Wider­stand und Widerspruch

Der Sech­se­läu­ten­platz im Zeichen von Verschwö­rung und Willkür: Ein Blick auf die Corona-Demo Zürich. 
Die Staatsmacht möchte Härte demonstrieren. (Foto: Raimond Lüppken)

Das schlechte Wetter an diesem Tag hat die Prote­stie­renden nicht davon abge­halten, auf den Zürcher Sech­se­läu­ten­platz zu kommen – zumin­dest nicht alle. Es sind aber doch weniger als am Samstag zuvor, als die Trans­pa­rente noch im schön­sten Früh­lings­wetter geschwenkt wurden. „Wofür wird hier prote­stiert?“, wundert sich eine ältere Dame. Ihre Frage bleibt unbe­ant­wortet, denn die Demon­stranten sind zu sehr mit sich selbst und der Polizei beschäf­tigt. Hätte sie einen der anwe­senden Jour­na­li­sten gefragt, wäre die Antwort wohl gewesen: „Für die Grund­rechte“, oder „für die Meinungs- und Versamm­lungs­frei­heit“. Doch das ist nicht das, was auf den Karton­schil­dern steht, die hier gezeigt werden. Dass die Dame etwas verwirrt zu sein scheint, ist durchaus verständ­lich. Sie ergeben wahr­schein­lich keinen Sinn für jemanden, der sich nicht mit den aktu­ellen Verschwö­rungs­er­zäh­lungen auskennt.

„Gib Gates keine Chance“ ist da im Layout der „Gib Aids keine Chance“-Kampagne etwa zu lesen.

Die Bill & Melinda Gates Foun­da­tion hat laut den gängigen Verschwö­rungs­er­zäh­lungen das Ziel, der Mensch­heit per Zwangs­imp­fung Mikro­chips zu inji­zieren und sie dadurch zu kontrol­lieren. Ein Szenario aus einem dysto­pi­schen Science-Fiction-Film, könnte man bei einer ersten, ober­fläch­li­chen Betrach­tung denken. Aber um was ging es hier nochmal? Die Einschrän­kung der Grund­rechte? Für die stutzig gewor­dene Passantin scheint hier doch alles in Ordnung zu sein. Die Menschen scheinen ja das Recht, sich bei mitt­ler­weile starkem Regen und Wind­böen auf einem zentralen Platz zu treffen, nicht verloren zu haben – so weit, so gut. Doch da stehen ja noch reihen­weise Poli­zei­busse auf dem Platz und zahl­reiche Beamte mit gelben Westen.

Das Dialog­team spricht mit den Anwe­senden: „Es ist nach wie vor laut der Corona-Verord­nung verboten, sich hier zu versam­meln.“ „Wir wollen unsere Frei­heit zurück“, erwi­dert eine Frau und wird dabei von der Durch­sage unter­bro­chen, die aus der Laut­spre­cher­an­lage eines VW-Busses der Stadt­po­lizei ertönt. Das Fahr­zeug nähert sich der kleinen Gruppe von Prote­stie­renden und Poli­zi­sten: „Hier spricht die Stadt­po­lizei. Dies ist eine gemäss Covid-Verord­nung des Bundes­rates ille­gale Veran­stal­tung. Beenden Sie die Veran­stal­tung sofort und verlassen Sie unver­züg­lich die Örtlich­keit. Bei Miss­ach­tung dieser Anwei­sung machen Sie sich wegen Durch­füh­rung einer verbo­tenen Kund­ge­bung strafbar und können mit einer Geld­strafe oder Frei­heits­strafe bestraft werden.“ Ganz so intakt scheinen die Grund­rechte also doch nicht zu sein.

Ein Stück weiter steht eine Frau vor einer Video­ka­mera. Der Mann hinter der Kamera bittet sie, das Ende der Durch­sage abzu­warten. Dann erklärt sie, warum sie hier ist. Es fallen die Worte „Demo­kratie“, „Angst“ und „Zukunft“. Nach dem Inter­view bedankt sich der Jour­na­list. Im Vorbei­gehen steckt ein weiterer Demon­strant eine gelbe Rose an das Stativ. Ein kleiner Farb­tupfer an diesem trostlos wirkenden Ort. Mitt­ler­weile begleitet ein böiger Wind den starken Regen. Die Natur­ge­walten zerren an den Regenschirmen.

