Muss Protest auch in Krisenzeiten möglich sein? Für die einige Dutzend Personen, welche sich am Freitag, dem Tag der Arbeit, gegen 12 Uhr auf der Gemüsebrücke in Zürich versammelten, war die Antwort ein klares Ja. Die aus gewerkschaftlichen AktivistInnen bestehende Basisgruppe ZBÖ (Zürich Bleibt Öffentlich) hatte VertreterInnen unterschiedlicher Berufssparten zu einer Protestversammlung auf der Gemüsebrücke im Zürcher Kreis 1 eingeladen.
In einer internen Mitteilung, die dem Lamm vorliegt, schreibt die ZBÖ, dass das Ziel der Versammlung war, auf die prekären Verhältnisse in verschiedenen Bereichen des Service Public aufmerksam zu machen. Diese werden durch die anhaltende und bevorstehende Krise sichtbarer denn je: Privatisierungen, miese Anstellungsbedingungen, schlechter Lohn, fehlende Anerkennung. Teilgenommen haben etwa Gruppen aus den Bereichen Soziale Arbeit, Kitas und Horte, Personen des Gastra-Kollektivs, Elterngruppen, NGOs und VertreterInnen von Spitalangestellten und sonstigen im Care-Bereich Beschäftigten.
Dass es politisch widersprüchlich und gesamtgesellschaftlich heikel ist, momentan auf die Strasse zu gehen, war den InitiantInnen der ZBÖ durchaus bewusst. In der Einladung, welche die Basisgruppe im Vorfeld der Versammlung an die Berufsgruppen verschickt hatte, hiess es: „Es ist verständlich, dass die Gewerkschaften offiziell die 1. Mai-Demo absagen, weil eine Massendemonstration ein gesundheitliches Risiko wäre, dessen Auswirkungen wir tagtäglich in unseren Berufen ausgesetzt sind. Aber wir denken, es wäre falsch, den Tag nicht politisch zu nutzen und einfach still zu bleiben.“
So schlug die ZBÖ den GewerkschaftsvertreterInnen vor: „Wir denken, es wäre – unter den aktuellen Bedingungen – ein starkes Zeichen, wenn wir es schaffen, am 1. Mai – als Ersatz für die ausfallende Demonstration am Vormittag – mit genügend Abstand zueinander eine Kundgebung zu machen, in der die verschiedenen Bereiche des Service Public sichtbar werden.“ In der Einladung werden die Teilnehmenden ausdrücklich dazu aufgefordert, sich rigide an die Richtlinien des BAG zu halten.
Die VertreterInnen der einzelnen Berufe kamen in Kleingruppen, zu dritt oder zu viert, alle trugen Mundschutz, manche Handschuhe. Die Gruppen platzierten sich in grossen Abständen zueinander um den Markplatz auf der Gemüsebrücke und hielten ihre Transparente hoch. Auch einige Kinder waren dabei. Geplant waren Reden, ein Theater und ein Chor; friedliche und kreative Ausdrucksformen, angepasst an die momentane Lage. Doch dazu kam es nicht.
Nach nicht einmal fünf Minuten wurde die Kundgebung von einer Hundertschaft der Stadtpolizei Zürich, in Kampfmontur und mit Gummischrotgewehr im Anschlag, aufgelöst. Einige TeilnehmerInnen wurden durch die Altstadt verfolgt, es kam zu mindestens drei Verhaftungen. Das Vorgehen der Polizei wirft Fragen auf: War dies das angemessene Vorgehen staatlicher Sicherheitskräfte gegen GesetzesbrecherInnen? Oder ist der Einsatz ein anschauliches Beispiel für die Einschränkungen der Grundrechte aufgrund einer demokratisch kaum legitimierten Notstandsverordnung?
Klatschen und Verhaften
Die von der Basisgruppe Zürich Bleibt Öffentlich organisierte Platzkundgebung erfüllte alle laut BAG notwendigen Sicherheitsmassnahmen: mindestens zwei Meter Abstand zwischen einzelnen Personen, Gesichtsmasken, keine grösseren Gruppen als fünf Personen auf einem Fleck. Auch wenn das Auffahren der Polizei zuerst mit lauten Buh-Rufen und Pfiffen quittiert wurde, lösten die VeranstalterInnen die Kundgebung nach einer kurzen Diskussion mit der Polizei eigenständig auf. Darauf rückte die Polizei jedoch nicht ab, im Gegenteil: Sie rückte vor.
Die Situation auf der Gemüsebrücke steht sinnbildlich dafür, wie wir den 1. Mai 2020 in Zürich in Erinnerung halten sollten: als eine selbsterfüllende Prophezeiung. Bereits im Vorfeld geisterten die altbekannten Schreckensszenarien grosser Ausschreitungen und Randale durch die Gratisblätter des Landes. Das dürfte auch das Wahrnehmungsvermögen der Beamten beeinflusst haben. Nur: Es gab keine Randale und Ausschreitungen. Stattdessen wurden Personen verhaftet, für die vor einigen Wochen noch frenetisch geklatscht worden war, weil sie sich nicht mit Symbolpolitik zufriedengaben, sondern ihre Forderungen kundtaten. Systemrelevant bedeutet zurzeit eben vor allem eines: stummer Gehorsam.
