Was bleibt ist Frem­den­hass oder Sentimentalität

Geht es um Hilfe für Menschen auf der Flucht, können einige private Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen in einem fast recht­losen Raum schalten und walten. Andere hingegen werden verklagt und an ihrer Arbeit gehin­dert. Warum so inkon­se­quent, Europa? 
"EU wo bist du?"- eine durchaus berechtigte Frage. (Grafitti in Lesbos, Foto Anina Ritscher)

Wer hätte gedacht, dass es so weit kommen würde: Schiffe mit geret­teten Menschen an Bord dürfen seit einigen Wochen an keinem italie­ni­schen Hafen mehr anlegen und Seenotretter_innen werden von euro­päi­schen Staaten als Schlep­per­ge­hilfen diffa­miert und verklagt. Ein derar­tiger Umgang mit den ehren­amt­li­chen Helfer_innen ist nicht nur erschreckend, er ist auch wider­sprüch­lich. Denn Europa geht längst nicht gegen alle privaten Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen so stark vor wie gegen die Seenotretter_innen.

Beson­ders auf der grie­chi­schen Insel Lesbos scheint seit Jahren ein rechts­freier Raum für private Helfer_innen zu bestehen. Seit dem EU-Türkei-Abkommen von 2016 sitzen dort Tausende Menschen fest und können nicht weiter­reisen. Sie warten zum Teil seit zwei Jahren auf eine Entschei­dung zu ihrem Asyl­an­trag. Die Notun­ter­künfte auf den Inseln sind seit dem Deal über­füllt und die Lage der dort gestran­deten Menschen wird zuneh­mend prekär. Die Behörden tun seit Jahren nichts dagegen. Das Hilfs­va­kuum füllen NGOs. Im Camp Moria, dem grössten der Insel, wurde das Elend der Menschen aller­dings so schlimm, dass ein grosser Teil der etablierten NGOs das Camp aus Protest gegen die Untä­tig­keit der Behörden mitt­ler­weile verlassen hat.

Untä­tig­keit schafft Raum für unse­riöse NGOs

Unter anderem auch die inter­na­tio­nale Orga­ni­sa­tion Méde­cins Sans Fron­tières. Sie arbeitet jetzt von einem Standort ausser­halb des Camps weiter. Das Camp über­liessen die Ärzte ohne Grenzen ehren­amt­li­chen Grass­roots-Orga­ni­sa­tionen. Die Haupt­ver­ant­wor­tung über­nahm eine US-ameri­ka­ni­sche Orga­ni­sa­tion mit dem Namen Euro­Re­lief. Die Frei­wil­ligen dieser Orga­ni­sa­tion verteilen Essen und Klei­dung im Camp.

Wenn man unzäh­ligen Berichten Glauben schenkt, schadet Euro­Re­lief den Menschen viel­leicht mehr, als es nützt: Gemäss der Recherche der unab­hän­gigen Infor­ma­ti­ons­platt­form „Are you Syrious?” wird die Orga­ni­sa­tion von einer erze­van­ge­li­kalen menno­ni­tisch-amischen Orga­ni­sa­tion finan­ziert und verfolgt ein missio­na­ri­sches Ziel. Angeb­lich nutzen die Frei­wil­ligen ihre Verant­wor­tung und die Not der Menschen aus, um das Chri­stentum unter den Geflüch­teten zu verbreiten. Campbewohner_innen, die sich für das Chri­stentum inter­es­siert zeigen, werden von den Helfer_innen laut der Berichte oft bevor­zugt. Die Menschen in Moria haben Hilfe bitter nötig. Aber sie brau­chen psycho­lo­gi­sche und ärzt­liche Hilfe, juri­sti­schen Rat und eine anstän­dige Unter­kunft, keine reli­giöse Konversion.

