For beauty and for work: Der Vibrator macht’s möglich

Lange hielt sich der Mythos, Vibra­toren seien erfunden worden, um Frauen von Hysterie zu heilen – indem Ärzte ihnen damit Orgasmen verpassten. Das ist nicht nur falsch, sondern verschleiert eine viel wich­ti­gere Geschichte dahinter: Der Vibrator verfe­stigte Gender­kli­schees, mit denen wir bis heute zu kämpfen haben. 
Demonstration mit dem Vibrator im Buch "Beschreibung des Vibrators und Gebrauchsanweisung" von Harald Liedbeck, 1891 (Foto: Wikimedia Commons).

Die Low Rise Jeans ist zurück und nicht nur die deut­sche Come­di­enne Carolin Kebekus wettert, dass Körper­formen kein Trend sind. Denn diese Hose verkör­pert den „heroin chic“ der 1990er, für den Frauen dünn sein und schmale Hüften haben sollten. Männer hingegen sollten vor allem durch ihre defi­nierten Arme auffallen.

Man könnte meinen, diese Geschlechts­s­te­reo­typen der dünnen Frau und des starken Mannes seien über­holt – doch sie sind nach wie vor omni­prä­sent. Und sie haben mehr mit der Geschichte des Vibra­tors zu tun, als man annehmen würde.

Mythos Vibrator

Vermut­lich klingt dieser Zusam­men­hang zunächst unglaub­würdig. Denn einigen Leser*innen ist viel­leicht eher bekannt, dass sich „hyste­ri­sche“ Frauen im späten 19. Jahr­hun­dert von einem Arzt entweder händisch oder mithilfe eines Vibra­tors zum Orgasmus hätten rubbeln lassen, um geheilt zu werden. Der – natür­lich männ­liche – Herr Doktor hätte dabei nicht erkannt, dass er die Frau zum Orgasmus gebracht hatte und diese Ekstase statt­dessen „hyste­ri­schen Paroxysmus“ genannt. Filme wie „In guten Händen“ (2011) mit Maggie Gyllen­haal und unzäh­lige Bücher und Artikel wie Naomi Wolfs „Vagina“ (2013) bestärken diese Geschichte.

Die These stammt aus dem Buch „The Tech­no­logy of Orgasm: ‚Hysteria‘, the Vibrator and Women’s Sexual Satis­fac­tion“ der Tech­nik­hi­sto­ri­kerin Rachel Maines aus dem Jahr 1999. Maines behauptet zudem, dass Ärzte im 19. Jahr­hun­dert davon ausge­gangen sind, Orgasmen könnten nur durch Pene­tra­tion hervor­ge­rufen werden. All dies soll Maines‘ Theorie bestä­tigen, dass Frauen von männ­li­chen Medi­zi­nern in der Praxis unter­drückt und nicht ernst genommen worden sind.

Diese Geschichte ist aber ein Mythos; Maines stellte allerlei Quellen aus verschie­denen Epochen verkürzt und im falschen Kontext dar. Das Einzige, was tatsäch­lich stimmt: Hysterie galt im späten 19. Jahr­hun­dert vor allem als „Frau­en­krank­heit“, die den Sexu­al­trieb beein­flussen, Lähmungen und Krämpfe verur­sa­chen, zu Empfin­dungs­stö­rungen führen und das Bewusst­sein verän­dern konnte.

Hysterie wurde zu einem Sammel­becken für all das, was sich Männer nicht erklären konnten.

Bei Augen­leiden und Nervosität

Der Vibrator hatte zwar einen klar medi­zi­ni­schen Zweck, aller­dings hatte dieser nur am Rande mit Hysterie zu tun. Insbe­son­dere die Behand­lungs­form war nicht so, wie sie Maines beschreibt. Den heute vermut­lich bekann­te­sten Vibrator erfand der Brite Joseph Mortimer Gran­ville 1883: einen Nervenvibrationsapparat.

Gran­ville hütete sich davor, das Gerät bei der Diagnose Hysterie einzu­setzen. Er schrieb in seiner wissen­schaft­li­chen Abhand­lung über Nerven­vi­bra­tion: „I have never yet percussed a female patient“, („Ich habe noch nie eine Pati­entin perkus­siert“ auf Deutsch), also mit dem von ihm entwickelten Gerät behan­delt. Zudem setzte sich der Arzt dafür ein, dass die (Vibrations-)Massagegeräte, wie die frühen Vibra­toren auch genannt wurden, nur von geschultem Personal ange­wandt werden sollten.

