Was es heisst, schwarz zu sein

„Dieser Text soll kein Mitleid wecken. Ich spreche auch nicht für alle Schwarze in der Schweiz, in Europa oder welt­weit. Es sind meine Gedanken und meine Erfah­rungen als schwarze Frau, die seit Geburt in einem weissen Umfeld aufge­wachsen ist und ihr Leben mit den vorhan­denen Privi­le­gien und Nach­teilen navi­giert.“ Ein Gastbeitrag. 
(Foto: Kevin Domfeh / unsplash)

Ich habe mich gefragt, was es eigent­lich bedeutet, schwarz zu sein. Das waren die ersten Gedanken:

  • Schwarz zu sein bedeutet, dass man als Kind mit Barbie-Puppen spielt, die aber wie deine weissen Freun­dinnen aussehen.
  • Schwarz zu sein bedeutet, dass du als Kind von einer fremden Person mit den Worten „Geh‘ zurück nach Afrika“ ange­schrien wirst.
  • Schwarz zu sein bedeutet, dass du als Teen­ager an einem Festival von einer fremden Person mit dem N‑Wort ange­schrien wirst.
  • Schwarz zu sein bedeutet, dass du als Teen­ager an einem anderen Festival von drei Nazis in die Waden­beine gekickt wirst.
  • Schwarz zu sein bedeutet, dass du im Schwimmbad von Teen­ager mit dem grau­samen 2004er Sommerhit „Choco­late (Choco Choco)“ gehän­selt wirst.
  • Schwarz zu sein bedeutet, dass du in deiner Schule / an deinem Arbeits­platz der/die Einzige bist.
  • Schwarz zu sein bedeutet, dass du jeden Tag mit einem unsicht­baren Schutz­schild deine Wohnung verlässt und niemals weisst, ob dein Platz gewähr­lei­stet ist oder nicht.

Schau dir diese Punkte an, was fällt auf? Es sind alles nega­tive, gewalt­same Erfah­rungen. Und das ist eine abso­lute Schande, denn niemand sollte sich wegen seines Äusseren schlecht fühlen. Doch es ist die bittere Wahr­heit. Alle diese oben genannten Punkte sind Erfah­rungen, die ich erlebt habe. Es sind alles meine Erfahrungen.

Doch bevor ich beginne, muss ich mich an der eigenen Nase nehmen und, wie man so gerne sagt, „check my privilege“.

Mir ist bewusst, dass ich auch als schwarze Frau von einigen Privi­le­gien profi­tiert habe, die andere schwarze Personen nicht haben. Ich habe den Vorteil, dass ich in der Schweiz zur Welt kam, das obli­ga­to­ri­sche Schul­sy­stem absol­viert habe, flies­send Hoch- und Schwei­zer­deutsch spreche, beruf­lich stabil bin und dank all dieser Punkte in die Schweizer Gesell­schaft inte­griert bin.

Aber all das ist egal, sobald jemand, der mich nicht kennt, mich sieht.

Da spielt es keine Rolle, wie gut ich inte­griert bin. Da ist es absolut egal, wie viele weisse Freund*innen ich habe. Dass ich den Schweizer Pass habe. Dass ich pünkt­lich meine Steuern zahle. Dass ich brav Glas nach Farbe sortiert zur Sammel­stelle bringe. Das ist egal, denn eine andere Person sieht als Erstes meine Hautfarbe.

Als Kind habe ich schnell gelernt, dass ich anders bin. Und gleich­zeitig habe ich auch schnell gelernt, dass Anpas­sung das A und O ist, um zu über­leben. Die Sitten studieren, gehor­chen und Tugenden ange­wöhnen, wie es eine Jean­nine oder ein Andreas machen. Pass dich an, dann kommt alles gut.

