Die Pandemie als Nähr­boden für rechte Bewegungen

In den vergan­genen Monaten haben sich zahl­reiche Orga­ni­sa­tionen von Verschwö­rungs­gläu­bigen und Gegner:innen der Corona-Mass­nahmen gegründet. Als Reak­tion darauf hat sich das linke Bündnis gegen Rechts­ab­biegen konstituiert. 
An der Coronamassnahmen-Demo am 18. September 2021 in Winterthur liefen Anhänger:innen der rechtsextremen Jungen Tat mit. (Foto: zVg)

Das Lamm: Was ist das „Bündnis gegen Rechtsabbiegen“?

BGRA: Wir sind ein über­re­gional orga­ni­siertes Netz­werk und verstehen uns als Teil der ausser­par­la­men­ta­ri­schen Linken. Wir bestehen aus mehreren Dutzend Personen und Orga­ni­sa­tionen aus der ganzen Schweiz, die sich vor einigen Monaten zusam­men­ge­schlossen haben, um Antworten auf den Rechts­rutsch in der aktu­ellen pande­mi­schen Lage zu disku­tieren und eine linke Kritik an dem Umgang mit der Pandemie zu formulieren.

Das ist also alles sehr neu?

Wir treten jetzt öffent­lich in Erschei­nung, weil mit den Prote­sten gegen die staat­li­chen Corona-Mass­nahmen ein natio­na­li­sti­sches, wissen­schafts­feind­li­ches und poli­tisch sehr beäng­sti­gendes Klima geschaffen wurde. Seit geraumer Zeit werden im ganzen Land Fackel­mär­sche durch­ge­führt, Neonazis marschieren an der Spitze von Demos und rechte Schlä­ger­trupps tauchen in Städten auf.

Die von Euch beschrie­benen Szena­rien klingen besorgniserregend.

Hinzu kommt der in der Bewe­gung der Massnahmengegner:innen offen propa­gierte Anti­se­mi­tismus, die Paral­lelen zum Natio­nal­so­zia­lismus sowie die Verdre­hung und Verharm­lo­sung histo­ri­scher Gräu­el­taten. Das ist alar­mie­rend. Deswegen ist es für uns unab­dingbar, klar und deut­lich dagegen Posi­tion zu beziehen.

Worin besteht Eure konkrete Arbeit?

Wir widmen uns der Recherche zu Entwick­lungen von Verschwö­rungs­my­then und dem daraus folgenden Erstarken von natio­na­li­sti­schen und reak­tio­nären Gruppen. Wir wollen aufklären und aufzeigen, inwie­fern anti­wis­sen­schaft­liche Inhalte rechts­extreme Narra­tive in die Mitte der Gesell­schaft tragen. Ausserdem wollen wir eine linke Kritik am Staat äussern und diese wieder mehr ins Zentrum der Diskus­sion rücken.

Weshalb?

Weil wir aufzeigen möchten, dass es sehr wohl möglich ist, Kritik an den Mass­nahmen auf natio­naler sowie inter­na­tio­naler Ebene zu üben – ohne mit Nazis zu marschieren. Es gibt jahr­zehn­te­alte Bewe­gungen gegen auto­ri­täre Über­wa­chungs- und Kontroll­struk­turen, die äusserst anti­ka­pi­ta­li­stisch sind.

Wie hängen rechtes Gedan­kengut und Verschwö­rungs­ideo­lo­gien zusammen?

Rechte Propa­ganda, Sünden­bock­po­litik und Verschwö­rungs­ideo­lo­gien sind abhängig vonein­ander und funk­tio­nieren nach dem Motto: „Wir“ (die Guten) werden von „ihnen“ (den Bösen) bedroht.

Reak­tio­näre Ideen brau­chen Miss­trauen, konstru­ierte Feind­bilder und anti­wis­sen­schaft­liche Ideen, um ihre Existenz zu recht­fer­tigen. Ängste sind der ideale Nähr­boden für natio­na­li­sti­sche Bewe­gungen mit in Teilen faschi­sti­schen Zügen, wie es die Massnahmengegner:innen sind.

Gerade der Begriff des Faschismus wird ja auch vonseiten der Massnahmengegner:innen verwendet, um die derzei­tige Lage zu beschreiben. Wie ist das einzuordnen?

Es gibt ein paar einfache Grund­sätze, die über die verschie­denen Faschismus-Theo­rien gleich bleiben: Faschi­sti­sche Ideo­lo­gien sind immer natio­na­li­stisch, auto­ritär und anti­li­beral. Zudem ist Faschismus ein gesell­schaft­li­ches Aufkommen von extrem reak­tio­nären Kräften. Faschismus ist nicht einfach ein Begriff für alles, was einem gerade nicht passt.

Der Faschismus-Vergleich mit den staat­li­chen Mass­nahmen in der aktu­ellen Situa­tion ist also nicht nur verfehlt, sondern ein stra­te­gi­sches Vorgehen der reak­tio­nären Kräfte: Indem die Rechten und Massnahmengegner:innen alles Mögliche als „faschi­stisch“ bezeichnen, entschärfen sie den Begriff. Dann ist es auch kein so grosses Problem mehr, wenn ihre eigene Bewe­gung – die tatsäch­lich faschi­sti­sche Züge hat – so bezeichnet wird.

Was sind denn die genauen Ziele dieser Bewe­gungen? Die Mass­nahmen sind mitt­ler­weile ja gröss­ten­teils aufge­hoben, doch die Demos gehen weiter.

