Den Femi­nismus in Mexiko zu leben, ist sehr anstrengend

Der Kampf der mexi­ka­ni­schen Frauen ist  viel­fältig und kollektiv. Um zu verstehen, welche Trag­weite er im Leben femi­ni­stisch aktiver Mexi­ka­ne­rinnen hat, gilt es, ihn in seiner Ganz­heit zu betrachten. 
Eine Demonstrantin zeigt ihr Transparent mit der Aufschrift „der Präsident vergisst, dass wir überall sind“ an der diesjährigen Demonstration vom 8. März in Cuernavaca, Morelos. (Mar Ramírez)

Aktu­elle Stati­stiken belegen, dass in Mexiko täglich zehn Frauen getötet werden. Alleine zwischen Januar und Juni 2020 verzeich­nete das SESNSP (Staats­se­kre­ta­riat für natio­nale Sicher­heit) 1’972 Morde an Frauen. Ein trau­riger Rekord. In derselben Zeit­spanne gingen zudem über 132’000 Notrufe aufgrund von Gewalt gegen Frauen ein.

Auf all das macht der femi­ni­sti­sche Kampftag aufmerksam. Der Schrei „Nos queremos vivas“ (Wir wollen uns lebendig), der jeweils am 8. März durch die Strassen schallt, ist der gemein­same Bezugs­punkt aller Grup­pie­rungen, Kollek­tive und Frauen, die die Miss­hand­lung, das Verschwinden oder die Ermor­dung von Frauen an die Öffent­lich­keit bringen wollen.

Darüber hinaus wird gefor­dert, dass die Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung auf alle mexi­ka­ni­schen Bundes­staaten ausge­weitet wird, Fälle von Gewalt gegen Frauen straf­recht­lich zu verfolgen sind und das Bedin­gungen geschaffen werden, die es erlauben, in Würde und Gleich­be­rech­ti­gung leben zu können. Es ist ein Kampf, der täglich statt­findet und somit über die medialen Bilder der Beset­zung der natio­nalen Menschen­rechts­kom­mis­sion, die Graf­fitis auf histo­ri­schen Denk­mä­lern oder die Hash­tags auf Social Media hinausgeht.

Wie jedes Jahr wurden auch am dies­jäh­rigen 8. März Märsche in allen Bundes­haupt­städten des Landes abge­halten. Wegen der Pandemie zwar in klei­nerer Zahl, aber dafür mehr als je zuvor als poli­ti­scher Akt, mit welchem dem Ruf „nunca más gozarán de nuestro silencio“ (nie wieder werden sie unser Schweigen geniessen) nach­ge­kommen werden soll.

Demon­stran­tinnen mit Plakaten von verschwun­denen und ermor­deten Frauen am 8. März in Mexiko City. (Foto: Eunice Adorno, cortesía corri­ente alterna)

„Wir bitten sie darum, uns nicht zu töten“

„Die Märsche in Mexiko sind eine Gele­gen­heit, darum zu bitten, uns nicht zu töten. Ich verstehe immer noch nicht, warum ich das jedes Jahr rufen muss“, sagt die Dozentin für Kultur­wis­sen­schaften Benelli Veláz­quez Fernández. „Als ich in Wien war, war ich beein­druckt davon, dass die Slogans den Gehäl­tern und Arbeits­plätzen galten, aber niemand trug Trans­pa­rente mit Namen von verschwun­denen Frauen“, fügt sie an. Dies brachte die junge Frau dazu, zu erkennen, dass sie als mexi­ka­ni­sche Frau die Angst verin­ner­licht hatte. Seitdem bezeichnet sich Veláz­quez Fernández als Femi­ni­stin. „Meinen Freunden dort habe ich versucht zu erklären, dass Leben in Mexiko bedeutet, immer wachsam zu sein“, ergänzt sie.

