Insel­koller

Auf Samos wird das Versagen der EU-Migra­ti­ons­po­litik augetragen. Mitt­ler­weile haben dort alle dasselbe Ziel: Die Geflüch­teten sollen die grie­chi­sche Insel verlassen. 
Die griechische Insel Samos. (Foto: Ann Esswein)

Zwei Stunden nach Sonnen­un­ter­gang verwan­delt sich die Stadt. Menschen drängen plötz­lich die schmalen Gassen der Stadt Samos nach oben, mit sich schleppen sie Sprach­kurs­mappen, Plastik­tüten vom Discounter und Sixpacks. Sie scheinen es eilig zu haben, während sich das Zentrum und die Restau­rants mit Tourist:innen füllen.

Die Nacht teilt die Stadt in zwei Lager: Unten die Post­kar­ten­ku­lisse und die flanie­renden Tourist:innen, die bei guter Sicht begei­stert in die Ferne zeigen, wo die türki­sche Küste zu erahnen ist. Oben, sieben Minuten Fussweg entfernt, der “Dschungel”, so nennen die Bewohner:innen das impro­vi­sierte Lager um das ursprüng­liche Camp für Geflüch­tete, das aus allen Nähten geplatzt ist. Während die Tourist:innen unter Sonnen­schirmen sitzen, gibt es dort oben kaum Schatten, flies­sendes Wasser oder Strom.

Seit Mai gelten Ausgangs­be­schrän­kungen, eigent­lich eine Corona-Vorsichts­mass­nahme, nur noch für Geflüch­tete. Von neun Uhr abends bis sieben Uhr in der Früh dürfen sie das Camp nicht verlassen. Poli­zei­be­amte patrouil­lieren in den Gassen und entlang der Prome­nade, kontrol­lieren und verwarnen. In einem offenen Brief an den grie­chi­schen Mini­ster für Migra­tion und Asyl nennen mehr als 40 Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tionen den Lock­down für Campbewohner:innen unrechtmässig.

Das Camp wird nach Sonnen­un­ter­gang geschlossen – eine Coro­na­mass­nahme, heisst es. (Bild: Ann Esswein)

Unten Pools, oben Wasserknappheit

Das Camp ist ein soge­nannter „Hotspot“, ein Sammel­lager, in dem Geflüch­tete regi­striert werden und auf ihr Asyl­ver­fahren warten. Die meisten kommen aus Ländern wie dem Irak, Iran, Syrien, Paki­stan, Marokko oder Alge­rien. Ursprüng­lich auf 650 Menschen ange­legt, leben derzeit über 4’000 Geflüch­tete im Camp und darum herum. Auf keiner der vier anderen grie­chi­schen Inseln mit einem „Hotspot“ liegt dieser so nahe an der einhei­mi­schen Bevöl­ke­rung, den 6’000 Stadtbewohner:innen von Samos. Fragt man die Geflüch­teten, wie lange sie schon auf Samos sind, antworten sie nicht in Tagen, Wochen oder Monaten, sondern in Jahren.

Auf der Insel zeigt sich die fest­ge­fah­rene Situa­tion der euro­päi­schen Migra­ti­ons­po­litik. Ausge­tragen wird sie nicht in Brüssel oder Berlin, sondern an den EU-Aussen­grenzen, in kleinen Orten wie Samos. Nach neuen Plänen der EU-Kommis­sion soll sich das bald ändern. Geflüch­tete würden den Asyl­pro­zess dann nicht mehr zwangs­läufig in dem Land, in dem sie zum ersten Mal EU-Boden betreten haben, durchlaufen.

Falls sie beispiels­weise Geschwi­ster in einem anderen Land haben, könnten sie dorthin kommen. Wird der EU-Migra­ti­ons­pakt umge­setzt, sollen alle Ankom­menden binnen weniger Tage an den Aussen­grenzen erfasst werden: EU-Staaten können Geflüch­tete, die Aussicht auf Asyl haben, dann aufnehmen und werden dabei finan­ziell unter­stützt. Migrie­rende mit geringen Asyl­chancen durch­laufen an den Aussen­grenzen ein Asyl-Schnell­ver­fahren und werden bei nega­tivem Bescheid abge­schoben. So werde es in Zukunft keine grossen Lager auf den grie­chi­schen Inseln geben, verkün­dete die EU-Kommis­sion. Ob der Plan die grie­chi­schen Inseln wirk­lich entla­sten wird? Grie­chi­sche Politiker:innen äusserten sich skeptisch.

