„Die Tattoo-Branche hat sich schon immer selbst zu helfen gewusst“

Unter dem Lock­down leiden zahl­reiche Berufs­gruppen. Auch die Tattoo-Branche ist betroffen – und das, zur bei vielen umsatz­stärk­sten Jahres­zeit. Warum man in der Branche dennoch nicht verzagt und wie man sich selbst zu Hilfen weiss, erklärt der Zürcher Täto­wierer Janik Jehle im Inter­view. Zusammen mit anderen rief er das «Isola­tion Art Project» ins Leben. 
Symbolbild (Unsplash)

Das Lamm: Die momen­tane Lock­down-Situa­tion trifft Selbst­stän­dige und Menschen aus der Krea­tiv­branche beson­ders hart. Welche Auswir­kungen hat die COVID-19 Krise auf die Tattoo-Branche?

Janik Jehle: Alle Läden sind dicht, alle Kunden­ter­mine wurden abge­sagt. Das macht natür­lich Sinn: Wir sind selten kürzer als zwei bis vier Stunden an einem Kunden dran und wegen der Art der Arbeit ist die Ansteckungs­ge­fahr nicht vernach­läs­sigbar. Die wirt­schaft­liche Situa­tion ist dennoch ungün­stig, denn unsere Einnahmen sind stark saison­ab­hängig. Der Erwerbs­aus­fall­ersatz, der uns zusteht, richtet sich nach dem Durch­schnitt der Einnahmen von 2019, doch gerade die Früh­jahrs­mo­nate gene­rieren für uns Täto­wie­re­rInnen über­durch­schnitt­lich viel Umsatz, welcher uns als Polster für das rest­liche Jahr dient. Wenn die Mass­nahmen verlän­gert werden, dürfen wir frühe­stens im Hoch­sommer wieder arbeiten – und wir rechnen nicht damit, dass sich die Menschen dann nach langem Zuhau­se­sitzen als erstes werden täto­wieren lassen.

Denkst du, es wird zu Studio­schlies­sungen kommen, wenn der Lock­down länger anhalten wird?

Das ist zum jetzigen Zeit­punkt noch schwierig abzu­schätzen. Einer­seits sind viele Vermieter gerade sehr soli­da­risch. Zumin­dest höre ich das in meinem Umfeld. Wie stark die Branche als Ganzes leiden wird, hängt wohl stark von der Dauer der Mass­nahmen ab. Klar ist aber, dass die kleinen Studios sicher mehr leiden werden als die grossen Tattoo-Studio-Ketten, was die Szene homo­gener machen kann. Das ist bei uns ähnlich wie in anderen Bran­chen, wo es viele kleine Anbieter und einige Quasi-Mono­po­li­sten gibt.

Und wie sieht deine Situa­tion aus?

Ich mache mir schon Sorgen. Finan­zi­elle Hilfe vom Kanton ist erst auf Ende April zu erwarten. Aber in der Branche sind wir uns eh einig: Wir wollen uns auch selber helfen. Unser Berufs­tand ist nicht unbe­dingt dafür bekannt, gut zu sein im Umgang mit Büro­kratie und Papier­kram. Aber als Commu­nity haben wir den Willen, Neues zu erschaffen und uns selbst zu helfen.

Du sprichst das Isola­tion Art Project an. Wie kam es dazu?

Das Projekt ist aus einer WhatsApp-Gruppe von 60 oder 70 Täto­wie­re­rInnen entstanden, mitt­ler­weile sind es rund 100 Personen, in welcher zuerst nur Merk­blätter, Links und Formu­lare betref­fend der momen­tanen Lage ausge­tauscht wurden. R.J Tattoo aus Bern hatte dann die Idee, dass alle zusammen etwas auf die Beine stellen könnten. Daraus entstand dann das Isola­tion Art Project: ein vorerst virtu­elles Gemein­schafts­pro­jekt, das alle Seiten unseres Kunst­hand­werks beleuchten soll. Als Platt­form dient uns Insta­gram. Täto­wie­re­rInnen aus der ganzen Schweiz können dort Kunst­werke, Prints oder Ähnli­ches, was sie in dieser Zeit erstellen, hoch­laden und uns darauf taggen. Wir versu­chen dann, diese Werke zu promoten und aufzu­zeigen, wie divers und kreativ die Commu­nity und ihre Mitglieder ist. Wenn Künst­le­rInnen einzelne Werke zudem verkaufen wollen, helfen wir ihnen als eine Art Schau­fen­ster bei der Vermarktung.

Die meisten Werke stammen von einzelnen Täto­wie­re­rInnen, es gibt aber auch Gemein­schafts­pro­jekte, an denen gerade mehrere Personen mitwirken, wie die WC-Papier­rolle vom Berner Täto­wierer David Ryf etwa: Diese wird rumge­schickt und koope­rativ bearbeitet.

Das Ziel des Isola­tion Art Project ist es einer­seits, ein Gemein­schafts­ge­fühl zu schaffen und uns gegen­seitig dazu zu moti­vieren, weiterhin kreativ zu sein. Ande­rer­seits möchten wir zu einem späteren Zeit­punkt die Arbeiten sammeln und als Buch heraus­geben sowie eine Ausstel­lung der Werke organisieren.

Parti­zi­pa­tive Krea­ti­vität in der Not: Eines der Projekte für das Isola­tion Art Project stammt von Täto­wierer David Ryf und macht jetzt die Runde: JedeR inter­es­sierte Künst­lerIn malt ein Feld der WC-Papier Rolle im eigenen Stil aus. (© David Ryf)

Erwar­test du, dass mit Hilfe des Projekts ein Teil der finan­zi­ellen Ausfälle aufge­fangen werden kann?

Der Erlös soll an stark betrof­fene Personen inner­halb der Commu­nity zurück­fliessen. Die Produk­tion des Buches möchten wir dagegen durch Spenden decken – alles gespen­dete Geld, welches die Produk­ti­ons­ko­sten über­steigt, möchten wir spenden. Damit möchten wir auch andere Menschen­gruppen unter­stützen, die sich in dieser Lage weniger gut selbst helfen können als wir.

Du redest davon, durch dieses Projekt auch das Gemein­schafts­ge­fühl zu stärken. Wie eng ist die Tattoo-Commu­nity in der Schweiz mitein­ander vernetzt?

Vor der Krise gab es schon regen Kontakt zwischen verschie­denen Studios, aber es gab nicht wirk­lich dieses Zusam­men­halts­ge­fühl, das jetzt am entstehen ist. Ich glaube, es ist in den letzten Wochen vielen bewusst geworden, dass wir unsere Krea­ti­vität nutzen können, um die Auswir­kungen dieser Notlage für uns etwas abzu­mil­dern, was ein Vorteil gegen­über anderen Bran­chen ist – sofern wir zusam­men­ar­beiten und uns gegen­seitig unter­stützen. Ich hätte nicht erwartet, dass inner­halb weniger Tage fast die ganze Tattoo-Szene der Schweiz in diesem Ausmass zusam­men­rückt. Durch das Isola­tion Art Project haben sich auch neue Chats gebildet, etwa einer für Menschen aus der Risi­ko­gruppe inner­halb der Branche, indem man sich gegen­seitig berät und unter­stützt. Dass sich dieser bunte Haufen so orga­ni­sieren konnte, beein­druckt mich.


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