Ein Kollege gesellt sich zum Video­jour­na­li­sten. Die Inter­view­part­nerin, die mitt­ler­weile zur Protest­gruppe zurück­ge­kehrt ist, war den beiden nicht unbe­kannt. Schon letztes Wochen­ende hatte sie deren Aufmerk­sam­keit erweckt. Die Polizei hatte sie am 16. Mai fest­ge­nommen und abge­führt. Mit Kabel­bin­dern gefes­selt musste die Prote­stie­rende fast 45 Minuten in der prallen Sonne auf einen Poli­zeibus mit Arrest­zelle warten. So gut wie alle Prote­stie­renden und etliche Journalist*innen haben die Szene foto­gra­fiert. Für die Pressevertreter*innen im Regen „schockie­rend“ und „unver­ständ­lich“.

Plakate mit der Aufschrift „Ende der Willkür“ würde die fragende Passantin viel­leicht eher verstehen. Sie hat sich mitt­ler­weile am Rande des Platzes posi­tio­niert und beob­achtet gespannt die Entwick­lungen auf dem Platz. Die Durch­sage der Polizei wurde inzwi­schen etliche Male wieder­holt, so mancher der Anwe­senden mag sie schon auswendig kennen. Teil­weise ertönt die Durch­sage sogar von zwei Fahr­zeugen gleich­zeitig. Das Sprach­wirr­warr scheint bei den Menschen auf dem Platz aber auf wenig Inter­esse zu stossen. Und auch das Dialog­team scheint mit seinen Argu­menten und Hinweisen die Versamm­lung nicht beenden zu können. Verein­zelt sind nach den Ansagen Buhrufe und Pfiffe zu hören. Unbe­irrt von Regen und Durch­sagen scheinen hier alle das zu tun, wofür sie herge­kommen sind. Wendet sich das Dialog­team an Prote­stie­rende, vernimmt man meist die Worte „Recht auf Meinungs­äus­se­rung“ in der Antwort.

Die Pres­se­ver­treter foto­gra­fieren, filmen und machen Inter­views. Auch mit ihnen spricht die Polizei ab und zu. Letzten Samstag hatte man Kurt Pelda von der Sonn­tags­Zei­tung einen Platz­ver­weis ange­droht. Ein anderer Jour­na­list wurde von Beamten gefragt, ob er wieder vorhabe, in einem Zeitungs­ar­tikel über die Polizei herzu­ziehen. Auch die Medien scheinen hier nicht sonder­lich will­kommen zu sein. Die Grund­rechte sind defi­nitiv nicht mehr so intakt, wie sie es sein sollten.

Ein Mann mit grau meliertem Bart und feiner Klei­dung unter der Regen­jacke läuft über den Platz und scheint mit seinem Smart­phone Live­streams zu schalten. In der Hand hält er ein kleines Ansteck­mi­krofon, mit dem er hier und da Inter­views führt. „Daniel Stricker von Stricker TV“, verrät ein Jour­na­list. „YouTuber. Nicht wirk­lich Jour­na­list“, schickt er hinterher. Es gibt hier auf dem Platz also Journalist*innen, die im Berufs­re­gi­ster einge­tragen sind und somit die gesetz­lich geltenden Rechte der Pres­se­frei­heit geniessen, und es gibt YouTuber. Es gibt Poli­zi­sten ohne Masken, dafür mit gelben Westen, und es gibt Poli­zi­sten mit Masken, die zum Einsatz kommen, wenn der Dialog nicht das gewünschte Ergebnis erzielt. Je länger man hier steht, desto unüber­sicht­li­cher und wider­sprüch­li­cher scheint die Lage auf dem Platz – wohl nicht nur aus der Sicht der ahnungs­losen Passantin. Doch eines dürfte selbst ihr aufge­fallen sein: Auf dem Sech­se­läu­ten­platz herrscht Inkonsequenz.