In Zukunft soll es keine grossen Lager mehr geben auf den grie­chi­schen Inseln, verspricht die EU-Kommis­sion. (Bild: Ann Esswein)

Von Pools ohne Wasser und Hotels, in denen sie die einzigen Gäste waren, erzählen Joris van der Meere, 20, und Sjors Venhuis, 23. Ihre Seme­ster­fe­rien haben die beiden Nieder­länder trotz Corona auf Samos verbracht. Ein biss­chen Strand, Klet­tern und Schnor­cheln – und nebenher Frei­wil­li­gen­ar­beit im Camp leisten, so hätten sie die vergan­genen Wochen verbracht.

Komisch privi­le­giert fühlte sich das an, sagt Joris, weisses Cappy und blonde Haare: “Wir konnten einfach in die Feri­en­woh­nung, duschen, etwas trinken und unsere Mutter anrufen.” Und die Campbewohner:innen wüssten nicht einmal, ob ihre Eltern noch am Leben sind, ergänzt sein Freund, während im Hinter­grund der Wagen der grie­chi­schen Grenz­po­lizei vorbei­fährt. Mit gepackten Koffern und Reise­ta­schen stehen sie jetzt an der Strand­pro­me­nade. Morgen geht es wieder zurück nach Hause.

Im Schatten eines Zeltes sitzt Abdullah auf einem türkisen Bade­zim­mer­tep­pich. Vom Camp aus sieht er die Dächer der Hotels, Airbnb und Apart­ments, und weiss: “Wir haben nicht dieselben Rechte.” Die Hitze flim­mert über den stau­bigen Strassen, an denen sich Zelte reihen, provi­so­risch zusam­men­ge­flickt aus Schlaf­säcken, Decken und Stöcken. Die Türen der Chemie­toi­letten schwingen im Wind auf und zu.

Abdullah wäre jetzt lieber unten in der Stadt, würde gerne das tun, was 18-Jährige eben tun: Mit den Freunden am Bolz­platz rumhängen. Mehrere Male wurde er von der Polizei aus der Stadt wieder nach oben geschickt, sagt der Syrer, silberne Kette und Fuss­baller-Haar­schnitt. Gestern habe ein Beamter gesagt: “Geh nach Hause, Malakka.” “Malakka”, so wie Arsch­loch. Um den Asyl­pro­zess nicht zu gefährden, will er hier nur mit Vornamen genannt werden. Seit zehn Monaten lebt der 18-Jährige mit seiner Mutter und seinem Bruder in einem Zelt.

Seine Mutter Wadia brät Fisch über offenem Feuer. Der sandige Boden ist gefegt. “Wenn ich ein Zuhause hätte, könnte ich besser auf meine Kinder achten”, sagt sie und zieht an ihrer Ziga­rette. Einen Ort wie diesen wünscht sich keine Mutter für ihre Kinder. Nachts können sie nicht schlafen, die Ratten seien so laut. Weil es kaum Wasch­mög­lich­keiten gibt, hätten sich Aller­gien und Bett­wanzen verbreitet, so beschreibt es Abdullah, mit der Gabel in einem Salat stochernd. Für Früh­stück und Mittag­essen stehen sie bis zu zwei Stunden an.

Wenige Kilo­meter entfernt lehnt Grigoris Tsou­makis, 86 Jahre alt, am Tresen seines Hotels. Für ihn wäre es eine Wohltat, wenn er die Geflüch­teten nicht mehr sähe, sagt er. Er richtet seinen Blick zum Fenster, vor dem sie mit Smart­phones in der Hand auf der Mauer sitzen und das Hotel-WLAN anzapfen. Ausser dem laufenden Fern­seher ist es ruhig an diesem Mittag.

Ein zuge­decktes Keyboard und rusti­kale Möbel stehen in der Eingangs­halle, Platz für etwa hundert Gäste gäbe es, aber der Saal ist leer. Tsou­makis’ Enkel, der das Hotel einmal über­nehmen will, klickt durch die Reser­vie­rungen. Die vielen leeren Käst­chen auf dem Bild­schirm offen­baren eine trübe Bilanz für dieses Jahr: Kaum belegte Zimmer im Juni und Juli, ein Verlust von bis zu 70 Prozent. Die Saison geht wegen der Ausgangs­be­schrän­kungen in diesem Jahr nur fünf Monate statt sieben. In der Zeit müssen sie so viel erwirt­schaften, dass sie damit über den Winter kommen und das Studium der zwei Enkel finan­zieren können.

