Weisse Flecken in der schönen neuen Homeschooling-Welt

Dass Schüler*innen dank Coro­na­krise nicht mehr in die Schule müssen, freut nicht nur Netflix und Co. Im deutsch­spra­chigen Raum gibt es Hunderte von Lern­platt­formen, die zurzeit regel­recht von bestel­lenden Schulen über­rannt werden. Doch „Home­schoo­ling“ ist in verschie­dener Hinsicht problematisch 

Viele Deutsch­schweizer Schulen etwa nutzen schabi.ch (kurz für ‚Schule am Bild­schirm‘). Entwickelt wurde die Platt­form vor fünf Jahren von einem Winter­thurer Lehrer, der für seine Schüler*innen Online-Ange­bote erstellen wollte. Die Seite bietet Lehr­per­sonen und Schüler*innen die Möglich­keit, bequem mitein­ander zu kommu­ni­zieren, Agenden zu erstellen, aber auch Inhalte hoch­zu­laden und zu verlinken.

Wie auf den meisten Platt­formen ist auch auf schabi.ch eine breite Palette weiter­füh­render Links zu finden. Sie führen zu Seiten mit Quiz­fragen zu Büchern, Lern-Apps, Foto-Editoren usw. Die verlinkten Seiten werden von den unter­schied­lich­sten Akteuren betrieben. Bei einer will­kür­li­chen Auswahl von drei Seiten finden sich als Betreiber oder Supporter: die solo­thur­ni­sche Stif­tung Biblio­media, die Unter­richts­ma­te­rial-Firmen Raabe und Edulo, Swisscom, die Post, die Design- und Foto­firmen Inma­gine, 123RF, Designs.ai und Pixlr. Auch Stif­tungen wie die Bill & Melinda Gates Foun­da­tion und die Valhalla Chari­table Foun­da­tion mischen mit.

Ausser Biblio­media, die Lese­för­de­rung im Auftrag des Bundes betreibt, sind alle diese Unter­nehmen zu hundert Prozent privat. Das Problem dabei ist nicht mal der Einfluss, den die Firmen auf die Seiten nehmen könnten, sondern gene­rell, dass sie so Zugang zum Bildungs­wesen erhalten.

In einer sozialen Grauzone

Es ist nichts Neues, dass Konzerne und Lobbyist*innen Mate­rial und Hilfe­stel­lungen für Schulen und Lehr­per­sonen anbieten. Das geht vom Kräu­ter­dos­sier von Ricola bis zur Unter­richts­se­quenz „Kern­energie und Kern­kraft­werke“ inklu­sive AKW-Besuch, powered by swiss­nu­clear. Viele Lehr­per­sonen nehmen solche Ange­bote dankend an. Dennoch hatten die Lobbys bisher zum lehr­plan­be­zo­genen Unter­richt mit den obli­ga­to­ri­schen Lehr­mit­teln nur beschränkten Zugang.

Das ändert sich gerade. Dank der Corona-Quaran­täne wittert die Home­schoo­ling-Indu­strie Morgen­luft. In einem Gast­kom­mentar im Tages-Anzeiger schreibt Vincenzo Zinnà, Gründer von LearnEasy24.com: „Das Lernen im und mit dem Internet wird Stan­dard.“ Und: „Das Lernen mit digi­talen Medien entspricht der Lebens­wirk­lich­keit der Jugendlichen.“

Doch die Schule hat nicht den Auftrag, ihre Lern­formen an das anzu­passen, was aktuell als Lebens­wirk­lich­keit der Jugend­li­chen gilt. Die Schule hat viel­mehr den Auftrag, sozialen Austausch zu ermög­li­chen und verschie­dene Zugänge zu Wissen zu vermit­teln. Streng­ge­nommen ist mit ‚Home­schoo­ling‘ das Beschulen von Kindern durch deren Eltern oder andere Personen des Haus­halts gemeint. Und das ist explizit nicht vorgesehen.

Der Fern­un­ter­richt spielt sich in einer sozialen Grau­zone ab. Benach­tei­ligt werden dieje­nigen, deren Umfeld zuhause dem Lernen nicht zuträg­lich ist; sei es, weil die Eltern nicht helfen können oder weil kein Arbeits­platz zur Verfü­gung steht. Auf solche Unter­schiede wirkt der Unter­richt im Klas­sen­zimmer ausgleichend.

Das fällt beson­ders da ins Gewicht, wo – Stich­wort Indi­vi­dua­li­sie­rung – der Lern­stoff an den Lern­stand, die Inter­essen und das Leistungs­ver­mögen eines Kindes ange­passt wird. Im Extrem­fall arbeiten alle „auf ihrem Niveau“ an ihrem Projekt. Alle tun etwas Sinn­haftes, ohne dauer­haft unter- oder über­for­dert zu sein. Im besten Fall wirft das reichere Ergeb­nisse und Lern­erfolge ab als die Fron­tal­ver­mitt­lung von Einheits­stoff. Das Einheit­liche, Gemein­schaft­liche, Soziale geht aller­dings schlimm­sten­falls über Bord. Diesen Aspekt der Verein­ze­lung, der Indi­vi­dua­li­sie­rung eben auch bedeutet, spitzt das Fern­lernen ebenso zu wie die Priva­ti­sie­rung, also das Ausglie­dern immer grös­serer Bereiche an (private) Drittak­teure oder das Elternhaus.

Wollen wir Staatsbürger*innen oder Kund*innen?

Späte­stens seit in der 5. Klasse alle ein eigenes Tablet bekommen – zusätz­lich zum meist eh schon vorhan­denen Smart­phone – wird in Schulen expli­ziter disku­tiert, was Digi­ta­li­sie­rung eigent­lich ist und zu welchem Ende sie geschieht. Eine Einsicht, die sich verbreitet: Nicht zuletzt fungieren Auf- und Umrü­stungen im Zeichen der Digi­ta­li­sie­rung als Troja­ni­sche Pferde der werbe­trei­benden Indu­strie. Das beginnt bei den Werbe­spots vor Youtube-Tuto­rials, die kaum eine Lehr­person den Schüler*innen vorent­hält, und endet noch lange nicht beim Zugriff auf die jungen Leute als poten­zi­elle Kund*innen. Es stellen sich grund­sätz­liche Fragen: Wollen wir unsere Kinder und Jugend­li­chen eher zu Staatsbürger*innen oder zu Kund*innen erziehen? Lock­down und Fern­lernen dürften eher einen Schritt hin zu Letz­terem bedeuten.

Übri­gens: Klar gibt es tolle Lern­seiten im Netz! Und es lohnt sich auch, die besten davon heraus­zu­fi­schen und zu benutzen. Ihr Einsatz sollte so dosiert wie reflek­tiert erfolgen. Andern­falls werden Lernende zur leichten Beute im kommer­zi­ellen Datenmeer.


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