Es gibt Gele­gen­heiten, bei denen weit mehr Menschen zusam­men­kommen und die Abstands­re­geln nicht einhalten, wie beispiels­weise in etli­chen Warte­schlangen vor Geschäften und im öffent­li­chen Verkehr zu Stoss­zeiten. Auch dürften Prote­stie­rende, die den Sech­se­läu­ten­platz in Rich­tung Tram­gleise verlassen, nicht mehr kontrol­liert werden, da sie den Veran­stal­tungsort ja hinter sich gelassen haben. Es stellt sich unwei­ger­lich die Frage, ob es hier um die Durch­set­zung der Covid-Verord­nung geht oder um die Unter­drückung von Kritik an der Politik. Das erkennt selbst die ältere Dame, die nun mit einigen der Anwe­senden ins Gespräch gekommen ist.

So berech­tigt die Anliegen der hier versam­melten Menschen bezüg­lich Grund­recht, Meinungs- und Versamm­lungs­frei­heit auch sind: Die härteren Gegen­mass­nahmen werden von der unüber­schau­baren Masse an Ideo­lo­gien, die von den Prote­stie­renden zusam­men­ge­führt werden, auch provo­ziert. Immer wieder werden auf Plakaten und Schil­dern anti­se­mi­ti­sche Ressen­ti­ments genutzt, um zum Beispiel die Verfol­gung der Juden im Dritten Reich mit der derzei­tigen Situa­tion zu verglei­chen. Ein absolut inak­zep­ta­bler und abstos­sender Vergleich.

Die JUSO möchte die Verschwörungstheoretiker*innen wohl mit den eigenen Waffen schlagen. Foto: JUSO Zürich

Am gegen­über­lie­genden Ende des Platzes, weit entfernt von der Kund­ge­bung steht eine Gruppe von vier Personen der JUSO Zürich. Sie halten den Mindest­ab­stand ein, tragen sogar Masken und zeigen ein Trans­pa­rent, mit dem sie auf die kruden Verschwö­rungs­er­zäh­lungen hinweisen wollen, die immer wieder auf solchen Demos verbreitet werden. Auf dem Plakat der JUSO-Aktivist*innen steht „Gates enteignen – Klas­sen­kampf statt Verschwö­rung“. Auch diese Botschaft scheint etwas kryp­tisch. Man möchte die Verschwö­rungs­theo­re­tiker wohl mit den eigenen Waffen schlagen.

Es ertönt eine weitere Durch­sage der Polizei: „Es werden nun Uniform­kräfte den Platz betreten und mit den Verzei­gungen beginnen.“ Die JUSO-Aktivist*innen sind kurz vor der Durch­sage inter­viewt worden und haben ihr Trans­pa­rent mitt­ler­weile zusam­men­ge­legt. Sie wollen gerade das Geschehen verlassen, doch die Polizei lässt sie zuvor die ganze Härte des ‚Rechts­staats‘ spüren: Die Perso­na­lien der JUSO-Gruppe werden fest­ge­stellt, kurz darauf ist sie verschwunden. Unfern der älteren Dame wird die Frau mit dem gelockten Haar, die vor wenigen Minuten noch das Inter­view gegeben hat, von Bedien­steten der Stadt­po­lizei Zürich gepackt. Auch die ältere Dame, die bisher noch unbe­tei­ligt und fried­lich war, beginnt jetzt auszu­rufen: „Lassen Sie die Frau los! Sie hat doch nichts gemacht. Wir sind hier in der Schweiz!“

Zwischen den Uniformen hört man eine weib­liche Stimme: „Lassen Sie mich doch gehen. Ich bin schon letzte Woche dran­ge­kommen! Ich verlasse den Platz dann auch!“ Die Antwort in harschem Ton lautet: „Das hätten Sie sich früher über­legen müssen, dafür ist es jetzt zu spät.“ Wenige Minuten später wird die Frau wieder in einen Wagen mit Arrest­zelle geschoben und fortgefahren.

