Corona-Politik: Viele Lebens­welten gehen vergessen

Pres­se­kon­fe­renzen und Medi­en­be­richte zeigen es immer wieder: Denje­nigen, die momentan darüber reden, wie die Coro­na­krise und die darauf­fol­gende Wirt­schafts­krise bewäl­tigt werden sollen, fehlen gewisse Perspek­tiven. Das ist nicht nur unge­recht, es ist extrem problematisch. 
Im neuen Bundesasylzentrums teilen sich 6 BewohnerInnen einen Schlafraum. Die bundesrätliche Distanzregel von 2m können hier nicht einmal im Schlaf eingehalten werden (zgv).
Im neuen Bundesasylzentrums teilen sich 6 BewohnerInnen einen Schlafraum. Die bundesrätliche Distanzregel von 2m können hier nicht einmal im Schlaf eingehalten werden (Foto: zgv).

Momentan, so scheint es, ist vieles neu verhan­delbar. Wer hätte vor zwei Wochen gedacht, dass wir heute darüber reden, wer in welcher Form Geld kriegen wird, ohne dafür zu arbeiten. Wer hätte gedacht, dass wir über vorüber­ge­hende Miet­zins­re­duk­tionen reden, die Frist zur Einrei­chung der Steu­er­erklä­rung verschoben wird oder eine Diskus­sion über ein tempo­räres bedin­gungs­loses Grund­ein­kommen losbricht. Möglich scheint so einiges zu sein. Aber auch wenn sicher­lich viele, die in diesem Aushand­lungs­pro­zess etwas zu sagen haben, eine faire Lösung für alle anstreben, sind die Resul­tate nicht für alle gerecht. Denn sowohl Regie­rung und Verwal­tung wie auch viele Medi­en­schaf­fende scheinen viele Lebens­rea­li­täten nicht oder nur mangel­haft auf dem Schirm zu haben. Für Lebens­ent­würfe, die von einer durch­schnitt­li­chen Existenz mit Arbeits­ver­trag, Familie und Reihen­ein­fa­mi­li­en­haus abwei­chen, lässt das Verständnis oftmals zu wünschen übrig.

Immerhin hat man in Bundes­bern mitt­ler­weile gemerkt, dass es neben der Kurz­ar­beits­ent­schä­di­gung für Arbeit­neh­mende mit einem fixen Arbeits­ver­trag auch ein Instru­ment braucht, um all dieje­nigen aufzu­fangen, die ihr Geld nicht in einem Ange­stell­ten­ver­hältnis, sondern auf der Basis der Selbst­stän­dig­keit erwerben. Ange­dacht ist ein soge­nannter Corona-Erwerbs­er­satz, welcher 80 Prozent des Einkom­mens aber maximal 196.- CHF pro Tag betragen soll. Dass dies bei einem Acht-Stunden-Tag jedoch ledig­lich einem Stun­den­lohn von 24.- CHF entspricht und Selbst­stän­dige sich damit nicht nur einen Lohn auszahlen, sondern auch ihren Atelier­platz oder die Miete für den Frisör­salon [1] berappen müssen, scheint bisweilen noch niemanden stutzig gemacht zu haben.

