibt, sondern vermehrt auch direkt auf Menschen zielen wird. Al-Samans Tod könnte den Auftakt zu einer drama­ti­schen Zuspit­zung der Lage markieren.

Im Zustand der ausweglos schei­nenden Krise versucht die Regie­rung durch den massiven Einsatz der Armee die Kontrolle über die Strasse zu wahren. Dabei setzt sie auf immer skru­pel­lo­sere Mittel. „Die Zunahme der Bruta­lität ist sehr besorg­nis­er­re­gend“, meint auch Adham Hassa­nieh von der Grass­root-Bewe­gung „Li Haqqi“ (‚Für meine Rechte‘). Er ist einer der Initiator*innen der Proteste. Mit erhöhter Gewalt wolle die Armee Gegen­re­ak­tionen provo­zieren und so einen Keil zwischen die revo­lu­tio­nären Gruppen treiben, sagt Adham. Die Bewe­gung müsse sich deshalb besser orga­ni­sieren und sich auf eine klare Linie einigen. Es müsse ein Plan gefasst werden, wie mit der inten­si­vierten Gewalt der Armee umzu­gehen sei und wie die Bewe­gung den Protest so lange wie möglich ohne grös­seres Blut­ver­giessen fort­führen kann.

Nur von Aussen könnte Hilfe kommen

Klar ist: In einem bewaff­neten Konflikt hätte die Revo­lu­ti­ons­be­we­gung keine Chance. Die Hisbollah besitzt mit ihren irani­schen Waffen weitaus gefähr­li­chere Geschütze als bloss ein paar Kalasch­ni­kows und könnte mit den Demonstrant*innen kurzen Prozess machen. Aller­dings muss die Bewe­gung so rasch wie möglich ihr Verhältnis zur mäch­tig­sten Partei und Miliz im Libanon klären und sich ihr gegen­über posi­tio­nieren. Dies ist nötig, um gegen Aussen an Glaub­wür­dig­keit zu gewinnen. Doch viele in der Bewe­gung fürchten sich vor diesem Schritt. Zu oft wurden ihre Mitglieder auf Demon­stra­tionen von Hisbollah-Schlä­gern bedroht und angegriffen.

Solange die Revo­lu­ti­ons­be­we­gung kein klares Konzept zur Verän­de­rung des Landes vorlegen kann, werden sich interne Fronten bilden – entlang der unter­schied­li­chen Ansichten zu Gewalt und Kompro­miss. Als Bewe­gung, die seit Beginn auf eine Führungs­gruppe verzichtet, kann sie nicht mit einer Stimme spre­chen. Die einzelnen Grup­pie­rungen streiten deshalb darüber, ob nun die Zeit dafür gekommen sei. „Wenn es das Bedürfnis danach geben sollte, dann soll dies die Strasse entscheiden“, meint beispiels­weise Jana Nakhal von der Kommu­ni­sti­schen Partei.

Samir Skayni von der KP spitzt zu: „Es braucht eine Gruppe, die den Leuten die Angst nimmt, die einen rich­tigen Plan vorlegt und sich als Front dieser Bewe­gung zur Verfü­gung stellt.“ Für Adham Hassa­nieh von „Li Haqqi“ dagegen wäre dies der falsche Schritt. Niemand habe die „struk­tu­relle, funk­tio­nale und orga­ni­sa­to­ri­sche Stärke“, um das Gesicht der Bewe­gung zu werden, da jede Gruppe auf ihre eigene Ortschaft fokus­siert sei.

Mit all diesen Fragen steht die Revo­lu­ti­ons­be­we­gung erneut an einem Schei­deweg. Sie muss die innere Spal­tung verhin­dern und versu­chen, die Massen wieder auf die Strasse zu bringen, um ihre Forde­rungen wirkungs­mächtig zu prokla­mieren. Die Bewe­gung steht vor der Heraus­for­de­rung, einen Mittelweg zwischen dem Druck von der Strasse und dem Verhin­dern einer Eska­la­tion zu finden. Doch die Zeit drängt. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass das umso schwie­riger wird, je weiter sich die Situa­tion verschlechtert.

Nur durch Hilfe von Aussen könnte das zwischen den Konflikten in Syrien und Israel einge­klemmte Land vor dem Zusam­men­bruch bewahrt werden. Am 1. Mai hat die liba­ne­si­sche Regie­rung deshalb beim Inter­na­tio­nalen Währungs­fonds (IWF) Finanz­hilfen in Milli­ar­den­höhe ange­for­dert. Dass der IWF in der Corona-Krise diese Mittel zur Verfü­gung stellen wird, ist äusserst unwahr­schein­lich. Auch die euro­päi­schen Länder werden sich nicht zu Zahlungen durch­ringen können. Dazu beitragen wird auch das am 30. April verhängte Verbot der Hisbollah in Deutschland.


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