Ein Gerichts­ent­scheid gibt Einblick in die Arbeits­weise der Sicherheitsdirektion

Ein Entscheid des Verwal­tungs­ge­richts zeigt: Die Zürcher Sicher­heits­di­rek­tion scheint gewillt, die Grenzen der erlaubten Repres­sion im Umgang mit abge­wie­senen Asyl­su­chenden zu erproben – und ihre Praxis mit wider­recht­li­chen Mitteln zu verteidigen. 
(Foto: unsplash)

„Wir machen nichts, aber wirk­lich gar nichts, ausser das Gesetz zu voll­ziehen“, sagt Mario Fehr an einer Pres­se­kon­fe­renz im November 2018, als er auf wieder­holte Kritik an seiner Migra­ti­ons­po­litik ange­spro­chen wird.

„Nicht alle Personen haben Anwälte hinter sich. Wir wollen die Gleich­be­hand­lung aller“, sagt Mario Fehr im Mai 2018 als Begrün­dung dafür, dass bei mehreren abge­wie­senen Asyl­su­chende geprüft wurde, ob ihr Aufent­halts­status mittels Härte­fall­ge­such regu­liert werden könnte.

„Für den Sicher­heits­di­rektor ist es zentral, dass er sich an Gesetze hält. Das tat ich beim Troja­ner­kauf, das tue ich im Asyl­be­reich“, sagt Mario Fehr dem Tages-Anzeiger im März.

Das ist die Geschichte, die Mario Fehr gern erzählt. Die Geschichte eines SP-Mitglieds, das aufgrund seiner Funk­tion als Sicher­heits­di­rektor dafür verant­wort­lich ist, dass Personen, denen der Bund das Aufent­halts­recht in der Schweiz abspricht, das Land auch tatsäch­lich verlassen. Hart, aber fair – und mit wenig Spiel­raum, schliess­lich voll­ziehe er ja nur Bundes­recht. Das ist sein Narrativ.

Ein kürz­lich gefällter Entscheid des Zürcher Verwal­tungs­ge­richts erzählt jetzt eine andere Geschichte.

„Wir machen nichts, ausser das Gesetz zu vollziehen“

Sie handelt von A., einem abge­wie­senen Asyl­su­chenden, der in der Notun­ter­kunft Urdorf, einem unter­ir­di­schen Bunker, unter­ge­bracht ist. Ärzt*innen atte­stieren ihm schwer­wie­gende sowohl psychi­sche als auch physi­sche Erkran­kungen. A. leidet unter anderem an Tuber­ku­lose. In der Verfas­sung wird ihm Nothilfe garan­tiert, in Zürich sind das 8.50 Franken pro Tag. Seit 2017 erhält die Nothilfe aber nur noch, wer inner­halb vorge­ge­bener Zeit­fen­ster zwei Mal pro Tag im Bunker eine Unter­schrift hinter­legt – beim Personal der privaten und gewinn­ori­en­tierten Firma ORS Service AG, die den Bunker im Auftrag der Sicher­heits­di­rek­tion betreibt (das Lamm berich­tete). Offi­ziell, um die Bedürf­tig­keit der Nothilfe-Bezie­henden fest­zu­stellen. Also um fest­zu­stellen, ob sie sich auch tatsäch­lich in der Unter­kunft aufhalten. Wer nicht in der Unter­kunft über­nachte, habe das Geld auch nicht wirk­lich nötig, so die Logik dahinter.

Diese Zeit­fen­ster hat A. mehr­mals verpasst. Obwohl er an den betref­fenden Tagen tatsäch­lich im Bunker war; niemand bestreitet das. Seine Bedürf­tig­keit wäre damit eigent­lich ausge­wiesen gewesen. Trotzdem wurde ihm die Auszah­lung der Nothilfe verweigert.

Dagegen, dass ihm die Nothilfe-Auszah­lung verwei­gert wurde, hat der Mann Beschwerde beim Sozi­alamt einge­reicht. Ausserdem forderte er, aufgrund seines prekären Gesund­heits­zu­stands in eine ober­ir­di­sche Unter­kunft verlegt zu werden.