Neben Euro­Re­lief arbeiten auf Lesbos unzäh­lige Klein- und Kleinst­or­ga­ni­sa­tionen. Viele werden ehren­amt­lich geführt und von Privat­per­sonen finan­ziert. Da es an profes­sio­nellen Helfer_innen mangelt, sind diese zivilen Projekte auf gutmei­nende, aber oft unin­for­mierte und unge­schulte Frei­wil­lige ange­wiesen. Wenn diese von ihren Erleb­nissen im Flücht­lings­camp erzählen, klingt das manchmal nach einem neoko­lo­nia­li­sti­schen Helfer­kom­plex, anstatt nach ernst­hafter und profes­sio­neller Hilfe: „Über Gespräche mit Flücht­lingen, die trotz Perspek­tiv­lo­sig­keit positiv in die Zukunft blicken, offen mit mir ins Gespräch kommen und dankbar sind für alles, was für sie getan wird, bin ich glück­lich“, berichtet zum Beispiel ein ehema­liger Helfer auf Bento. Solche Berichte zeugen von einer Blind­heit gegen­über den Ursa­chen der Krise.

Die über­füllten Camps beispiels­weise sind eine direkte Konse­quenz des EU-Türkei-Abkom­mens. Es hat das Asyl­ver­fahren auf den Inseln so geän­dert, dass die Mehr­heit der Asylbewerber_innen direkt auf den Inseln abge­wiesen und zurück in die Türkei geschickt werden können – aber meist dauert es Monate und in manchen Fällen Jahre, bis der Entscheid gefällt wird. Bis dahin dürfen die Bewerber_innen die Insel nicht verlassen. Solche Zusam­men­hänge sind nicht allen Frei­wil­ligen klar — sollten sie aber. Denn die Situa­tion der Menschen auf der Flucht ist keine Natur­ka­ta­strophe, kein böses Spiel des Schick­sals. Viel­mehr wird diese Situa­tion direkt herbei­ge­führt durch ganz bewusste und gewollte poli­ti­sche Entscheide.

Fabian Bracher leitete im Jahr 2017 die Orga­ni­sa­tion One Happy Family auf Lesbos. Sie betreibt ein Gemein­schafts­zen­trum, in dem sich die Menschen, die seit Monaten in den Flücht­lings­camps fest­sitzen, vom Stress in den Camps erholen können. Bracher bestä­tigt die Kritik an dem mangelnden Vorwissen und der fehlenden Profes­sio­na­lität der Frei­wil­ligen, er sieht darin aber auch Chancen: „Manchmal kommen Leute zu uns, die wenig Ahnung von der aktu­ellen poli­ti­schen Lage haben. Aber oft schöpfen sie aus ihrer Erfah­rung hier eine poli­ti­sche Haltung. Es ist wichtig, dass sie sehen, was hier los ist und diese Erfah­rungen nach Hause tragen.“

Unge­schulte frei­wil­lige Helfer_innen sollten laut Bracher aber nur Lücken füllen, die die grossen Insti­tu­tionen nicht zu füllen vermögen, weil sie zu schwer­fällig und zu unfle­xibel sind. Diese Flexi­bi­lität der Frei­wil­ligen war beson­ders 2015 wichtig, als die Regie­rungen der Ankunfts­länder mit der neuen Situa­tion über­for­dert waren. Damals handelte es sich um eine akute Notsi­tua­tion, in der schnell gehan­delt werden musste – zivile Helfer_innen sprangen schnell und zahl­reich in die Bresche. Mitt­ler­weile ist aus der Notlage aber ein blei­bender Zustand geworden – und die frei­wil­ligen Helfer_innen tragen noch immer grosse Verant­wor­tung. Da es so lang­fri­stig nicht bleiben kann, wägen sie mitt­ler­weile ab: „Von Situa­tion zu Situa­tion gilt es zu entscheiden: Greifen wir, die Grass­roots-Orga­ni­sa­tionen, kollektiv ein? Oder ist das die Verant­wor­tung der Behörden? Wir wollen ihnen keine allzu einfache Lösung bieten und gratis die Arbeit leisten, die eigent­lich ihre Verant­wor­tung wäre“, berichtet Bracher.

