Momentan, so scheint es, ist vieles neu verhandelbar. Wer hätte vor zwei Wochen gedacht, dass wir heute darüber reden, wer in welcher Form Geld kriegen wird, ohne dafür zu arbeiten. Wer hätte gedacht, dass wir über vorübergehende Mietzinsreduktionen reden, die Frist zur Einreichung der Steuererklärung verschoben wird oder eine Diskussion über ein temporäres bedingungsloses Grundeinkommen losbricht. Möglich scheint so einiges zu sein. Aber auch wenn sicherlich viele, die in diesem Aushandlungsprozess etwas zu sagen haben, eine faire Lösung für alle anstreben, sind die Resultate nicht für alle gerecht. Denn sowohl Regierung und Verwaltung wie auch viele Medienschaffende scheinen viele Lebensrealitäten nicht oder nur mangelhaft auf dem Schirm zu haben. Für Lebensentwürfe, die von einer durchschnittlichen Existenz mit Arbeitsvertrag, Familie und Reiheneinfamilienhaus abweichen, lässt das Verständnis oftmals zu wünschen übrig.
Immerhin hat man in Bundesbern mittlerweile gemerkt, dass es neben der Kurzarbeitsentschädigung für Arbeitnehmende mit einem fixen Arbeitsvertrag auch ein Instrument braucht, um all diejenigen aufzufangen, die ihr Geld nicht in einem Angestelltenverhältnis, sondern auf der Basis der Selbstständigkeit erwerben. Angedacht ist ein sogenannter Corona-Erwerbsersatz, welcher 80 Prozent des Einkommens aber maximal 196.- CHF pro Tag betragen soll. Dass dies bei einem Acht-Stunden-Tag jedoch lediglich einem Stundenlohn von 24.- CHF entspricht und Selbstständige sich damit nicht nur einen Lohn auszahlen, sondern auch ihren Atelierplatz oder die Miete für den Frisörsalon [1] berappen müssen, scheint bisweilen noch niemanden stutzig gemacht zu haben.
Nicht alle Selbstständige sind Anwälte und Ärztinnen
Wie einseitig die Wahrnehmung der verschiedenen Lebensrealitäten im Bereich der Selbstständigen ist, zeigt auch das Framing, dass der SRF-Bundeshausredaktor Christoph Nufer an der Pressekonferenz vom 20. März verwendete. Er wollte vom Bundesrat wissen, was es mit der Befristung solcher Erwerbsausfallszahlungen für Selbstständige genau auf sich habe. Seine Frage konstruierte er wie folgt: «Jetzt werden ja auch die Erwerbsausfälle von Selbstständigen geregelt. So, dass die ein Taggeld bekommen. Ich sehe, das ist auf 30 Tage befristet. Wenn jetzt zum Beispiel jemand, eine Ärztin oder ein Anwalt, sein Kind selbst betreuen muss… Nach 30 Tagen, so haben wir gerade gehört, ist die Krise ja noch nicht vorbei. Heisst das, dann ist fertig oder kann das verlängert werden? (Minute 56)»[2]. Natürlich spricht nichts dagegen, dass Nufer hier nochmals genauer nachhakt. Dass ihm aber als Beispiele für die betroffene Gruppe spontan nur Ärztinnen und Anwälte einfallen, ist jedoch bezeichnend. Ihm scheint nicht bewusst zu sein, dass ein grosser Teil der Selbstständigen nicht bei den Gutverdienenden zu finden sind, sondern sich als KünstlerInnen, GraphikerInnen, TätowiererInnen oder FotografInnen durchschlagen, die für ein existenzsicherndes Einkommen oftmals noch auf Gastrojobs oder andere Gelegenheitsarbeiten auf Stundenlohnbasis angewiesen sind. Die dort verlorenen Stunden werden aber weder von der Kurzarbeitsentschädigung noch vom Corona-Erwerbsersatz erfasst. Auch diese Lebensrealitäten scheinen in der Diskussion keine Lobby zu haben.
Sogar Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG), der momentan ansonsten einen souveränen Job macht, ist gegenüber solchen blinden Flecken anscheinend nicht gefeilt. So antwortete er in einem Interview in der SRF-Jugendsendung unzipped auf die Frage, wie man sich denn nun in einer Wohngemeinschaft verhalten solle, folgendes: «Gerade in einer WG kann man ja eigentlich schon Distanz halten. […] Heutzutage sind die Wohnungen nicht mehr so klein, dass das nicht geht (Minute 3:36)». Sich vorzustellen, dass es Menschen gibt, die Räumlichkeiten bewohnen, in denen es schlichtweg zu eng ist, um immer zwei Meter Abstand halten zu können, scheint auch ihm nicht leicht zu fallen.