Die Dokto­randin in Migra­ti­ons­stu­dien arbeitet derzeit mit Müttern aus Mittel­ame­rika, die sich dazu entschliessen, Mexiko zu durch­queren in der Hoff­nung auf ein besseres Leben in den USA. Diese Gruppen, die sich jedes Jahr am 8. März dem Marsch an der Grenze von Tijuana anschliessen, wo Veláz­quez Fernández derzeit arbeitet, werden dabei bereits in Mexiko selbst zu einer unsicht­baren Gruppe, die vielen Gefahren ausge­setzt ist und der es an Unter­stüt­zung und Sicher­heits­netz­werken fehlt.

„Studien zeigen, dass viele Migran­tinnen die Anti­ba­by­pille zum Schutz nehmen, weil sie wissen, dass sie auf dem Weg verge­wal­tigt werden und dabei nicht schwanger werden wollen“, sagt Veláz­quez. Der Kampf als Migrantin in Mexiko sei noch­mals deut­lich prekärer. „Es ist der Kampf gegen die insti­tu­tio­nelle Ausgren­zung, die Kartelle, die Banden, die dich verfolgen, und all die Männer, die dich als verletz­lich ansehen und sexu­elle Gefäl­lig­keiten von dir verlangen“, ergänzt sie.

Trans­pa­rente der letzt­jäh­rigen Demon­stra­tion am 8. März in Tijuana mit Botschaften wie „wir sind keine Instru­mente“ oder „der Femi­nismus ist anti­ras­si­stisch oder es gibt ihn nicht“. (Foto: Benelli Veláz­quez Fernández)

Errun­gen­schaften der Frau­en­be­we­gung in Mexiko in den letzten Jahren

Die aktu­elle mexi­ka­ni­sche Frau­en­be­we­gung ist entstanden als unmit­tel­bare Reak­tion auf die Aufdeckung einer Reihe von Morden an Frauen im Jahr 1993, deren Leichen in der Wüste von Juárez gefunden wurden. Dieses Ereignis eröff­nete die Debatte über Frau­en­morde in Mexiko, bewirkte die recht­liche Klas­si­fi­zie­rung von Femizid als Verbre­chen und löste eine Reihe von Anklagen aus. Die Geschichte des Kampfes für Frau­en­rechte in Mexiko hatte jedoch bereits zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts begonnen, während der mexi­ka­ni­schen Revolution.

Die Sexu­al­päd­agogin Pamela Burgos forscht an der Natio­nalen Auto­nomen Univer­sität von Mexiko zu Gewalt an Frauen und erin­nert sich an die legis­la­tiven Errun­gen­schaften im Land, die aus femi­ni­sti­schen Kämpfen hervor­ge­gangen sind. Als Beispiel nennt sie etwa, dass 2007 Mexiko-Stadt der erste Ort Latein­ame­rikas gewesen sei, an dem Abtrei­bung entkri­mi­na­li­siert und lega­li­siert wurde. Im glei­chen Jahr wurde mit dem „Grund­ge­setz zum Zugang der Frau zu einem Leben frei von Gewalt“ auch ein welt­weit einzig­ar­tiger Schutz­me­cha­nismus fest­ge­legt, der Sofort­mass­nahmen fest­schreibt, um der frau­en­feind­li­chen Gewalt entge­gen­zu­treten. Letztes Jahr wurden zwei weitere bahn­bre­chende Gesetze erlassen, welche die digi­tale Verbrei­tung sexu­eller Inhalte ohne das Einver­ständnis der darge­stellten Personen und die Media­ti­sie­rung von Bildern von Gewalt­op­fern verbieten.