In der offiziellen Tagesbilanz der Stadtpolizei Zürich ist weder die Kundgebung auf der Gemüsebrücke noch das Einschreiten der Sicherheitskräfte dokumentiert. Lediglich in einer Zwischenbilanz von 16:30 Uhr steht: „[Es] musste die Polizei an der Gemüsebrücke intervenieren und mehrere Dutzend Personen auf die Covid-Verordnung aufmerksam machen und auffordern, den Platz zu verlassen. Nachdem sich ein Mann und eine Frau den Anordnungen der Polizei widersetzten, wurden sie festgenommen. Auch sie trugen Demonstrationsmaterial wie Megaphon und pyrotechnische Gegenstände mit sich.“
Die ZBÖ hatte keine Bewilligung für die Kundgebung eingereicht, was jedoch keine Rolle spielte. Wie der Tages-Anzeiger berichtete, bearbeitet die Stadt Bewilligungen unter der momentanen Notstandsverordnung ohnehin nicht. Ein im bürgerlichen Sinn legaler Protest ist so also von vornherein nicht möglich gewesen, was die Frage nach sich zieht, wie sich die doppelte Illegalisierung des Protestes auf das noch ausstehende Strafmass für die Festgenommenen auswirken wird. In der NZZ war schon mal zu lesen, dass die Stadt das Strafmass für die Teilnahme an unbewilligten Versammlungen und Veranstaltungen während der Corona-Pandemie hochgeschraubt hat.
Zu einer weiteren Verhaftung im Kontext der Kundgebung kam es wenig später in der Nähe des Bürkliplatzes: Eine Ärztin aus dem Grossraum Zürich wurde festgenommen, als sie zusammen mit einigen anderen Personen ein Foto schiessen wollte. Gegenüber dem Lamm sagt sie: „Wir, eine Gruppe des Gesundheitspersonals, wollten nach Auflösung der Kundgebung noch schnell ein Foto unseres Transparentes machen, um dieses wenigstens zu dokumentieren.“ Doch bevor die Gruppe das Transparent überhaupt ausrollen konnte, seien zwei Kastenwagen der Stadtpolizei vorgefahren. „Wir wurden ziemlich brutal angehalten, ans Auto gestellt, abgetastet und unsere Taschen kontrolliert. Dass sich in meinem Rucksack ein Transparent befand, war Grund genug für eine Verhaftung.“ Erst am frühen Abend konnte die Ärztin die Wache wieder verlassen.
Rykart versus BAG
Natürlich kann argumentiert werden, dass eine Platzkundgebung auch unter Beachtung der Sicherheitsmassnahmen einen Verstoss gegen die Sicherheitsverordnung darstellt und darum aufgelöst werden muss. Ob so ein hartes Durchgreifen bei Personen, die mit einem Transparent für ein Foto posieren, verhältnismässig ist, bleibt trotzdem fraglich. Zumal im Vorfeld selbst der Bund davon gesprochen hatte, dass es am 1. Mai einen gewissen Bewegungsspielraum geben könnte. So liess das BAG gegenüber dem Tages-Anzeiger verlauten, die Behörden hätten einen Handlungsspielraum, „insbesondere wenn sich nur einzelne Personen an einer Aktion beteiligen“. Man nannte sogar konkrete Beispiele: „Denkbar sind alle Formen von politischen Äusserungen, bei denen es zu keinen Menschenansammlungen kommt (beispielsweise Aufstellen von Plakaten im öffentlichen Raum)“, zitiert der Tages-Anzeiger das Bundesamt weiter.
Laut der Sicherheitsvorsteherin der Stadt Zürich Karin Rykart sei der Spielraum unter der Corona-Notverordnung dagegen „gering“, wie diese auf Anfrage gegenüber dem Tages-Anzeiger sagte.
Und so verhielt sich die Polizei am Freitag dann auch. Die Ereignisse vom 1. Mai beweisen nach dem strikten Durchgreifen an der Zürcher Auto-Flüchtlingsdemo vom 18.04 und der sofortigen Auflösung einer Kundgebung von Frauen der Gruppe Ni Una Menos gegen Femizide auf dem Helvetiaplatz einmal mehr, dass Rykarts Behörde scheinbar jedes Augenmass abhandengekommen ist. Nun steht das Vorgehen der Stadtpolizei nicht nur von Seiten der AktivistInnen und des offiziellen 1. Mai Komitees in der Kritik.
In der Tagesbilanz der Stadtpolizei heisst es hierzu knapp: „Wie immer bei schwierigen Einsätzen wird der gesamte Einsatz umfassend, unter Einbezug der an die Stadtpolizei gerichteten politischen Vorwürfe, ausgewertet und beurteilt und dort, wo es angezeigt ist, die notwendigen Lehren gezogen.“
Man darf gespannt sein, welche Lehren dies sein werden. Ebenso offen ist, wie die Stadt gedenkt, die anstehenden Lockerungen der Notstandsverordnung auf das Verhalten der Sicherheitsbeamten zu übersetzen.
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