Asyl­camp und Corona machen ihnen das Geschäft kaputt: Grigoris Tsou­makis und sein Enkel in ihrem Hotel. (Bild: Ann Esswein)

2020 sei das härteste Jahr seit er das Hotel 1984 eröffnet hat, sagt Tsou­makis. Wenn er von dieser desa­strösen Urlaubs­saison erzählt, spricht er aber wenig über die Corona-Pandemie, sondern vor allem über die Geflüch­teten. Seit das Camp immer grösser werde, kämen weniger Gäste, glaubt Tsou­makis zu beob­achten. „Die Leute haben Angst, dass Geflüch­tete die Stadt über­nehmen.” Ob er Kontakt zu den Geflüch­teten hat? “Es ist schwierig, weil ihre Kultur und Tradi­tion ganz anders ist,” sagt er.

Samos ist wie ein Reagenz­glas, in dem man ablesen kann, was passiert, wenn über Jahre Frustra­tion auf Frustra­tion folgt. Die Corona-Pandemie trifft in Grie­chen­land eine Wirt­schaft, die seit über zehn Jahren strau­chelnd versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Und wäre das allein nicht schon genug, fühlen sich viele Griech:innen von der euro­päi­schen Migra­ti­ons­po­litik nun im Stich gelassen.

Geor­gios Stantzos, der Bürger­mei­ster der Insel­haupt­stadt, erin­nert sich an die Situa­tion vor fünf Jahren, als Angela Merkel ihr berühmtes „Wir schaffen das“ verkün­dete. Damals war auch er offen, arbei­tete ab und zu als Rettungs­schwimmer, unter­stütze die Bewohner:innen, als sie hier noch die einzigen waren, die huma­ni­tären Hilfe leisteten, lange bevor die NGOs kamen.

Er sitzt mit verschränkten Armen, blauer Atem­maske und schwarz-gerahmte Brille im Gesicht hinter seinem massiven Schreib­tisch im Rathaus von Vathi. Stantzos hat eine schwie­rige Aufgabe: Die euro­päi­sche Krise, die in seiner Stadt ausge­tragen wird, managen. Er sei wie ein Vermittler zwischen der Bevöl­ke­rung, deren Geduld am Ende ist, der grie­chi­schen Regie­rung und der EU. Im Dezember geriet er in die Schlag­zeilen, als er im Stadt­zen­trum Geflüch­tete beschimpfte, als auch ihm der Gedulds­faden riss. Was die Lösung wäre, fasst Stantzos in wenigen Worten zusammen: “Dass alle Flücht­linge die Insel verlassen”. Die EU würde das Thema verharm­losen, sie alleine lassen.

Oben Asyl­camps, unten Tourist:innenmeile. (Bild: Ann Esswein)

Ende August kam der grie­chi­sche Mini­ster für Migra­tion und Asyl zu Besuch und kündigte an, dass bis Ende des Jahres ein neues, geschlos­senes Lager Erleich­te­rung für die Insel bringen soll. Knapp 130 Millionen Euro stellte die EU Kommis­sion Grie­chen­land für den Bau soge­nannter Mehr­zweck-Aufnahme- und Iden­ti­fi­zie­rungs­zen­tren auf den Inseln Samos, Leros und Kos zur Verfü­gung. Offi­ziell verspre­chen die semi-geschlos­senen Lager eine ange­mes­se­nere und stan­dar­di­sierte Unter­brin­gung in Wohn­con­tai­nern, mehrere hundert Security-Mitarbeiter:innen und mit Armband passier­bare Tore. Eröffnet das Camp wie ange­kün­digt bis Ende des Jahres, wird die einge­schränkte Bewe­gungs­frei­heit, jetzt durch Corona gerecht­fer­tigt, auf Samos Normalzustand.

Bisher führt nur ein Schot­terweg zur Baustelle, sieben Kilo­meter von Vathi entfernt. Hunde bellen in einem Käfig. Stachel­draht umzäunt das zukünf­tige Gelände. Nur ein einziger schat­ten­spen­dender Baum steht auf dem Hügel, auf dem das erste Exempel einer huma­neren Geflüch­teten-Unter­brin­gung erbaut werden soll. Was laut NGOs fehlen würde: Bildungs­an­ge­bote, Beschäf­ti­gung und Bewe­gungs­frei­heit. Bevöl­ke­rung, Politik, NGOs und Geflüch­tete – kaum jemand freut sich über die neuen Camps. Sie haben mitt­ler­weile alle dasselbe Ziel: Dass die Geflüch­teten die Insel so bald wie möglich verlassen.

 


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