Der alte Mann und der Müll

Am Strand und im Wasser, im Sand und in Städten: Müll ist in Marokko ein stän­diger Reise­be­gleiter, der das Land vor gravie­rende Umwelt­pro­bleme stellt. Lokale Initia­tiven wie die „Opéra­tion Plage Propre!“ sollen Abhilfe schaffen. Stefan Breit hat an einer ihrer Aktionen teil­ge­nommen — ein Erlebnis, das ihn wieder einmal mit einer essen­zi­ellen Sinn­frage konfron­tiert hat. 
Farbiger Plastik ist einfache Beute für die MülljägerInnen (Foto: Stefan Breit)

Mir fällt ein alter Mann auf. Er ist klein und dünn, und beim Lächeln kommen seine kaputten Zähne zum Vorschein. Jeden Tag zieht er seinen Karren in das kleine marok­ka­ni­sche Fischer­dorf am Atlantik und sammelt für ein beschei­denes Entgelt den Müll der Dorf­be­woh­ne­rInnen ein. Diesen bringt er aus dem Dorf, kippt ihn auf eine Müll­halde und verbrennt ihn. Doch weil der Mann allein ist, schafft er es nicht, allen Müll einzu­sam­meln. Vieles landet am Strand, wird vom Wasser wegge­spült oder vom Wind verweht, bleibt im Sand, in den Gebü­schen oder den Steinen hängen. Das Dorf ist zwar klein, der Strand jedoch gross. Zu gross für den kleinen Mann. So verkommt der Strand zur inof­fi­zi­ellen Müll­halde der Gemeinde.

Doch die Opera­tion Sauberer Strand will das ändern. Überall im Dorf hängen hand­be­schrie­bene Plakate mit der Aufschrift „Opéra­tion Plage Propre!“ – die Dorf­be­woh­ne­rInnen rufen zum Müll­sam­meln am Strand auf. Am Sonntag um 10 Uhr geht es los, Treff­punkt beim Fluss am südli­chen Ende des Strandes.

Marok­ka­ni­sche Böden, Gewässer, Menschen und Tiere – sie alle leiden am Müll

Abfall ist in Marokko eines der gravie­rend­sten Umwelt­pro­bleme. Zahl­reiche Gemeinden verfügen nicht über ein funk­tio­nie­rendes Abfall­sy­stem, Recy­cling steckt in den Kinder­schuhen. Das führt zu verschmutzten Böden und Gewäs­sern, zu Gestank, und letzten Endes zur Ausbrei­tung von Krank­heiten. Zudem ist bekannt, dass nicht nur Tiere, sondern auch Menschen verse­hent­lich kleine Müll­stücke wie Mikro­pla­stik essen. Die Schad­stoffe, die so in unseren Körper gelangen, können zu Unfrucht­bar­keit, Krebs oder Herz­er­kran­kungen führen.

Deshalb versucht die marok­ka­ni­sche Regie­rung, unter anderem unter­stützt von der Welt­bank, das Müll­pro­blem in den Griff zu kriegen. Jüngst hat das Parla­ment ein Verbot für die Herstel­lung, den Verkauf, den Vertrieb und den Import von Einweg-Plastik­säcken erlassen. Doch solchen Bemü­hungen zum Trotz: Der Müll ist immer noch überall dort, wo er nicht sein sollte. Und das fällt dem umwelt­be­wussten und lehrer­haften Durch­schnitts­schweizer natür­lich sofort auf.

Müll ist ein treuer Reise­be­gleiter, genau so wie Kamele und Tajines. Doch weil er ungleich mehr Probleme verur­sacht als letz­tere, beschliesse ich, dem alten Mann und dem Dorf etwas unter die Arme zu greifen.

„Opéra­tion Plage Propre!“

Als ich am Sonntag am Treff­punkt für die Müll­sam­me­l­ope­ra­tion ankomme, hat sich bereits eine beacht­liche Menschen­menge am Strand einge­funden. Irgend­je­mand wirft mir zwei grosse, blaue Plastik­säcke (wieder­ver­wendbar!) zu, Instruk­tionen gibt es keine; zu offen­sicht­lich ist die Aufgabe. Ich geselle mich zu den Fischern, Hotel­an­ge­stellten, Metz­gern und euro­päi­schen Touri­stInnen und lege los. Ein Stift, ein Joghurt­deckel, PET-Flaschen, etwas Unde­fi­nier­bares, viele Plastik­säcke, Schuhe und Sandalen. Woher das alles wohl kommt? Wer hat hier seinen Müll liegen­ge­lassen? Und ist Plastik eigent­lich absicht­lich farbig, damit man ihn beim Einsam­meln besser sieht?