Diese Anpas­sung, die jahre­lange Übung und Perfek­tion gebraucht hat, ist eine makabre Sache. Damit ich im „weissen Raum“ akzep­tiert werde, musste ich mich auch richtig benehmen und bewegen, damit der Raum mich so annimmt. Und dann höre ich Sätze wie: „In meinen Augen bist du keine Auslän­derin, sondern eine Schwei­zerin! Du bist sogar mehr Bünzli als ich!“

Und obwohl ich weiss, dass es nicht böse gemeint ist, sind solche Sprüche ein Stich ins Herz. Dieses „Bünz­litum“ hat viel Fleiss und Trai­ning erfor­dert. Aber ich habe mich ange­passt, damit ich sicher bin. Damit ich meinen Platz sichern kann. Und das ist die unbe­queme Wahr­heit: dass ich als kleines Mädchen einen Teil meiner Iden­tität hinter­fragt und unter­drückt habe, weil ich in der Gesell­schaft meinen Platz sichern wollte. Immer die feine Balance finden zwischen „gute Auslän­derin“ und „schlechte Auslän­derin“. Und nicht allzu krass auf der einen oder anderen Seite sein, sonst bist du nicht schwarz genug. Oder nicht gut genug integriert.

Aber es wird immer jemanden geben, für den du nicht gut genug bist. Weil du eine Haut­farbe hast, die nicht richtig ist.

Es lässt mich das Gefühl nicht los, dass wir es uns in der Schweiz sehr einfach machen. Wir zeigen auf die USA und sehen dort den Buhmann, obwohl es hier nicht einen Deut besser ist. Wir klopfen uns auf die Schulter, dass wir hier schwarze Menschen nicht so gewalt­voll diskri­mi­nieren. Doch Racial Profiling existiert hier auch. Meine Erfah­rungen sind Anfein­dungen, die ich von Schweizer*innen erlebt habe. Das zeigt sich vor allem bei einer Thematik: geflüch­tete Menschen. Die Blicke und flüsternden Töne, die Weisse von sich geben, wenn eine Gross­fa­milie aus Somalia die S‑Bahn betritt. Diese Mikro­ag­gres­sionen gehen nicht spurlos an uns vorbei. Das spüren wir an Leib und Seele, egal, ob „Papier­li­schwiizer“ oder Sans-Papier. Und jedes Mal erfüllt es mich mit Angst, wenn ich einer Gruppe von schwarzen Männern begegne, die draussen sitzen und die Sonne geniessen. Nicht, weil ich vor ihnen Angst habe. Sondern weil ich mich um ihre Sicher­heit fürchte. Denn ich weiss, wie es ist, niemandem schaden zu wollen, aber als Schäd­ling ange­sehen zu werden.

Die Ermor­dung von George Floyd und die anschlies­senden Proteste in den USA führten dazu, dass ich mich zeit­weise von den sozialen Medien distan­zieren musste. Nicht, weil die Geschichte anders gewesen wäre als bei Sandra Bland. Oder Trayvon Martin. Oder Eric Garner. Sondern weil es wieder die immer gleiche Geschichte ist, nur mit einem anderen Prot­ago­ni­sten. Und ehrlich gesagt: Ich bin müde. Müde, weil sich nach all den Schlag­zeilen, Prote­sten, Hash­tags und Peti­tionen der letzten Jahre und Jahr­zehnte nichts geän­dert hat. Weil ich weiterhin auf Twitter Videos von schwarzen Personen sehe, die unter den Körpern von weissen Poli­zi­sten „I can’t breathe“ ächzen und ich mir vorstelle, dass ich das sein könnte.

Weil ich weiss, dass nach etwa vier Wochen die Schreie verstummen, die Demon­stra­tionen abebben werden. Für Weisse geht das Leben dann weiter, für Schwarze bleibt der Kampf.

Solche Protest­ak­tionen rütteln Weisse immer wieder auf. Diese stets neu aufflam­mende Empö­rung bringt mich inner­lich zum Lachen. Wenn mir jemand sagt, er sei „schockiert, dass dies heute noch so ist“: Die syste­ma­ti­sche Ausgren­zung hört nicht auf, wenn die Fern­seh­ka­meras nicht mehr vor Ort sind und Journalist*innen nicht mehr darüber schreiben. Syste­ma­ti­sche Ausgren­zung ist der bittere Alltag für viele Schwarze auf der Welt. Jeden Tag aufzu­stehen und für seinen Platz kämpfen zu müssen. Für viele Schwarze ist es ein Geschenk, am Abend wieder nach Hause zu kommen und noch am Leben zu sein. Nicht von jemandem ange­feindet worden zu sein.

