Tausche Kinder­fotos gegen Likes!

Jetzt, wo all deine Freun­dInnen in der Welt­ge­schichte umher­reisen, wird Insta­gram und Face­book wieder mit Feri­en­fotos geflutet. Beliebtes Sujet: fremde Menschen, die einfach nur ihrem Alltag nach­gehen möchten, mit coolen Sprü­chen richtig in Szene gesetzt. Ist ja nix dabei, gäll? Eine Glosse. 
Voll süss (Photo: humanitarians of Tinder, Bearbeitung das Lamm).

Stell dir vor: Es ist Sommer, es ist schön draussen, du gehst in die Badi. Hose aus, Bikini an, überall nur glück­liche Menschen in ausge­las­sener Feri­en­stim­mung, braun­ge­brannte, gestählte Körper und solche, die es gerne wären. Nach einer Runde im See legst du dich auf dein Bade­tuch und hältst selig lächelnd die Nase in die Sonne. Fast wie in den Ferien, denkst du dir. Diesen Tag, diesen perfekten Moment, würdest du, ein Kind der digi­talen Kultur, gerne auf den Social Media mit deinen Freun­dInnen und Follo­wern teilen. Also nichts wie los, das iPhone raus­kramen und ab auf die Sujet­jagd. Der See? Lang­weilig. Du mit Bier? Gabs schon. Die Möwen? Zu viel Dreck drum rum, und auf Retu­sche hast du bei 32 Grad im Schatten eh keine Lust.

Doch was ist das? Da stehen doch tatsäch­lich drei Kinder Raketen schleckend am Seerand, zwei Mädchen und ein Junge, weniger als zwei Meter zu deiner Rechten, lachend, Schoggi und Zucker­kru­sten in den Mund­win­keln, das eine Mädchen hat sogar Sommer­sprossen. Ach, denkst du dir, ach wie diese Kinder doch für diesen perfekten Moment am See stehen, einfach zu schön, um wahr zu sein. Und wie sie in ihr Glace­schlecken und Wasser­spritzen vertieft sind! Pitto­resk! Das ist der Sommer, denkst du dir! Das ist Glück, das ist Züri!

Du drehst dich also auf den Rücken, stützt die Ellen­bogen auf und klick, klick, biss­chen Farb­aus­gleich drüber und ab auf Insta­gram mit „Die drei Glace-Muske­tiere #Badi“. Ein biss­chen Message willst du aber schon auch rein­packen in diesen perfekten Sommer­mo­ment, also schreibst du weiter unten, getrennt durch drei Emojis (eine Palme, einen Fisch und einen Kraken, die sind so härzig!): „Schaut sie euch an! Diese Kinder des Sommers! Wie sie dastehen und einfach glück­lich sind! Mit so wenig glück­lich sind! Da sollten wir uns alle ein Vorbild dran nehmen!“

Du befin­dest deine kurze Lyrik für gut, schliess­lich ist sie konzis, bringt die Lese­rInnen aber auch zum Nach­denken. Dass deine Mitmen­schen am Beispiel dieser drei Kinder, deren Gesichter dein Foto aus näch­ster Nähe zeigt, deren kaum beklei­dete Körper jetzt auf dem Feed deiner rund 324 Follower erscheinen, über das Leben nach­denken sollten, das findest du nämlich schon wichtig. Du drehst dich wieder zurück auf den Rücken, stöp­selst deine Kopf­hörer ein, legst dir dein Handy auf den Bauch und wartest auf die wohlige Vibra­tion eines herein­kom­menden Likes.

Voll süss (Photo: huma­ni­ta­rians of Tinder, Bear­bei­tung das Lamm).

Doch die Likes kommen nicht, auch nicht nach 20 Minuten. Du wirst langsam nervös. Stimmt etwas nicht mit dem Foto? Zu über­be­lichtet? War die Caption zu viel? Doch, da! Das Handy erzit­tert plötz­lich, aber es ist kein rotes Herz­chen, das da rein­flat­tert. Statt­dessen schreibt dir eine gute Freundin eine Privat­nach­richt: „Sag mal gehts noch? Nimm das runter, bevor du mit den Eltern Stress bekommst, Alter!“ Komisch, denkst du dir, und dir wird fast etwas unwohl, denn mit Gegen­wind, damit hättest du an diesem sonnigen Tag bestimmt nicht gerechnet.

Was dich beson­ders irri­tiert: Das Bild von zwei spie­lenden Buben in Vietnam, viel­leicht fünf Jahre alt, die mit weit aufge­ris­senen Augen einen bunten Ball auf der Strasse hin und her treten, das Bild, das du mit der Caption „Finding joy in the small things“ versehen hast und auf das du mächtig stolz warst (schliess­lich hatte ein ameri­ka­ni­scher Reise­blogger dein Bild geliked, geschickten Hash­tags sei Dank), das Bild lief doch auch super und das ist gerade mal zwei Monate her. Deine Kollegin, die dir jetzt so vorwurfs­voll schreibt, hatte damals sogar kommen­tiert: „Oh so süss! Ich war vor zwei Jahr auch in Vietnam, die Menschen dort sind eifach <3.“ Du grübelst, die Kinder auf dem Feri­en­foto hatten ja auch nur Hosen an. Seltsam, das Ganze.

Als bis am frühen Abend immer noch nur eine unbe­frie­di­gende Anzahl Reak­tionen rein­kommt, entschliesst du dich, das Bild zu löschen. Schliess­lich könnte das recht­liche Konse­quenzen haben, meinte die Freundin ja. Statt­dessen mache ich morgen einfach einen Repost der lachenden Kinder im viet­na­me­si­schen Dorf. Wie die Freude hatten an der Kamera! Und meine Face­book-Freun­dInnen hatten Freude an den Kindern! Das wird bestimmt besser laufen.

Psst: Noch mehr süsse Kinder­fotos gibt es hier.


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