Während des Sammelns schil­dert mir ein Marok­kaner das Problem mit den PET-Flaschen: Die meisten seiner Lands­leute trinken Wasser direkt ab dem Hahn. Wir Touri­stInnen aber haben Geld und schwache Mägen. Deshalb leisten wir uns abge­packtes Flaschen­wasser. Das führt zu extrem viel PET-Müll, welcher das lokale Abfall­sy­stem über­for­dert. Teil­weise werden die Flaschen zwar für die Aufbe­wah­rung von Oliven- oder Arganöl gebraucht, aber es gibt einfach zu viele davon. Die meisten PET-Flaschen landen in der Natur.

Ich stei­gere mich in ein Sammel­fieber. Immer mehr will ich sammeln, immer schneller. Hier noch was, da noch was. Der Sack füllt sich. Ich schäme mich für die Mensch­heit, bin jedoch gleich­zeitig stolz, Teil der Müll­sam­mel­gruppe zu sein. Inner­halb von kürze­ster Zeit sind meine zwei Säcke voll und ich bringe sie zu den markierten Sammel­sta­tionen. Was anschlies­send mit dem Einge­sam­melten passiert, kann mir niemand genau erklären. Sprach­bar­rieren oder Scham mögen Gründe dafür sein. Ein Kani­ster Benzin spricht dann aller­dings eine klare Sprache. Meine Illu­sionen lösen sich in dichtem, schwarzem Rauch auf.

1000 x 10 kg = 10 Tonnen

Von oben brennt die Sonne, von vorne das Feuer, und unter meinen Nägeln die Frage, was das nun alles gebracht hat. In ein paar Monaten sieht der Strand wieder genau gleich aus wie vor unserem Reini­gungs­ri­tual – die ganze Arbeit wird dann bloss ein Tropfen auf den heissen Stein gewesen sein. Klar: Das marok­ka­ni­sche Abfall­pro­blem lässt sich nicht mit zwei Stunden Müll­sam­meln lösen. Ein funk­tio­nie­rendes Abfall­sy­stem aufzu­bauen, braucht sehr viel Zeit und Geld. Und es ist nicht mit einer einzigen, allmäch­tigen Inno­va­tion zu schaffen. Viel­mehr braucht es viele kleine Schritte, um das Bewusst­sein für die Abfall­pro­ble­matik in einer Gesell­schaft zu veran­kern. Das dauert. Und braucht viel­leicht solche Sisy­phos-Aktionen wie die „Opéra­tion Plage Propre!“.

Bis dahin verlasse ich mich auf die Macht der Masse. Würden nämlich alle unge­fähr 1000 Dorf­be­woh­ne­rInnen einmal im Jahr zwei Stunden Arbeit inve­stieren und je 10 Kilo­gramm Abfall auflesen, käme man im Hand­um­drehen auf 10 Tonnen. Aber das ist reiner Konjunktiv, eine blosse Gedan­ken­spie­lerei. In der Realität nehmen wir uns nämlich viel zu wichtig, um uns mit Dreck zu beschäf­tigen. Denn ich wars ja nicht, der den Müll liegen­ge­lassen hat, und krank bin ich vom Müll auch noch nicht. Diese Verant­wor­tungs­dif­fu­sion ist wohl nur zu über­winden, wenn es effi­zi­ente Lösungen gibt, die verhin­dern, dass der Abfall über­haupt in der Natur landet. Viel­leicht auch Verbote, wie etwas dasje­nige von Einweg­pla­stik­säcken in verschie­denen euro­päi­schen Ländern. Manche Lösungen sind aber auch ganz simpel: Das Leben des alten Mannes könnte bestimmt verein­facht werden, würde man am Strand ein paar Abfall­kübel aufstellen.

Podcast-Tipp:

Der Aufbau eines funk­tio­nie­renden Abfall­sy­stems in Ländern wie Marokko ist ein lang­fri­stiges Unter­fangen, das nicht mit einer einzigen Inno­va­tion gelöst werden kann. Viel­mehr führen viele kleine Schritte zum Ziel. Die Radio­sen­dung „In Praise of Incre­men­ta­lism“ von Frea­ko­no­mics Radio disku­tiert solch kurz­fri­stig lang­same Verän­de­rungen mit lang­fri­stig umwäl­zender Schlagkraft.[/mailquote]

 


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