Je weiter weg die Lebenssituation von der Norm ist, desto schlechter ist sie vertreten
Während also etwa die selbstständige Tätowiererin, die sich mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält nur bedingt auf dem Schirm derjenigen ist, die die neuen Verhältnisse aushandeln, sind diejenigen mit noch unkonventionelleren oder gar illegalisierten Lebensrealitäten meist schlichtweg gar nicht vertreten. So konnten die Medienschaffenden an der Pressekonferenz vom 20. März Bundesrat Berset und seine Kollegen (auf der Rednertribüne sassen nur Männer) knapp eine Stunde lang mit Fragen löchern. Man wollte wissen, was mit den SchweizerInnen sei, die gerade noch im Urlaub sind. Man wollte wissen, ob man nun allein im Auto sitzen müsse. Und ob es noch erlaubt sei, joggen zu gehen. Was hingegen unternommen wird, um diejenigen zu schützen, die sowieso schon in prekären Situationen stecken, wurde nicht gefragt. Was sollen die Obdachlosen machen, wenn Notschlafstellen geschlossen werden, weil man darin die Corona-Regeln nicht einhalten kann? Wie sollen sich Sans-Papiers ohne Zugang zu unserem Gesundheitswesen verhalten, wenn sie krank werden? Wer kommt für die Lohnausfälle all derer auf, die sich mit Kurzeinsätzen in der Eventbranche über Wasser halten? Was für Massnahmen trifft man in den Asylzentren, wo die BewohnerInnen die Distanzregel von zwei Metern oftmals nicht einmal im Bett einhalten können, da sie in dreilagigen Kajütenbetten untergebracht werden?
Diese Fragen hat niemand gestellt. Es scheint, als wären die Probleme, die nun in diesen aber auch vielen anderen Lebensrealitäten entstehen, für die Anwesenden entweder nicht der Rede wert oder schlichtweg nicht vorstellbar.
Für einen fairen Deal müsste man alle Lebensrealitäten im Blick haben
Um die Auswirkungen dieser partiellen Blindheit besser zu verstehen, hilft ein kleiner Exkurs in die Philosophie. Laut dem Philosophen John Rawls muss man bei der Aushandlung von Regeln fähig sein, hinter einen sogenannten Schleier des Nichtwissens zu treten, um faire Resultate zu bekommen. Damit meint Rawls, dass man für die Zeit der Verhandlung seine persönliche Lebenssituation vergessen muss. Ob man selbst reich oder arm ist, selbstständig oder angestellt, legalisiert oder illegalisiert. Ob man Managerin einer Bank ist oder täglich unbezahlt auf seine Kinder aufpasst. All das darf im Prozess zur Aushandlung eines fairen Systems bei den verhandelnden Personen keine Rolle spielen.
Vereinfacht kann man Rawls auch so erklären: All diejenigen, die jetzt darüber entscheiden, wer wie viel Unterstützung kriegen soll, müssten dies immer unter der Vorstellung machen, dass sie nach Abschluss dieses Aushandelns irgendwo mitten in der Corona-Krise wiedergeboren werden. Ob sie dann auf der Strasse, im Asyllager, in einem Tätowierstudio oder in einer Villa an der Zürcher Goldküste aufwachen würden, wüsste niemand. Nur wenn man damit rechnen muss, dass man überall landen könnte, werden alle versuchen einen Deal zu finden, der wirklich für alle fair ist.
Doch in der Realität ist es leider oft anders als in der Philosophie. Dass sowohl gewisse RegierungsvertreterInnen wie auch einige Medienschaffende immer wieder versuchen, hinter den Schleier des Nichtwissens zu treten, will ich nicht bestreiten. Ob sie hinter diesem Schleier aber vom Obdachlosen bis zur selbstständigen Graphikerin alle möglichen Realitäten, in die sie potenziell reinrutschen könnten, auf dem Schirm haben, wage ich zu bezweifeln. Ebenso, ob man mit solchen blinden Flecken fähig ist, ein für wirklich alle faires Regelwerk anzupeilen.
[1] Ergänzung (31.3.2020): Der maximale Stundenlohn für Selbstständige, welche einen Betriebsstop geltend machen können, wird eventuell höher liegen als für diejenigen, die lediglich ausgefallene Veranstaltungen geltend machen können. Wenn der Corona-Erwerbsersatz nämlich gleich ausbezahlt wird, wie der Erwerbsersatz im Zivildienst oder im Militär, dann kriegt man die 196.- auch am Wochenende, was bei einer 40h-Woche zu einem durchschnittlichen Stundenlohn von 34.30 CHF führen würde.
[2] Der Corona-Erwebsersatz für selbstständigerwerbende Eltern ist laut der an der Pressekonferenz gegebenen Antwort tatsächlich auf 30 Tage befristet, während die Entschädigung für Arbeitnehmende keine solche zeitliche Limitierung kennt.
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