Der Behand­lungs­me­thode lag folgende Idee zugrunde: Einem kranken Körper fehlt Energie, die ihm mittels der Vibra­tion von aussen zuge­führt werden kann. Der Kreis­lauf gerät so wieder in Schwung, das Blut zirku­liert schneller und trans­por­tiert „schlechte Bestand­teile“ besser ab.

Gesell­schaft­liche Verän­de­rungen wie die Indu­stria­li­sie­rung gaben der Idee Auftrieb. Viele Menschen glaubten, der tech­ni­sche Fort­schritt bringe den Körper wort­wört­lich zum Vibrieren. Und dass es die medi­zi­ni­sche Vibra­tion als Gegen­kraft brauche, um den „nervösen“ Körper zu beruhigen. 

Die Vibra­tion hatte zunächst viel­fäl­tige Anwen­dungs­weisen, die bei Nervo­sität, Rheuma, Gicht oder Augen­leiden helfen sollte – übri­gens glei­cher­massen bei Frauen und Männern. Auch in der Frau­en­heil­kunde wurde Vibra­tion einge­setzt, meist für Uterus­leiden und Vagi­nal­narben. Die Ärzte waren jedoch pein­lich darauf bedacht, dass „onani­sti­sche Reizung“, wie der Gynä­ko­loge Kurt Witt­hauer 1905 in seinem „Lehr­buch der Vibra­ti­ons­mas­sage mit beson­derer Berück­sich­ti­gung der Gynä­ko­logie“ schrieb, ausge­schlossen war.

Der Vibrator wurde auch bei einer Hyste­rie­dia­gnose verwendet. Aller­dings nicht an den Geni­ta­lien, sondern nur, um die angeb­lich sympto­ma­ti­schen Arm- und Bein-Lähmungen zu lockern.

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Massage für Schön­heit, Jugend und Stärke

Vibra­tion war nur bei wieder­holter, regel­mäs­siger Anwen­dung erfolg­reich. Auch deshalb verbrei­tete sich die Methode rasch weit über die Arzt­praxis hinaus. Vibra­toren wurden zuneh­mend nicht nur in Friseur­sa­lons als Zusatz­dienst­lei­stung ange­boten, sondern fanden auch Eingang in allerlei Haushaltsratgeber.

Die mecha­ni­schen oder elek­tro­me­cha­ni­schen Vibra­ti­ons­ge­räte mit illu­stren Namen wie Veni­vici, Fema- oder Puco-Vibrator und der vermut­lich am weite­sten verbrei­tete Sanax der Berliner Firma Sanitas und seine Schwe­ster­ge­räte Pene­trator oder DoDo-Vibrator über­schwemmten bald den Markt. Die Gerä­te­viel­falt hängt auch mit einem neuen Nutzungs­be­reich zusammen, der ab dem frühen 20. Jahr­hun­dert boomte: die Schönheitspflege.

Mit dem Privat­konsum späte­stens ab den 1920er-Jahren rückten Gebrauchs­mög­lich­keiten wie Schön­heits- und Jugend­an­wen­dungen in den Mittel­punkt – zwar vor allem für Frauen, aber auch Männer sollten davon profi­tieren. Laut Anwen­dungs­bro­schüre sollte etwa ein Vibrator der deut­schen Firma AEG Frauen eine schlanke Taille, einen graziösen Gang und schmale Hüften verschaffen. Sie sollten so Anmut erhalten. Beliebt waren auch straffe Brüste und ein flacher Bauch. Bei Männern stand hingegen eine jugend­liche Figur, eine kräf­tige Lunge, starke Arme und Schul­tern im Vorder­grund. Sie sollten ausdau­ernd und fit für den Beruf werden.

Dasselbe Gerät versprach also, vom Gender abhängig unter­schied­lich zu wirken. Die Idee dahinter: Männer und Frauen hätten unter­schied­liche Körper, die anders auf denselben Einfluss von aussen – in diesem Fall Vibra­tion – reagieren. Gleich­zeitig sind diese Wirkungen stark stereo­ty­pisch geprägt. Frauen sollten schön und schlank, Männer stark und arbeits­fähig sein.