Nicht alle Selbst­stän­dige sind Anwälte und Ärztinnen

Wie einseitig die Wahr­neh­mung der verschie­denen Lebens­rea­li­täten im Bereich der Selbst­stän­digen ist, zeigt auch das Framing, dass der SRF-Bundes­haus­re­daktor Chri­stoph Nufer an der Pres­se­kon­fe­renz vom 20. März verwen­dete. Er wollte vom Bundesrat wissen, was es mit der Befri­stung solcher Erwerbs­aus­falls­zah­lungen für Selbst­stän­dige genau auf sich habe. Seine Frage konstru­ierte er wie folgt: «Jetzt werden ja auch die Erwerbs­aus­fälle von Selbst­stän­digen gere­gelt. So, dass die ein Taggeld bekommen. Ich sehe, das ist auf 30 Tage befri­stet. Wenn jetzt zum Beispiel jemand, eine Ärztin oder ein Anwalt, sein Kind selbst betreuen muss… Nach 30 Tagen, so haben wir gerade gehört, ist die Krise ja noch nicht vorbei. Heisst das, dann ist fertig oder kann das verlän­gert werden? (Minute 56)»[2]. Natür­lich spricht nichts dagegen, dass Nufer hier noch­mals genauer nach­hakt. Dass ihm aber als Beispiele für die betrof­fene Gruppe spontan nur Ärztinnen und Anwälte einfallen, ist jedoch bezeich­nend. Ihm scheint nicht bewusst zu sein, dass ein grosser Teil der Selbst­stän­digen nicht bei den Gutver­die­nenden zu finden sind, sondern sich als Künst­le­rInnen, Graphi­ke­rInnen, Täto­wie­re­rInnen oder Foto­gra­fInnen durch­schlagen, die für ein existenz­si­cherndes Einkommen oftmals noch auf Gastro­jobs oder andere Gele­gen­heits­ar­beiten auf Stun­den­lohn­basis ange­wiesen sind. Die dort verlo­renen Stunden werden aber weder von der Kurz­ar­beits­ent­schä­di­gung noch vom Corona-Erwerbs­er­satz erfasst. Auch diese Lebens­rea­li­täten scheinen in der Diskus­sion keine Lobby zu haben.

Sogar Daniel Koch vom Bundesamt für Gesund­heit (BAG), der momentan anson­sten einen souve­ränen Job macht, ist gegen­über solchen blinden Flecken anschei­nend nicht gefeilt. So antwor­tete er in einem Inter­view in der SRF-Jugend­sen­dung unzipped auf die Frage, wie man sich denn nun in einer Wohn­ge­mein­schaft verhalten solle, folgendes: «Gerade in einer WG kann man ja eigent­lich schon Distanz halten. […] Heut­zu­tage sind die Wohnungen nicht mehr so klein, dass das nicht geht (Minute 3:36)». Sich vorzu­stellen, dass es Menschen gibt, die Räum­lich­keiten bewohnen, in denen es schlichtweg zu eng ist, um immer zwei Meter Abstand halten zu können, scheint auch ihm nicht leicht zu fallen.

Je weiter weg die Lebens­si­tua­tion von der Norm ist, desto schlechter ist sie vertreten

Während also etwa die selbst­stän­dige Täto­wie­rerin, die sich mit verschie­denen Gele­gen­heits­ar­beiten über Wasser hält nur bedingt auf dem Schirm derje­nigen ist, die die neuen Verhält­nisse aushan­deln, sind dieje­nigen mit noch unkon­ven­tio­nel­leren oder gar ille­ga­li­sierten Lebens­rea­li­täten meist schlichtweg gar nicht vertreten. So konnten die Medi­en­schaf­fenden an der Pres­se­kon­fe­renz vom 20. März Bundesrat Berset und seine Kollegen (auf der Redner­tri­büne sassen nur Männer) knapp eine Stunde lang mit Fragen löchern. Man wollte wissen, was mit den Schwei­ze­rInnen sei, die gerade noch im Urlaub sind. Man wollte wissen, ob man nun allein im Auto sitzen müsse. Und ob es noch erlaubt sei, joggen zu gehen. Was hingegen unter­nommen wird, um dieje­nigen zu schützen, die sowieso schon in prekären Situa­tionen stecken, wurde nicht gefragt. Was sollen die Obdach­losen machen, wenn Notschlaf­stellen geschlossen werden, weil man darin die Corona-Regeln nicht einhalten kann? Wie sollen sich Sans-Papiers ohne Zugang zu unserem Gesund­heits­wesen verhalten, wenn sie krank werden? Wer kommt für die Lohn­aus­fälle all derer auf, die sich mit Kurz­ein­sätzen in der Event­branche über Wasser halten? Was für Mass­nahmen trifft man in den Asyl­zen­tren, wo die Bewoh­ne­rInnen die Distanz­regel von zwei Metern oftmals nicht einmal im Bett einhalten können, da sie in drei­la­gigen Kajü­ten­betten unter­ge­bracht werden?