Schi­kane von oben

Die Tatsache, dass die EU unpro­fes­sio­nelle huma­ni­täre Hilfe nicht nur duldet, sondern als Lücken­fül­lerin für das eigene Versagen gerne bean­sprucht, steht in krassem Kontrast zur aktu­ellen Debatte um einige andere private NGOs. Das ehren­amt­lich geführte inof­fi­zi­elle Camp Pikpa zum Beispiel soll nach jahre­langem Betrieb geschlossen werden. Der Grund ist erschreckend: Vor einigen Wochen mussten rund 1000 Menschen das Camp Moria wegen Schlä­ge­reien verlassen. Darunter waren viele kurdi­sche Fami­lien, die im Camp nicht mehr sicher waren. Die grie­chi­schen Migra­ti­ons­be­hörden baten daraufhin das Camp Pikpa, 350 von ihnen vorüber­ge­hend bei sich zu beher­bergen. Das Camp­team willigte ein, in der Auffas­sung, die Behörden würden sich um eine lang­fri­stige Lösung kümmern. Einen Tag später fuhr das grie­chi­sche Hygie­ne­institut vor und fand zwei Verstösse gegen das Hygie­nege­setz. Zudem beschwerten sich Hotelbesitzer_innen und Nachbar_innen um das Camp herum über Lärm. Das Camp sollte daraufhin geschlossen werden und die Betreiber_innen standen vor Gericht. Der Richter entschied zwar vorerst zu ihren Gunsten, aber der Fall ist noch nicht abge­schlossen. Während­dessen versinkt das offi­zi­elle und vom grie­chi­schen Militär geführte Moria in Dreck und Elend.

Es gibt unzäh­lige Beispiele, ähnlich dem Fall von Pikpa. Aber noch strenger springen euro­päi­sche Regie­rungen mit den ehren­amt­li­chen Helfer_innen im Mittel­meer um. Seit einigen Wochen werden private Seenot­ret­tungs­or­ga­ni­sa­tionen an ihrer Arbeit gehin­dert. Die deut­schen Rettungs­boote „Life­line“ und „Seawatch“ liegen seit Wochen in einem Hafen in Malta und dürfen nicht ablegen. Der Kapitän der „Life­line“ wurde vom malte­si­schen Staat verklagt, weil er angeb­lich dessen Anwei­sungen und das inter­na­tio­nale Recht miss­achtet habe. Der italie­ni­sche Innen­mi­ni­ster Matteo Salvini der rechts­po­pu­li­sti­schen Partei Lega Nord zeigt sich den Seenotretter_innen gegen­über beson­ders giftig. Er lässt seit Wochen keine Boote in Italien anlegen, die geret­tete Schiff­brü­chige an Bord haben – nicht einmal, wenn es sich um offi­zi­elle Rettungs­boote der EU handelt. Auch das Aufklä­rungs­flug­zeug „Moon­bird“ wird an seiner Arbeit gehin­dert. Es wird unter anderem von der Schweizer Pilo­ten­in­itia­tive getragen.

"EU wo bist du?"- eine durchaus berechtigte Frage. (Grafitti in Lesbos, Foto Anina Ritscher)
„EU, wo bist du?“ fragt dieses Graf­fiti auf Lesbos. (Foto Anina Ritscher)

Es mag nicht verwun­dern, dass Politiker_innen wie Matteo Salvini sich so harsch gegen­über den Seenotretter_innen äussern. Als mailän­di­scher Stadtrat forderte Salvini 2009, dass es extra U‑Bahnwaggons nur für Mailänder_innen geben sollte, um sie vor der „Unge­zo­gen­heit vieler Ausländer“ zu schützen. Erschreckend ist diese offen frem­den­feind­liche Haltung aber trotzdem.

Menschen­feind­liche Asyl­po­litik ist Mainstream

Mit solch hetze­ri­schen Aussagen sind die rechten Politiker_innen keine Ausnahme, sondern viel­mehr Ausdruck der euro­päi­schen Asyl­po­litik an sich. Diese setzt seit Jahren darauf, Menschen auf der Flucht abzu­schrecken oder auszu­la­gern. Nach dem Deal mit der Türkei folgte 2017 die „Malta-Dekla­ra­tion“. In ihr verpflich­tete sich die EU, die liby­sche Küsten­wache sowohl finan­ziell als auch durch entspre­chende Ausbil­dung zu unter­stützen. Diese wiederum soll seither die in Libyen able­genden Boote an der Meeres­über­que­rung hindern oder zurück nach Libyen trans­por­tieren. All diese Entscheide wollen die Flüch­tenden nicht nur möglichst weit weg von Europa halten, sie nehmen dafür auch in Kauf, dass Tausende leiden – und viele sterben.

