Liebe 20 Minuten-Redaktion…

...wir müssen reden. Und zwar über das Thema Wickeln im ÖV, um genauer zu sein: Über eure Art, darüber zu berichten und darüber, dass ihr es tut. Und über Leser­re­porter und über Klick­zahlen müssen wir auch reden. Liebe 20 Minuten-Redak­tion, bei euch läuft mächtig was schief. Ein offener Brief unserer Kolum­ni­stin Miriam Suter. 

Liebe 20 Minuten-Redak­tion, ich weiss, die Medi­en­welt befindet sich in einer Krise. Ich weiss, dass Stress auf vielen Redak­tionen zum Grund­rau­schen geworden ist und ich kenne das Gefühl, wenn der Chef oder die Chefin einem im Nacken liegt mit Klick­zahlen, die es zu errei­chen gilt. Aber das sind alles keine Gründe dafür, als Journalist*in Berufs­ethik und Menschen­würde mit Füssen zu treten. Aber genau das habt ihr getan mit eurer Bericht­erstat­tung zum „Wickel­mami”, wie ihr die Causa betitelt.

Am 16. August habt ihr einen Artikel veröf­fent­licht über eine Mutter, die im Inter­city von Bern nach Zürich ihr Baby in einem Vierer­ab­teil wickelte. Dieser Artikel ist nicht durch eure eigene Recherche entstanden, sondern wurde ‚dank‘ dem Mate­rial eines Leser­re­por­ters ange­fer­tigt. Der hat sich dermassen über die wickelnde Mutter aufge­regt, dass er sie foto­gra­fiert und das Bild an euch geschickt hat. Ob ihr euren rasenden Reporter gefragt habt, ob das Bild einver­nehm­lich gemacht wurde, weiss ich nicht. Ich lehne mich hier aber mal weit aus dem Fenster und sage: Ich vermute, wohl eher nicht. Weil eben, die Klick­zahlen, gelled.

Das Wickeln, so heisst es im Artikel weiter, sei so störend gewesen, dass sich „viele Personen die Nase zuhielten” oder „weiter gingen, um sich woan­ders hin zu setzen”. Immerhin lasst ihr im Artikel die SBB-Spre­cherin Rebecca Spring zu Wort kommen, die sagt, dass das Wickeln von Kindern in den Zügen grund­sätz­lich erlaubt sei. Zum Artikel stellt ihr eine Umfrage, ob die User*innen es in Ordnung finden, wenn ein Kind im Zug gewickelt wird. Klar, für den Traffic.

Grund­sätz­lich hätte man die Geschichte so stehen lassen können. Habt ihr aber nicht. Die Klick­zahlen mussten so gut gewesen sein, dass ihr noch mehrere Nach­züg­ler­ge­schichten dazu gemacht habt, unter anderem eine über den offenen Brief der Blog­gerin Tanja Suppiger, die sich auf Face­book hinter die Mutter stellt und ihre Unter­stüt­zung ausspricht. Und ihr habt darüber geschrieben, dass das Baby der betrof­fenen Mutter schwer krank ist. Dafür habt ihr immerhin mit der Mutter gespro­chen, die euch dann erzählte, dass sie nicht wusste, dass sie foto­gra­fiert wurde. Dass der Artikel sie zwar nicht gestört habe, einige Kommen­tare sie aber sehr verletzten und an sich selbst zwei­feln liessen.

Und genau dort, liebe 20 Minuten-Redak­tion, wäre schon lange ein Umdenken ange­bracht gewesen. Als Medium mit einer solchen Reich­weite, wie ihr sie habt – ihr erreicht täglich über zwei Millionen Menschen –, erwarte ich das von euch. Man hätte die Nach­züg­ler­ge­schichten auch ganz anders machen können. Etwa zur Frage, ob es in den SBB-Zügen genü­gend Wickel­mög­lich­keiten gibt. Statt­dessen veröf­fent­licht ihr ein heim­lich gemachtes Foto von einer Frau, deren persön­li­ches Schicksal mit der Krank­heit ihres Babys ihr später auch noch in eurer Zeitung ausschlachtet.

Dass sich eine Frau 2019 tatsäch­lich noch immer schämen muss, wenn sie ihr Kind in der Öffent­lich­keit wickelt oder stillt, ist auch Arti­keln wie euren zu verdanken. Dass die Frau dafür öffent­lich an den Pranger gestellt wird und man in euren Kommen­tar­spalten gar von ihr verlangt, sich öffent­lich für ihr ‚Verhalten‘ zu entschul­digen, ist einer über­trieben klick­geilen Art von Jour­na­lismus geschuldet, wie ihr ihn betreibt. Es ist eine bewusste redak­tio­nelle Entschei­dung von euch, mit Frau­en­feind­lich­keit Geld zu machen.

Mit Arti­kel­se­rien wie dem „Wickel­mami” befeuert ihr stetig das patri­ar­cha­li­sche Bild einer Frau, die ausser schön aussehen und still­sitzen gar nichts darf. Sie soll bitte Kinder kriegen und sich gern allein um sie kümmern, aber wickeln oder stillen, nein, das soll bitte im Verbor­genen geschehen, will ja keiner sehen sowas.

Hat sie tatsäch­lich die Chuzpe, das in der Öffent­lich­keit zu tun – weil sie viel­leicht nirgends anders hin kann –, wird sie medial ausge­buht, des Saals im Bundes­haus verwiesen oder wie bei euch mit Foto Teil einer mehr­tei­ligen Bericht­erstat­tung. Was es mit einer Frau anstellen kann, die für ihr Verhalten medial ausge­stellt wird, deren persön­liche Geschichte an die Öffent­lich­keit gezerrt und für Profit ins schier Unend­liche ausge­schlachtet wird: Davon kann euch Jolanda Spiess-Hegglin ein Lied singen. Ich empfehle euch drin­gend, ihre Eröff­nungs­rede vom letzt­jäh­rigen Report­er­forum in Zürich nach­zu­lesen. Und sie euch anschlies­send viel­leicht auszu­drucken und als Mani­fest in die Redak­tion zu hängen.


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