Diese Fragen hat niemand gestellt. Es scheint, als wären die Probleme, die nun in diesen aber auch vielen anderen Lebens­rea­li­täten entstehen, für die Anwe­senden entweder nicht der Rede wert oder schlichtweg nicht vorstellbar.

Für einen fairen Deal müsste man alle Lebens­rea­li­täten im Blick haben

Um die Auswir­kungen dieser parti­ellen Blind­heit besser zu verstehen, hilft ein kleiner Exkurs in die Philo­so­phie. Laut dem Philo­so­phen John Rawls muss man bei der Aushand­lung von Regeln fähig sein, hinter einen soge­nannten Schleier des Nicht­wis­sens zu treten, um faire Resul­tate zu bekommen. Damit meint Rawls, dass man für die Zeit der Verhand­lung seine persön­liche Lebens­si­tua­tion vergessen muss. Ob man selbst reich oder arm ist, selbst­ständig oder ange­stellt, lega­li­siert oder ille­ga­li­siert. Ob man Mana­gerin einer Bank ist oder täglich unbe­zahlt auf seine Kinder aufpasst. All das darf im Prozess zur Aushand­lung eines fairen Systems bei den verhan­delnden Personen keine Rolle spielen.

Verein­facht kann man Rawls auch so erklären: All dieje­nigen, die jetzt darüber entscheiden, wer wie viel Unter­stüt­zung kriegen soll, müssten dies immer unter der Vorstel­lung machen, dass sie nach Abschluss dieses Aushan­delns irgendwo mitten in der Corona-Krise wieder­ge­boren werden. Ob sie dann auf der Strasse, im Asyl­lager, in einem Täto­wier­studio oder in einer Villa an der Zürcher Gold­küste aufwa­chen würden, wüsste niemand. Nur wenn man damit rechnen muss, dass man überall landen könnte, werden alle versu­chen einen Deal zu finden, der wirk­lich für alle fair ist.

Doch in der Realität ist es leider oft anders als in der Philo­so­phie. Dass sowohl gewisse Regie­rungs­ver­tre­te­rInnen wie auch einige Medi­en­schaf­fende immer wieder versu­chen, hinter den Schleier des Nicht­wis­sens zu treten, will ich nicht bestreiten. Ob sie hinter diesem Schleier aber vom Obdach­losen bis zur selbst­stän­digen Graphi­kerin alle mögli­chen Reali­täten, in die sie poten­ziell rein­rut­schen könnten, auf dem Schirm haben, wage ich zu bezwei­feln. Ebenso, ob man mit solchen blinden Flecken fähig ist, ein für wirk­lich alle faires Regel­werk anzupeilen.

[1] Ergän­zung (31.3.2020): Der maxi­male Stun­den­lohn für Selbst­stän­dige, welche einen Betriebs­stop geltend machen können, wird even­tuell höher liegen als für dieje­nigen, die ledig­lich ausge­fal­lene Veran­stal­tungen geltend machen können. Wenn der Corona-Erwerbs­er­satz nämlich gleich ausbe­zahlt wird, wie der Erwerbs­er­satz im Zivil­dienst oder im Militär, dann kriegt man die 196.- auch am Wochen­ende, was bei einer 40h-Woche zu einem durch­schnitt­li­chen Stun­den­lohn von 34.30 CHF führen würde.

[2] Der Corona-Erwebs­er­satz für selbst­stän­dig­er­wer­bende Eltern ist laut der an der Pres­se­kon­fe­renz gege­benen Antwort tatsäch­lich auf 30 Tage befri­stet, während die Entschä­di­gung für Arbeit­neh­mende keine solche zeit­liche Limi­tie­rung kennt.


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