Sowohl das Sozi­alamt als auch die ihm über­ge­ord­nete Sicher­heits­di­rek­tion lehnten seine Anträge ab, wogegen A. vor dem Verwal­tungs­ge­richt rekur­rierte. Mit Erfolg.

Das Verwal­tungs­ge­richt stellt fest, dass seine Beschwerde von Sozi­alamt und Sicher­heits­di­rek­tion zu Unrecht abge­wiesen wurde. Weil der Mann sich in der Unter­kunft aufge­halten hat, hätte er die Anfor­de­rungen für die durch die Verfas­sung garan­tierte Nothilfe-Auszah­lung erfüllt; sie wurde ihm zu Unrecht verwei­gert. Und zu Unrecht blieb ihm trotz schwer­wie­gender psychi­scher und physi­scher Erkran­kung die Verset­zung in eine ober­ir­di­sche Unter­kunft verwehrt. Obwohl die Unter­brin­gung in einem Bunker bei diesem Gesund­heits­zu­stand gegen das in Artikel 3 der Euro­päi­schen Menschen­rechts­kon­ven­tion (EMRK) fest­ge­hal­tene „Verbot der unmensch­li­chen oder ernied­ri­genden Behand­lung“ verstösst.

Hat die Sicher­heits­di­rek­tion einfach das Gesetz voll­zogen? Nein. Sie ging viel­mehr härter vor, als das Gesetz erlaubt. Es ist erfreu­lich, dass sie jetzt vom Verwal­tungs­ge­richt zurecht gewiesen wurde. Dass es so weit kommen konnte, ist aber keines­falls selbstverständlich.

„Nicht alle Personen haben Anwälte hinter sich. Wir wollen die Gleich­be­hand­lung aller“

Denn der Weg ans Gericht ist für Nothilfe-Empfänger*innen lang und beschwer­lich. Wenn einem oder einer abge­wie­senen Asyl­su­chenden vom Sozi­alamt ein Recht nicht zuge­standen wird, muss zunächst eine Beschwerde einge­reicht werden – beim Sozi­alamt selbst. Wenn diese Beschwerde abge­lehnt wird, kann dagegen Rekurs einge­legt werden – bei der Rekurs­stelle der Sicher­heits­di­rek­tion. Diese ist direkt Mario Fehr unter­stellt. Und erst dann, wenn die Sicher­heits­di­rek­tion einen Entscheid gefällt hat, kann dieser Entscheid beim Verwal­tungs­ge­richt ange­fochten werden. Erst dann wird das Anliegen von einer von der Sicher­heits­di­rek­tion unab­hän­gigen Instanz geprüft.

Dass der jetzige Entscheid erreicht wurde, war also nur dank des Durch­hal­te­ver­mö­gens von A. – und vor allem dank des grossen Enga­ge­ments eines privaten Anwalts – möglich. Ohne ihn hätte der Marsch durch die Instanzen nicht bewäl­tigt werden können. Aber: „Nicht alle Personen haben Anwälte hinter sich.“ Die grosse Mehr­heit abge­wie­sener Asyl­su­chender hat die Mittel nicht, ihr Anliegen über­haupt von einer unab­hän­gigen Stelle prüfen zu lassen – und sich so gegen die Repres­sion vonseiten der Behörden zu wehren. Auch wenn sie weiter geht als erlaubt, muss sich die Sicher­heits­di­rek­tion also kaum vor Wider­stand fürchten. Und das ist ihr sicher­lich bestens bekannt.

„Für den Sicher­heits­di­rektor ist es zentral, dass er sich an Gesetze hält“

Aber damit nicht genug: A. und seinem Anwalt wurden auf dem Weg ans Verwal­tungs­ge­richt von Sozi­alamt und Sicher­heits­di­rek­tion mehr­mals wider­recht­lich Steine in den Weg gelegt.

Als der zustän­dige Anwalt Beschwerde beim Sozi­alamt einreichte, verlangte er Einsicht in alle für den Fall rele­vanten Akten. Das Recht auf Akten­ein­sicht steht allen zu, die sich in einem derar­tigen Verfahren befinden: Es ist elemen­tarer Bestand­teil des „recht­li­chen Gehörs“.