Es kann nicht sein, dass zuerst Schwarze sterben müssen, damit wir wieder aufschreien. Wie viele George Floyds müssen noch sterben, bis der Hashtag „Black Lives Matter“ wieder ein tren­ding topic ist? Wie viele Trayvon Martins müssen vom Nach­barn erschossen werden, bis wir auf Insta­gram wieder ein schwarzes Bild hoch­laden? Wenn es immer wieder Kolla­te­ral­schaden braucht, damit etwas passiert, dann wird es immer wieder Proteste geben. Dann werden die Schwarzen laut.

Mich widert es an, dass es Tote braucht, damit die Leute sehen, dass das Problem noch da ist. Dass das Problem nicht verschwindet, weil Barack Obama Präsi­dent war. Dass das Problem nicht verschwindet, weil man Hip Hop oder Blues konsu­miert und schwarze Musiker*innen feiert. Das Privileg, auf sozialen Medien Empö­rung zu äussern und am näch­sten Tag als Weisse frei leben zu können, sollte langsam, aber sicher allen bewusst werden. Hinter diesen Hash­tags verbirgt sich der alltäg­liche Kampf schwarzer Menschen.

Wenn man sich als Weisse jetzt fragt, was man machen kann, um zu helfen: Seid laut! Wenn jemand das N‑Wort benutzt, sprecht die Person darauf an. Seid unbe­quem und beginnt eine Diskus­sion. Ich kann euch sagen, es wird keine leichte und erfreu­liche Diskus­sion. Aber glaubt mir, Wort­fetzen sind nichts, vergli­chen mit den Anfein­dungen, die Schwarze welt­weit jeden Tag erleben. Und wenn ihr nach eurem „Aufschrei“ die kalte Schulter eines Täters erhalten solltet, dann sollte euch der Stand­punkt und der Charakter der Person ziem­lich bewusst sein.

Ich möchte etwas klar­stellen: Dieser Text soll kein Mitleid wecken. Ich spreche auch nicht für alle Schwarze in der Schweiz, in Europa oder welt­weit. Es sind meine Gedanken und meine Erfah­rungen als schwarze Frau, die seit Geburt in einem weissen Umfeld aufge­wachsen ist und ihr Leben mit den vorhan­denen Privi­le­gien und Nach­teilen navi­giert. Und dank dieser Erfah­rungen habe ich gelernt, wach­samer zu sein und – was sehr wichtig ist – zu kämpfen. Für mich, für meine Familie und für alle anderen, die nicht kämpfen können. Mein Rezept, um schwie­rige Momente und Gedanken zu über­stehen: viel Selbst­liebe. Die Gesell­schaft lässt es manchmal nicht zu, dass wir uns lieben. Deshalb lieben wir uns selbst immer mehr.

Und jetzt, wenn ich mich frage, was es bedeutet, schwarz zu sein, sage ich:

  • Schwarz zu sein bedeutet, dass man fürein­ander da ist und mitfühlt.
  • Schwarz zu sein bedeutet, dass man mit Stolz die Erfolge von anderen Schwarzen feiert.
  • Schwarz zu sein bedeutet, dass man jeden Tag mit seiner Haut­farbe seine Herkunft zelebriert.
  • Schwarz zu sein bedeutet, dass man trotz Problemen und Sorgen jeden Tag aufsteht und aufs Neue die Welt für sich gestaltet.
  • Schwarz zu sein bedeutet, für seine Rechte stark zu sein und laut zu werden.
  • Schwarz zu sein bedeutet, schön zu sein.
  • Schwarz zu sein bedeutet, sich zu lieben.
  • Schwarz zu sein bedeutet, dass man das Recht hat, zu leben.

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