Der Tages-Anzeiger veröf­fent­licht Posi­tionen der Neuen Rechten und befeuert damit einen entmensch­lichten Diskurs

Der Autor Maurus Feder­spiel macht sich in einem Gast­bei­trag für den Tages-Anzeiger Sorgen über die Verän­de­rung der Schweiz durch die Zuwan­de­rung. Grund zur Sorge bereitet aber eher die Publi­ka­tion von solch reak­tio­nären Posi­tionen. Eine Replik. 

Das Sommer­loch ist wieder da, und die grossen Zeitungen tun sich sicht­lich schwer damit, ihre Seiten zu füllen. So zum Beispiel der Tages-Anzeiger. In der Ausgabe vom Dienstag druckte er einen einsei­tigen offenen Brief an die Adresse von Bundes­rätin Simo­netta Somma­ruga ab. Urheber ist Maurus Feder­spiel, der Sohn eines berühmten Schweizer Autors, seines Zeichens eben­falls Autor. Jour­na­li­stisch in Erschei­nung getreten ist Feder­spiel bisher haupt­säch­lich in einem rechts­na­tio­na­li­sti­schen Dunst­kreis, etwa mit einem schmei­chel­haften Portrait des AfD-Philo­so­phen Marc Jongen in der Weltwoche.

Feder­spiel ist besorgt. Er fühle sich fremd im eigenen Land, weil immer mehr Menschen in seinem Quar­tier Spra­chen spre­chen, von denen sogar er, der im multi­kul­tu­rellen New York studiert hat, viele nicht einmal erkenne. Er fürchtet den Verlust des natio­nalen Reich­tums, weil die Migrant*innen unsere Sozi­al­werke bela­steten. Und „die rasante Zunahme von Muslimen durch Migra­tion und Geburt“ werde mögli­cher­weise zu einem „von oben forcierten Waffen­still­stand“ (sic) führen. Damit ist etwa eine Verschär­fung der Rede­vor­schriften im Sinne der soge­nannten Poli­tical Correct­ness gemeint.

Hinzu kommt die Angst vor inter­na­tio­nalen Gross­kon­zernen wie der UBS, vor inte­gra­ti­ons­fremden Fuss­bal­lern, die ihren Torer­folg mit der Doppel­adler-Geste feiern, und vor der drohenden Zersied­lung des Mittel­lands. Das Haupt­pro­blem, zu dem Feder­spiel in seinem Brief immer wieder zurück­kehrt, ist, dass Migrant*innen dem Gast­land oft die „Bring­lei­stung“ der Inte­gra­tion schuldig blieben. Dass sie sich zu wenig anpassten an die „ange­stammte Schweizer Kultur“. Das gesell­schaft­liche Leben, so das schockie­rende Fazit, spiele sich nunmehr neben­ein­ander und nicht mehr mitein­ander ab.

Die Aufzäh­lung seiner diffusen Ängste adres­siert der Autor an Bundes­rätin Somma­ruga. Er wünscht sich von ihr Visionen, die seine Ängste aufzu­lösen vermögen. Statt sich selber klar zu posi­tio­nieren, ruft er verzwei­felt die „grossen poli­ti­schen Figuren“ an. Statt Lösungen zu bieten, wird geklagt und mit dem Finger gezeigt. Der Text, dem die Tamedia eine der grössten medialen Platt­formen der Schweiz zur Verfü­gung gestellt hat, ist damit schon seiner Struktur nach faschistoid.

Feder­spiel und die Kulturkeule

Es wäre aber ange­bracht, dass Feder­spiel die Lösung seiner Probleme nicht an poli­ti­sche Führer*innen ausla­gert, sondern seine eigene Posi­tion hinter­fragt. Natür­lich: Dass er sich bei so vielen Fremd­spra­chen unwohl fühlt, ist ein grosses Problem – und nicht von der Hand zu weisen. Aber die von Feder­spiel arti­ku­lierte diffuse Angst rührt offen­sicht­lich nicht primär von Über­set­zungs­schwie­rig­keiten. Und sie rührt auch nicht von Fakten, wie Hannes Nuss­baumer in seiner am Mitt­woch eben­falls im Tages­an­zeiger publi­zierten Replik aufzeigt. Das Problem liegt viel­mehr darin, dass Feder­spiel das Recht für sich in Anspruch nimmt, darüber zu entscheiden, wie die Gesell­schaft, in der er sich bewegt, auszu­sehen hat.