Ausschnitt einer Werbe­bro­schüre des „AEG-Massage Appa­rats“ von 1931: Die Vorteile der Anwen­dung werden in gegen­derter Weise abge­bildet (Quelle: Archiv Stif­tung Deut­sches Tech­nik­mu­seum Berlin, AEG-Bestand, I.2.060 P 02702).

Das Vermächtnis des Vibrators

Auch ohne den Hysterie-Orgasmus-Mythos hat die Geschichte des Vibra­tors genug mit Frauen, dem Patri­ar­chat und Gender­kli­schees zu tun. Sie ist zwar nicht so catchy, weil es nicht direkt um Sex und die Unter­drückung durch Ärzte geht. Der frühe Nutzen der Vibra­toren und anderer Schön­heits­pro­dukte hat die heutige Gesell­schaft aber viel tiefer geprägt, als wir uns einge­stehen möchten.

Mit diesem Mythos konnten wir getrost auf die Auswüchse des Patri­ar­chats vor hundert Jahren zeigen und glauben, dass Ärzte ach so wenig über die weib­liche Sexua­lität wussten, die sie nur auf das Gebären redu­zierten. Wir konnten uns damit in unserem vermeint­li­chen femi­ni­sti­schen Wissen über die Unter­drückung von Frauen in der Geschichte und unserem Fort­schritts­glauben bestärken. Mit der revi­dierten Geschichte des Vibra­tors müssen wir uns hingegen viel selbst­kri­ti­scher auseinandersetzen.

Diese Geschichte zeigt, wie mithilfe von Vibra­toren ein binäres Körper­sy­stem gefe­stigt wurde, das Männer und Frauen grund­le­gend vonein­ander unter­scheidet. Sie zeigt, wie gesell­schaft­liche Rollen­zu­schrei­bungen auch körper­lich zu erfüllen waren. Und wie wir bis heute mit den Geschlech­ter­bil­dern der schönen, schlanken Frau und des starken, leistungs­fä­higen Mannes zu kämpfen haben. 

Noch immer lächeln uns meist schlanke bis sehr schlanke Frauen von Werbe­ta­feln entgegen – sei es für Klei­dung, Cremes oder Tampons. Umge­kehrt werden häufig bereits leicht über­ge­wich­tigen Menschen in der Ärzt*innenpraxis ihre tatsäch­li­chen Krank­heiten abge­spro­chen; die Krank­heits­sym­ptome seien auf ihren unge­sunden Lebens­stil zurück­zu­führen, heisst es dann.

Aber nicht nur das Aussehen unseres Körpers gerät in den Fokus: Die erwar­tete Leistungs­fä­hig­keit des Mannes in der Berufs­welt wird mit der minimen zwei­wö­chigen Vater­schafts­zeit in der Schweiz gar staat­lich gefördert.

In dieser Geschichte war es nicht die Medizin oder die Medi­ziner, die Frauen und ihre Sexua­lität unter­drückten. Viel­mehr war es ein patri­ar­chales System, das sich medi­zi­ni­scher Begrün­dungen bediente, um Frauen und Männer ihre gesell­schaft­li­chen Rollen zuzu­weisen. Unter­stützt durch Konsum: Denn wer dieser Rolle nicht entsprach, konnte dem entge­gen­wirken, indem er oder sie das passende Gerät kaufte oder für die geeig­nete Behand­lung bezahlte.

Die Geschichte des Vibra­tors zeigt, dass wir bei Weitem nicht genug über unseren Körper und dessen Geschichte wissen. Doch wenn wir unsere Gender­kli­schees über Bord werfen wollen, dann müssen wir erst verstehen, woher sie kommen und wie tief sie veran­kert sind. Denn wir sind weit davon entfernt, diese über­wunden zu haben und in einer Gesell­schaft zu leben, in der Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlechter existiert.

Sarah Scheid­mantel (sie/ihr) ist Kultur­wis­sen­schaft­lerin und Medi­zin­hi­sto­ri­kerin. Sie studierte in Weimar, Berlin und Cambridge (UK) Medien- und Kultur­wis­sen­schaften sowie Wissen­schafts­ge­schichte und promo­viert seit 2019 an der Univer­sität Zürich zur Vibra­ti­ons­mas­sage und Weib­lich­keits­kon­zepten um 1900. So möchte sie die histo­ri­sche und poli­ti­sche Dimen­sion von Medizin, Geschlecht und Gesell­schaft beleuchten.


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