Asyl­su­chende Teen­ager: Vor dem Gesetz nicht gleich

Für die Unter­brin­gung asyl­su­chender Teen­ager gelten kaum gesetz­liche Mindest­stan­dards. Dabei müssten sie gerade in diesem Bereich beson­ders streng sein. Ein Kommentar. 
Bräuchten besonders umfassende Betreuung: minderjährige Asylsuchende. (Foto: Unsplash)

Recher­chen von das Lamm deckten Miss­stände im Zentrum Lili­en­berg für geflüch­tete Minder­jäh­rige in Zürich auf. Sie zeigen, dass es an allem mangelt: zu wenig Platz, zu wenig Personal, zu wenig sani­täre Einrich­tungen. Doch das Problem liegt tiefer: Asyl­su­chende werden recht­lich benachteiligt.

In der Schweiz regelt die Pfle­ge­kin­der­ver­ord­nung (PAVO) seit 1977 die Unter­brin­gung von Kindern und Jugend­li­chen in Heimen. Diese besagt, dass eine Betreu­ungs­person für höch­stens vier Heimbewohner*innen zuständig sein darf. Die Betreu­ungs­per­sonen im Lili­en­berg waren laut eigenen Aussagen für bis zu zehn Jugend­liche zuständig – also mehr als doppelt so viele wie in der PAVO vorgeschrieben.

Zudem müssen laut PAVO Doppel­zimmer minde­stens 13,5 Quadrat­meter gross sein. Für vier Bewohner*innen des Heims braucht es jeweils ein WC, ein Lavabo und eine Dusche. Die Verord­nung besagt auch: „Beson­deren Bedürf­nissen der Leistungs­be­zie­henden ist mit grös­seren Flächen Rech­nung zu tragen.“ Laut ehema­ligen Mitar­bei­tenden sind Zwei­er­zimmer im Lili­en­berg zwischen 9,5 und 13 Quadrat­meter gross. Und auf einem der Stock­werke des Gebäudes teilten sich 34 Personen drei Duschen. Gemäss PAVO müsste es minde­stens acht Duschen geben.

Dennoch: Die AOZ und die Zürcher Sicher­heits­di­rek­tion verstossen nicht gegen das Gesetz. Denn die PAVO muss laut kanto­naler Gesetz­ge­bung in Zürich nicht auf Kinder- und Jugend­heime für minder­jäh­rige Geflüch­tete ange­wandt werden. Für den Asyl­be­reich existieren keine vergleich­baren verbind­li­chen Mindest­stan­dards. Sie werden vor dem Gesetz nicht gleich behan­delt wie andere Jugend­liche und Kinder.

Zwar hat die AOZ im vergan­genen Dezember ein Regle­ment verab­schiedet, welches Mindest­stan­dards enthält. Diese gehen aber nicht weit genug. So legen sie bezüg­lich des Wohn­raums etwa ledig­lich fest, dass unbe­glei­tete Minder­jäh­rige getrennt von Erwach­senen unter­ge­bracht werden müssen.

Dabei wären ange­sichts der Verwund­bar­keit dieser Jugend­li­chen beson­ders hohe Stan­dards für ihre Unter­brin­gung nötig. Sie müssten weit über dieje­nigen der PAVO hinaus­rei­chen. Und den Jugend­li­chen etwa trau­ma­päd­ago­gi­sche Betreuung rund um die Uhr zusi­chern. Nur so besteht die Chance, dass sie, die Teil unserer Gesell­schaft bleiben werden, ihr Trauma aufar­beiten und Vertrauen in ihre neue Umge­bung fassen können.

Das Gegen­teil ist der Fall: Diese jungen Menschen, die teil­weise jahre­lang und unter Gefahren auf der Flucht waren in der Hoff­nung, am Ende einen fried­li­chen Ort zu errei­chen, werden in der Schweiz erneut im Stich gelassen und Gewalt ausgesetzt.

Etwa in Form von regel­mäs­sigen Poli­zei­ein­sätzen im Zentrum. Das führte laut den Aussagen der ehema­ligen Mitar­bei­tenden bereits zur Re-Trau­ma­ti­sie­rung von Jugend­li­chen, die mit unifor­mierten Männern nicht Sicher­heit, sondern Schläge und Folter asso­zi­ieren. Je älter sie werden, desto schwie­riger wird es sein, die lang­fri­stigen Folgen dieser Re-Trau­ma­ti­sie­rung abzu­wenden. Miss­trauen in die Schweizer Gesell­schaft vonseiten der Jugend­li­chen wäre ange­sichts der Zustände im Lili­en­berg durchaus angebracht.

Sofor­tiges Handeln ist drin­gend nötig. Es braucht jetzt mehr und besser geschultes Personal und andere Unter­künfte. Es reicht nicht, zu warten, bis der Vertrag zwischen Sozi­alamt und AOZ im Jahr 2024 ausläuft. Zwei Jahre im Leben eines Teen­agers sind eine lange Zeit und können den Verlauf eines Lebens entschei­dend beein­flussen. Es braucht zudem lang­fri­stig Mindest­stan­dards für die Unter­brin­gung von geflüch­teten Asyl­su­chenden, die regel­mässig und unan­ge­kün­digt über­prüft werden. Diese müssen deut­lich über die Mindest­stan­dards, die in der PAVO defi­niert sind, hinausreichen. 

Dass für jedes Kinder- und Jugend­heim stren­gere Regeln gelten als für dieje­nigen Einrich­tungen, die beson­ders verletz­liche Minder­jäh­rige unter­bringen, zeigt: Diese Teen­ager sind vor dem Gesetz in erster Linie Asyl­su­chende und erst in zweiter Linie schutz­be­dürf­tige Kinder. Höchste Zeit, das zu ändern.


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