Der Autor sugge­riert eine gesell­schaft­liche Einheit, die es so nie gegeben hat. „Sie bewegen sich in eigenen Zirkeln“, schreibt er über Migrant*innen, die sich seines Erach­tens schlecht inte­grieren. Dass sich Feder­spiel selbst in einem solchen Zirkel bewegt, lässt er ausser Acht. Offen­sicht­lich vertritt er, der sich im Dunst­kreis der Neuen Rechten bewegt, Werte und Ideo­lo­gien, die nicht ansatz­weise die ganze Gesell­schaft reprä­sen­tieren. Offen­sicht­lich lebt er in einer Schweiz, die mit vielen anderen indi­vi­du­ellen Vorstel­lungen des Landes nichts gemein hat. Feder­spiel räumt seinem eigenen Zirkel eine Vormacht­stel­lung ein und erklärt seine eigenen Ideale zur Maxime für alle. Dabei stützt er sich auf den Begriff der „ange­stammten Kultur“. Eine Präzi­sie­rung derselben bleibt er schuldig – wie eigent­lich immer, wenn Rechts­na­tio­nale die Kultur­keule schwingen. Stich­wort Leitkultur.

Schlaue Worte schützen vor Torheit nicht – oder vor den Folgen

Hinter Feder­spiels Argu­men­ta­tion steckt ein Herr­schafts­an­spruch. Hinter seiner Angst vor der Migra­tion steckt die Angst davor, diese Herr­schaft zu verlieren. Die Fragen, die er in seinem Brief formu­liert, mögen naiv wirken: „Fragen wird man ja wohl noch dürfen!“ Aber diese schein­bare Naivität darf nicht über die Gefahr und die Gewalt hinweg­täu­schen, die von Posi­tionen wie Feder­spiels ausgeht. Er mag noch so oft betonen, dass er sich ein Mitein­ander an Stelle eines Neben­ein­an­ders wünscht. Was er tatsäch­lich konstru­iert, ist ein unver­hoh­lenes Gegen­ein­ander. Und er selber macht klar, wie dieses Gegen­ein­ander geartet ist: Was verleitet ihn wohl dazu, einen von oben forcierten „Waffen­still­stand“ zu fürchten?

Bereits 1500 Menschen sind dieses Jahr im Mittel­meer ertrunken. Bei den aller­mei­sten von ihnen handelt es sich um poli­ti­sche Tote. Auf diesen Kontext nimmt Feder­spiel bewusst Bezug, wenn er Migrant*innen „aus dem arabi­schen Raum, aus Eritrea und Somalia, aus Nord- und West­afrika“ hervor­hebt, obwohl sie nur einen vergleichs­weise kleinen Teil der Migra­tion in die Schweiz stellen. Neben unzäh­ligen anderen Gründen wird die Kata­strophe an Europas Aussen­grenzen ermög­licht durch einen öffent­li­chen Diskurs, der die Vergleich­bar­keit von Verlust­äng­sten und indi­vi­du­ellem Unwohl­be­finden auf der einen Seite und einem gedul­deten Massen­sterben auf der anderen Seite sugge­riert. An der poli­ti­schen Realität zeigt sich, welche Seite bei diesem Vergleich momentan die Über­hand hat.

Den Löwen­an­teil der Verant­wor­tung für diesen entmensch­lichten Diskurs tragen Zeitungen wie der Tages-Anzeiger. Die verzwei­felte Suche nach Content während des Sommer­lochs ist keine hinrei­chende Recht­fer­ti­gung für die Publi­ka­tion eines solchen Texts. Nicht jeder Tabu­bruch ist notwen­di­ger­weise ange­bracht. Auch nicht, wenn er Aufmerk­sam­keit und Klicks gene­riert. Denn wer eine derart toxi­sche Diskus­sion befeuert, trägt eine Mitschuld an ihren Konse­quenzen. Dass das dem Medi­en­kon­zern Tamedia egal ist, über­rascht aber frei­lich nicht.

So hat die Debatte jetzt den Punkt erreicht, an dem solche offen frem­den­feind­li­chen Texte, die jegli­cher Fakten entbehren, mit einer Auflage von 150’000 Exem­plaren circa 480’000 Leser*innen errei­chen. In seinem offenen Brief hält Maurus Feder­spiel fest, dass er zwar hier aufge­wachsen sei, aber sich bisweilen wie ein Fremder fühle. Ange­sichts der Tatsache, dass Meinungen wie die seine jetzt im Main­stream ange­kommen sind, ist das ein Gefühl, das man nach­voll­ziehen kann.

 


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