Burgos stellt fest, dass auch Mexi­ka­ne­rinnen der Mittel­schicht, welche Zugang zu Sexu­al­erzie­hung und femi­ni­sti­schen Theo­rien haben, im Alltag kaum mit sexi­sti­schen und patri­ar­chalen Prak­tiken brechen können: „Wir sind die Töchter des Verspre­chens der Gewalt­lo­sig­keit. Wir glauben an Ände­rungen in unseren Bezie­hungen und Bindungen, aber diese treten nicht ein.“ Denn dafür seien die Dekon­struk­tion gesell­schaft­li­cher Normen und Wert­vor­stel­lungen sowie Selbst­liebe nötig, „was uns nie beigebracht wurde“, meint die Psycho­login. In der Akademie wiederum besteht laut der Histo­ri­kerin Adriana Cortés ein starkes Wett­be­werbs­ver­halten unter weib­li­chen Akteu­rinnen, was durch die gläserne Decke noch gestei­gert wird. „So perp­etu­ieren Akade­mi­ke­rinnen Macho­st­ruk­turen und ‑prak­tiken“, bemerkt Cortés. Zusammen mit Burgos fördert sie deshalb Mento­rate unter Akade­mi­ke­rinnen und den Austausch von persön­li­chen Erfahrungen.

Defi­zite des mexi­ka­ni­schen Rechtssystems

An der Demon­stra­tion vom 8. März in Cuerna­vaca nahm auch Tania Osiris teil. Sie ist unter anderem Mitglied des mexi­ka­ni­schen Kollek­tivs Divul­va­doras, welches Infor­ma­tionen und Hilfe­stel­lungen zu verschie­den­sten Themen rund um die Verlet­zung von Menschen­rechten an Frauen anbietet. Die Akti­vi­stin beschreibt ihre persön­liche Erfah­rung an der Demon­stra­tion als „kathar­tisch, weil wir den Hass und die Frustra­tion darüber, in einem machi­sti­schen und frau­en­feind­li­chen System zu leben, heraus­schreien konnten“. Gleich­zeitig empfinde sie Hoff­nung, wenn sie die Frauen und jungen Leute sehe, die gemeinsam für ein besseres Leben demonstrieren.

Osiris ersetzt mit ihrer Beglei­tung von tabui­sierten und im Bundes­staat Morelos ille­galen Abtrei­bungen eine nicht vorhan­dene Insti­tu­tion. „In meiner Arbeit als Akti­vi­stin habe ich erkannt, welche Defi­zite das mexi­ka­ni­sche Rechts­sy­stem in Bezug auf die Unter­stüt­zung von Frauen aufweist“, sagt die Femi­ni­stin. „Die Prozesse in Mexiko sind vikti­mi­sie­rend und korrupt.“ Osiris war Teil der Bewe­gung, die im Senat die Entkri­mi­na­li­sie­rung und Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung im Bundes­staat Morelos erreicht hat.

Im südli­chen Teil des mexi­ka­ni­schen Bundes­staates Morelos, einem der Gebiete mit den meisten verschwun­denen Frauen in dieser Region, arbeitet die Lehrerin Yaretzi De Jesús Moreno. Sie hat mit ihren Studen­tinnen Gruppen und Foren zu den Themen Femi­nismus, Gender und Gewalt gegen Frauen gegründet. Ihre femi­ni­sti­sche Arbeit findet vor allem im Unter­richt statt. „Man muss nicht unbe­dingt bei den Märschen und Prote­sten dabei sein, um eine Femi­ni­stin zu sein“, sagt sie. Manchmal sei es aufgrund der Umstände notwendig, nach alter­na­tiven Wegen zu suchen, um das Problem und den Kampf sichtbar zu machen. „In meinen Kursen versuche ich, das kriti­sche Hinter­fragen zu fördern und sich wieder­ho­lende sexi­sti­sche Muster aufzu­zeigen“, fügt sie an.

Der Grund dafür, dass De Jesús weiter­kämpft, sei die Möglich­keit, junge Frauen in gefähr­deten Situa­tionen zu unter­stützen und zu begleiten. Frauen also, die ange­sichts der fehlenden Vertrau­ens­wür­dig­keit der Insti­tu­tionen bei ihr einen sicheren Raum finden.