Die Bewe­gung – zumin­dest jener Teil, der sich bis heute noch gehalten hat – ist sich in ihrer perspek­ti­vi­schen Ziel­set­zung noch nicht einig; abge­sehen davon, dass alles wieder „wie früher“ werden solle. Auch gibt es nach wie vor eine Viel­zahl von Moti­va­tionen wie Geld, Angst, Wut, Mitglie­der­re­kru­tie­rung, Stras­sen­ge­walt und so weiter, um gegen die Mass­nahmen auf die Strasse zu gehen.

Dennoch zeichnet sich die grosse Einig­keit auf der Strasse stark über visu­elle Aspekte wie die natio­na­li­sti­sche Symbolik aus. Die akzep­tierten Slogans sind „Friede, Frei­heit, das Volk ist souverän“, was auch inhalt­lich den starken Natio­na­lismus dieser Bewe­gung widerspiegelt.

Gibt es Eurer Einschät­zung nach Personen in diesen Szenen, die in ihrer Meinung noch nicht sehr verfe­stigt sind und deshalb noch umzu­stimmen wären?

Wenn es diese Personen an den Demon­stra­tionen gibt, so sind es wahr­schein­lich Menschen, die – zum Teil ja auch sehr berech­tigte – Kritik an der staat­li­chen Pande­mie­be­wäl­ti­gung haben. Wer einmal an so einer Demon­stra­tion teil­ge­nommen hat, sollte jedoch schnell einsehen, dass die Mass­nahmen ein Aufhänger sind für weit absur­dere Ideo­lo­gien. Die natio­na­li­sti­sche, völkisch-esote­ri­sche und verschwö­rungs­theo­re­ti­sche Prägung der Demos kann nicht über­sehen werden.

Einige der geäus­serten Kritiken der Massnahmengegner:innen richten sich zum Beispiel an die Big Pharma. Die Phar­ma­in­du­strie, die logi­scher­weise von der Krise profi­tiert hat, solle sie – so der Verschwö­rungs­glaube – deshalb geplant haben. Sind gewisse Ansichten der Anti-Mass­nah­men­be­we­gung ledig­lich geschei­terte Kapitalismuskritik?

Ein sehr effek­tiver und einfa­cher Weg, Kapi­ta­lis­mus­kritik von Verschwö­rungs­er­zäh­lungen zu trennen, ist die folgende Frage: Richtet sich die Kritik gegen die vermeint­lich bösen Moti­va­tionen von einzelnen Menschen oder Gruppen? Ist die Antwort ja, handelt es sich nicht um eine System­kritik. Nicht „böse Menschen“ erklären den schlechten Zustand der Welt, sondern das unzu­rei­chende System, der Kapi­ta­lismus also. Dieser Unter­schied ist grund­le­gend. Deswegen sind Verschwö­rungs­er­zäh­lungen auch nicht der Anfang einer eigent­lich fundierten Kapitalismuskritik.

Rein hypo­the­ti­sche Frage: Wie würde eine post-kapi­ta­li­sti­sche Gesell­schaft auf eine Pandemie reagieren?

In einer post-kapi­ta­li­sti­schen Welt gäbe es zwar immer noch Viren und Pande­mien, diese würden dann aber keine gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Krisen auslösen, da es zum Beispiel keine Impf­pa­tente mehr und dafür ein global starkes Gesund­heits­wesen geben würde.

Was haben wir ‚nach‘ der Corona-Krise zu erwarten?

Weder die neu gebil­deten noch die alten Zusam­men­schlüsse der Rechten und Verschwö­rungs­gläu­bigen werden mit dem Abflauen der Pandemie verschwinden. Prak­tisch jede reak­tio­näre Rand­gruppe wurde durch diese Krise gestärkt, so zum Beispiel die Kame­rad­schaft Heimat­treu oder die Iden­ti­täre Bewe­gung Schweiz. Durch das welt­weite Erstarken von verschwö­rungs­theo­re­ti­schen Narra­tiven sind tatsäch­lich faschi­sti­sche Tendenzen in der Mitte der Gesell­schaft beobachtbar.

Auch falls es gelingen würde, diese Entwick­lung aufzu­halten, werden wir uns in Zukunft mit einem nach rechts poli­ti­sierten Klein­bür­gertum ausein­an­der­setzen müssen, welches auf jede Krise mit klaren, aber falschen Feind­bil­dern, Anti­se­mi­tismus und lautem Geschrei reagiert. Darum müssen wir möglichst viele Menschen über die Gefahr und Funk­ti­ons­weise von verschwö­rungs­theo­re­ti­schem Denken aufklären.

Was sind linke Perspek­tiven für einen Ausweg aus der Krise ohne Verschwörungsmythen?

Einer­seits muss klar benannt werden, wie die Bewe­gung der Massnahmengegner:innen und Verschwörungsmythiker:innen funk­tio­niert und wer von ihr profi­tiert. So kann eine Gegen­be­we­gung gestärkt werden. Ande­rer­seits müssen linke Narra­tive mehr Platz bekommen. Gerech­tig­keit und Soli­da­rität bedeuten konkret: die Aufhe­bung aller Impf­pa­tente, globale Impf­ge­rech­tig­keit, Kollek­ti­vie­rung aller Indu­strien, die durch die Krise dispro­por­tional profi­tiert haben, freier Infor­ma­ti­ons­aus­tausch und die Entkopp­lung der Forschung von ökono­mi­schen Interessen.


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