Geschichte und Gegen­wart des Juch-Areals

Am 22. Mai wird das besetzte Juch-Areal geräumt. Danach soll es dem Erdboden gleich gemacht und als Bauplatz für die benach­barte Baustelle des Eishockey­sta­dions genutzt werden. Mit dem Abriss soll ein histo­risch bela­steter Ort verschwinden. Er erzählt die Geschichte einer Schweiz der Ausbeu­tung und Ausgren­zung, die gerne unter dem Schutt der Zeit versteckt wird. 

1962 eröff­nete in Zürich Altstetten der Baumei­ster­ver­band die Wohn­ba­racken des heutigen Juch-Areals. Im Zuge des Wirt­schafts­wachs­tums der dama­ligen Jahre brauchte die Schweiz drin­gend Arbeits­kräfte. „Ohne Gastarbeiter*innen wäre der Wirt­schafts­auf­schwung und der Aufstieg vieler Schweizer Arbeiter*innen in die Mittel­schicht nicht möglich gewesen“, sagt der Migra­tions- und Rassis­mus­for­scher Rohit Jain. Unter­ge­bracht wurden die Arbeiter*innen aus Italien an allen mögli­chen Orten – in Häusern, die kurz vor dem Abriss standen, oder in baufäl­ligen Holzbaracken.

Schon damals wurde Kritik an dieser Praxis geäus­sert. Etwa vom Poli­tiker Hans Hilfiker vom Landes­ring der Unab­hän­gigen, den die Neuen Zürcher Nach­richten bei der Eröff­nung der Baracken zitierten. Er kriti­sierte die strikte Tren­nung nach Natio­na­lität der Arbeiter*innen. Während für Schweizer*innen genos­sen­schaft­li­cher und kommu­naler Wohn­raum zur Verfü­gung gestellt wurde, mussten migrierte Arbeiter*innen in Notlö­sungen und Abbruch­häu­sern unter­kommen. Eine dieser Unter­künfte waren die Baracken auf dem Juch-Areal.

Auslän­di­sche Arbeiter*innen wurden nicht als Teil der Gesell­schaft ange­sehen. Ihre Anwe­sen­heit wurde höch­stens geduldet. Jegliche Teil­habe am sozialen Leben wurde ihnen erschwert oder gar verun­mög­licht. „Gastarbeiter*innen waren oft in Baracken unter unmensch­li­chen Bedin­gungen unter­ge­bracht“, sagt Rohit Jain, „ihre Fami­lien durften nicht nach­ziehen, sie wurden aus Geschäften und öffent­li­chen Räumen verwiesen und tagtäg­lich beleidigt.“

Viele dieser Diskri­mi­nie­rungen, in erster Linie die schlechte Wohn­si­tua­tion, seien damals eigent­lich bekannt, aber Über­frem­dungs­angst und Tech­no­kratie poli­tisch stärker gewesen. „Beson­ders tragisch war der poli­ti­sche Wille, den Fami­li­en­nachzug zu verbieten, um eine Nieder­las­sung von Gastarbeiter*innen zu verhin­dern“, sagt der Sozi­al­an­thro­po­loge. Die damit verbun­denen Trau­mata in betrof­fenen Fami­lien würden bis heute nach­wirken. Die offi­zi­elle Schweiz hat sich dafür nie entschul­digt. Jain: „Das ist ein Skandal!“

Die neue Nutzung

Die Baracken auf dem Juch-Areal wurden 2006 von der Asyl­or­ga­ni­sa­tion Zürich (AOZ) über­nommen. Sie brachte dort bis zu 250 Menschen unter. Bis 2013 lebten dort zusätz­lich noch 50 portu­gie­si­sche Arbeiter*innen. Danach wurden die Baracken zum Test­be­trieb für das neue Bundes­asyl­zen­trum umge­nutzt. „Schritt um Schritt zum geschlos­senen Zentrum“, titelte eine Medi­en­mit­tei­lung der Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Augenauf im Jahr 2014. Die unnö­tige Kaser­nie­rung so vieler Menschen auf so kleinem Raum würde unwei­ger­lich zu Konflikten führen, so die Organisation.

Im Oktober 2019 zog das Bundes­asyl­zen­trum nach Zürich West um. Prompt gerieten die dortigen Verhält­nisse in Kritik, die aber bald wieder verpuffte. Am Ende des glei­chen Monats wurde das Juch-Areal schliess­lich besetzt. Anders als die Stadt, welche die Baracken schnellst­mög­lich dem Erdboden gleich­ma­chen will, machen die Besetzer*innen seit Beginn ihrer Nutzung auf die Geschichte der Baracken aufmerksam.

Und auch diese Foto­re­por­tage möchte einen Teil der Geschichte und der Gegen­wart eines Ortes fest­halten, der jetzt wohl für immer verschwinden wird.

 


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