Perkus­sio­ni­stinnen an der Demon­stra­tion vom 8. März in Mexiko City. (Foto: Eunice Adorno, cortesía corri­ente alterna)

Künst­le­ri­sche Ansätze des Feminismus

Der Kunst­be­reich in Mexiko ist als beson­ders machi­stisch und misogyn bekannt. Die Kultur­ma­na­gerin Adriana Cortés berichtet davon, dass sie in geschäft­li­chen Ange­le­gen­heiten nicht ernst genommen und aufgrund ihres Äusseren bewertet werde. Jedoch sieht sie in femi­ni­sti­schen Künst­le­rinnen wie Larissa und Isadora Esco­bedo Vorbilder für jüngere Gene­ra­tionen, die in ihnen eine klare soziale und poli­ti­sche Posi­tio­nie­rung im Bereich der Kunst und des Kura­to­riums sehen: „Aus der Inter­sek­tio­na­lität heraus wachsen Wider­stände und Aktionen gegen alte Machopraktiken.“

Die lesbo­fe­mi­ni­sti­sche Lieder­ma­cherin Amastísta Lía von Noso­tras Compañía begleitet verge­wal­tigte Frauen und Frauen, die ihre verschwun­denen Töchter suchen. Sie schreibt system­kri­ti­sche und femi­ni­sti­sche Lieder.

„Es kam eine Zeit, in der mir der Schrei ‚Ni una menos‘ (Nicht eine weniger) nicht mehr genügte. Der Schmerz und die Hilf­lo­sig­keit, die ich fühlte, brachten mich dazu, Lieder des Spottes zu schreiben“, so Lía. Sie singt über das patri­ar­chale System und über die femi­ni­sti­sche Agenda selbst. „Die Kunst erlaubt mir, mich von all der Feind­se­lig­keit zu reinigen, die die Welt uns bietet, und Grenzen zu über­schreiten“, erklärt die Künstlerin.

Gemein­sam­keiten und Unter­schiede der femi­ni­sti­sche Bewe­gung in Mexiko

Den Femi­nismus in Mexiko aktiv zu leben, ist anstren­gend, sehr anstren­gend, darin sind sich alle Inter­view­part­ne­rinnen einig.

Die unter­schied­li­chen Diskurse und Prak­tiken, die aus den Erzäh­lungen ersicht­lich werden, zeigen die Viel­falt der femi­ni­sti­schen Bewe­gung in Mexiko auf, und zwar sowohl in Bezug auf die Ziele als auch die Wege, die gegangen werden, um Fort­schritte bei den Frau­en­rechten zu errei­chen. Dennoch gibt es in den verschie­denen Gruppen die Tendenz, diese Ansätze zu homo­ge­ni­sieren. Burgos steht dem kritisch gegen­über: „Der Versuch, die femi­ni­sti­sche Bewe­gung kontrol­lieren zu wollen, ist ein patri­ar­chaler Ansatz. Sagen zu wollen, was zu tun ist, oder zu versu­chen, die Frauen, die Teil der Bewe­gung sind, zu intel­lek­tua­li­sieren – all das bedeutet Ausübung von Gewalt“, meint die Aktivistin.

Zu den drei Grund­pfei­lern, welche alle Unter­gruppen der femi­ni­sti­schen Bewe­gung in Mexiko trotz deren Hete­ro­ge­nität gemeinsam haben, gehört erstens der Wunsch, eine bedin­gungs­lose Unter­stüt­zung und Gemein­schaft unter Frauen zu schaffen, zwei­tens das Ziel, die Sofort­mass­nah­men­re­ge­lung bei Gewalt an Frauen zu einer Prio­rität in der Regie­rungs­agenda zu erheben, und drit­tens, in den Worten von Tania Osiris, dass „jeder Fall eine Bewe­gung auslöst, die in einer Gesetz­ge­bung gipfelt“.


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