Viele Prote­stie­rende haben sich an den Rand des Platzes zurück­ge­zogen und glauben, der Auffor­de­rung der Polizei nach­ge­kommen zu sein – weit gefehlt. Die Staats­macht möchte heute Härte demon­strieren. Eine Gruppe von sechs Beamten nähert sich der Ansamm­lung. Einer der Beamten beschleu­nigt plötz­lich seine Schritte. Eine Frau mit Regen­bo­gen­ta­sche, die nun sieht, wie ein Trupp Poli­zi­sten auf sie zumar­schiert, gerät in Panik, dreht sich um und läuft, ohne auf den Verkehr zu achten, zum Eingang des Kino Corso auf der anderen Seite der Tram­gleise. Das Szenario wirkt wie eine Hetz­jagd. Mehrere Personen werden kurz darauf vor den Läden gegen­über des Sech­se­läu­ten­platzes von der Polizei ange­gangen. Wie die Polizei entscheidet, wessen Perso­na­lien sie fest­stellt und wen sie mitnimmt, lässt sich nicht erkennen. Ein Passant, der einige der chao­ti­schen Szenen mit dem Smart­phone filmt, sagt auf Bern­deutsch: „Das ist eine Hetz­jagd, das ist Willkür!“

Einige Jour­na­li­sten sind noch vor Ort und versu­chen, die vielen Vorkomm­nisse zu doku­men­tieren. Der Video­jour­na­list, der noch inmitten des Platzes – zwischen Poli­zei­fahr­zeugen, nicht unter Demon­stranten – steht, wird nun eben­falls von mehreren Beamten ange­spro­chen. Er zeigt seinen Pres­se­aus­weis, wird anschlies­send nach seiner ID gefragt. Auch die händigt er aus. Zwar scheint mit den Doku­menten alles in Ordnung zu sein, doch die Poli­zi­sten wollen, dass er die Video­ka­mera ausschaltet, die seit dem Inter­view auf dem Stativ steht und die Szene am Platz­rand filmt. Der Video­jour­na­list verwei­gert es, die Kamera auszu­schalten und macht darauf aufmerksam, dass er als im Berufs­re­gi­ster einge­tra­gener Jour­na­list die Rechts­lage kenne. „Sie befinden sich in einer Poli­zei­ak­tion. Ich fordere Sie noch­mals auf, die Kamera auszu­schalten“, erwi­dert man ihm kalt. Auch Poli­zei­ak­tionen dürften aufge­zeichnet werden, korri­giert der Jour­na­list. Die Poli­zi­sten scheinen etwas ratlos und ändern ihre Taktik: „Sie sind Teil­nehmer einer ille­galen Veran­stal­tung.“ „Ich bin kein Teil­nehmer“, erklärt er. Dies sei ein Ereignis von öffent­li­chem Inter­esse und als Jour­na­list sei er berech­tigt, das zu doku­men­tieren. „Ob die Veran­stal­tung bewil­ligt ist oder nicht, spielt da keine Rolle.“ Unbe­irrt von seinen Ausfüh­rungen erteilt man ihm einen Platz­ver­weis und droht mit einer Geldbusse.

Diese abstruse Diskus­sion findet erst ein Ende, als ein weiterer Beamter hinzu­kommt, der den Jour­na­li­sten bittet, sich an den Rand des Platzes zu begeben. Er könne von dort aus weiter doku­men­tieren. Der Jour­na­list bedankt sich beim einsich­tigen Ordnungs­hüter und geht dessen Wunsch nach, auch wenn der Platz mitt­ler­weile sowieso leer ist. Einige Poli­zi­sten sind noch immer vor dem Kino Corso damit beschäf­tigt, Perso­na­lien aufzu­nehmen. Viele Schau­lu­stige scheinen ratlos und erschrocken über die Poli­zei­mass­nahme. „Ich schaue mir das hier näch­sten Samstag wieder an“, sagt ein älterer Herr. Ob als Schau­lu­stiger oder als Prote­stie­render, verrät er nicht.


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