Das Sozi­alamt setzte sich indes unbe­küm­mert über dieses Recht hinweg und verwei­gerte dem Anwalt voll­stän­dige Akten­ein­sicht. Statt­dessen stellte das Amt nur eine Auswahl der gefor­derten Akten zu – und wies schon drei Tage nach ihrer Zustel­lung die Beschwerde ab. Ohne dass dem Anwalt über­haupt genug Zeit geblieben wäre, die Akten zu prüfen.

Die Rekurs­stelle der Sicher­heits­di­rek­tion erkannte an, dass das Sozi­alamt damit gegen das Recht auf Akten­ein­sicht verstossen hat. Das hinderte sie aber nicht daran, trotzdem einen Entscheid zu fällen und den Rekurs des abge­wie­senen Asyl­su­chenden abzu­lehnen – obwohl dieser zu diesem Zeit­punkt noch immer nicht Einblick in alle nötigen Akten hatte.

Immerhin wies die Sicher­heits­di­rek­tion in ihrem Beschluss das Sozi­alamt an, dem Anwalt endlich Einsicht in die Akten zu gewähren. Die Anwei­sung stiess dort jedoch nicht auf Inter­esse. Das Sozi­alamt beharrte trotz mehr­ma­liger Anfragen darauf, die Akten­ein­sicht zu verweigern.

Damit haben sowohl das Sozi­alamt als auch die Rekurs­stelle der Sicher­heits­di­rek­tion das recht­liche Gehör des Mannes „in schwer­wie­gender Weise“ verletzt, wie das Verwal­tungs­ge­richt fest­hält. Hinzu kommen weitere Vergehen, die das Gericht fest­stellt: Die Sicher­heits­di­rek­tion hat ihren Entscheid unzu­rei­chend begründet, womit sie gegen die Begrün­dungs­pflicht verstossen hat. Und sie habe dafür zu viel Zeit in Anspruch genommen, womit das Rechts­ver­zö­ge­rungs­verbot verletzt wurde. Kurz: Beim Versuch, ihre Härte im Umgang mit dem abge­wie­senen Asyl­be­werber zu vertei­digen, griff die Sicher­heits­di­rek­tion zu wider­recht­li­chen Massnahmen.

Nur eine der beiden Geschichten kann wahr sein

Trotz aller Versuche, A. daran zu hindern, seine Rechte einfor­dern zu können, wurde das Sozi­alamt – und damit auch die ihm vorste­hende Sicher­heits­di­rek­tion – jetzt zurecht­ge­wiesen. Bei den Moda­li­täten für die Auszah­lung der Nothilfe müssen gering­fü­gige Anpas­sungen vorge­nommen werden, wie Mario Fehrs Pres­se­spre­cher Daniel Winter gegen­über dem Lamm bestä­tigt.

Aber der Gerichts­ent­scheid bietet dennoch kaum Anlass zur Freude. Die Gutheis­sung von A.s Beschwerde ist ein Einzel­fall, das Vorgehen der Zürcher Behörden ist es mit an Sicher­heit gren­zender Wahr­schein­lich­keit nicht. Der Entscheid ist deshalb weniger ein Hoff­nungs­schimmer – als viel­mehr eine Offen­ba­rung der Hoff­nungs­lo­sig­keit, mit der sich Personen ohne gere­gelten Aufent­halts­stauts im Regime von Mario Fehr konfron­tiert sehen.

Die Geschichte von A. zeichnet das Bild einer Sicher­heits­di­rek­tion, die die Grenzen der erlaubten Repres­sion erprobt – und die bereit ist, sie zu über­schreiten. Die darum weiss, dass es für die davon betrof­fenen Personen kaum Wege gibt, sich dagegen zu wehren. Und die sie, sollten sie es doch versu­chen, mit wider­recht­li­chen Mitteln daran zu hindern versucht.

Die Geschichte von A. steht derje­nigen von Mario Fehr diame­tral gegenüber.

 


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