Leider reicht die frem­den­feind­liche Haltung über das rechte poli­ti­sche Lager hinaus: Die Zeit-Jour­na­li­stin Mariam Lau beispiels­weise meinte, die grossen Zusam­men­hänge erkannt zu haben, als sie schrieb: „Je mehr gerettet wird, desto mehr Boote kommen – so einfach ist das, und so fatal.“ Dass das nicht stimmt, zeigte sich bereits 2015, als die italie­ni­sche Rettungs­ak­tion „Mare Nostrum“ einge­stellt wurde. Denn heute wissen wir: Es wurde der „lange Sommer der Migra­tion“, auch ohne „Mare Nostrum“. Mehrere Studien wider­legen den Zusam­men­hang eben­falls. Aber das Argu­ment zieht: Rechte Politiker_innen werfen ehren­amt­li­chen Seenotretter_innen vor, Hand­langer von Schlep­per­banden zu sein.

Die Verun­glimp­fungen schockieren Amnesty Inter­na­tional: „Diese Kritik ist nicht berech­tigt. Im Gegen­teil: Es wäre unter­las­sene Hilfe­lei­stung, die Menschen im Meer ertrinken zu lassen oder die ‚Rettung’ der liby­schen Küsten­wache zu über­lassen, wie das die EU anstrebt“, teilte deren Medi­en­spre­cherin mit. In einem 2017 veröf­fent­lichten Bericht zeigt Amnesty Inter­na­tional auf, wie die EU mitver­ant­wort­lich ist für schwere Menschen­rechts­ver­let­zungen gegen Menschen, die nach der miss­glückten Meeres­über­que­rung zurück nach Libyen gebracht werden.

Die Retter_innen retten die Menschen also nicht nur vor dem Ertrinken, sondern auch vor der Abschie­bung in liby­sche Inter­nie­rungs­lager, wo ihnen Folter und Erpres­sung droht. Sie betreiben so aktiven Protest gegen die EU-Asyl­po­litik. Und genau das wird ihnen jetzt zum Verhängnis: Denn poli­ti­schen Protest gegen das Grenz­re­gime, das dulden die Regie­rungen Europas nicht. Wer es trotzdem wagt, wird diffa­miert und kriminalisiert.

Auch das bedrohte Camp Pikpa äussert sich klar gegen Rassismus und Faschismus und pran­gert die EU-Asyl­po­litik auf ihrer Face­book­seite an. Die einzige Alter­na­tive zum puren Frem­den­hass der Politiker_innen, die übrig bleibt, ist also die unpo­li­ti­sche Senti­men­ta­lität von Orga­ni­sa­tionen wie Euro­Re­lief oder dem Frei­wil­ligen im Bento-Bericht. Das Credo der EU lautet: Gratis Hilfe, ja bitte, aber nur, wenn ihr die Klappe haltet und euch nicht zu sehr einmischt.

Kritik von unten – ein Hoffnungsschimmer

Und was ist mit dem One Happy Family-Gemein­schafts­zen­trum, das eben­falls offene Kritik an der euro­päi­schen Politik übt? „Wir sind scheinbar gerade noch unter dem Radar der Behörden”, sagt Bracher. Sie wurden noch nie an ihrer Arbeit gehin­dert. Bracher plädiert für mehr offen­sive poli­ti­sche Aktionen von zivilen Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen: „Kleine Orga­ni­sa­tionen trauen sich eher, die Asyl­po­litik öffent­lich anzu­pran­gern, als die etablierten NGOs. Wir leisten viel Öffent­lich­keits­ar­beit. Immer, wenn wir in einer akuten Notsi­tua­tion eingreifen müssen, machen wir sofort danach Druck, indem wir publik machen, wie die Behörden versagen.“ Seit einigen Monaten ist Bracher zurück in der Schweiz und auch hier will er poli­tisch etwas bewegen: Mit einer Post­kar­ten­ak­tion möchte er den Bundesrat dazu bringen, das Kontin­gent für huma­ni­täres Asyl in der Schweiz um 10‘000 aufzu­stocken. Ein Funken Hoff­nung bleibt.


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