Bundesrat Parmelin vergisst die Selbstständigen

270‚000 indi­rekt von den Corona-Mass­nahmen betrof­fene Selbst­stän­dige haben am letzten Mitt­woch darauf gewartet, dass der Bundesrat bekannt gibt, wie man nun auch sie unter­stützen will. Verge­bens. Dabei sind die Ungleich­be­hand­lungen offensichtlich. 
Können Selbstständige Unterstützungsgelder hoffen? (Foto: Unsplash)

Guy Parmelin sagte an der Pres­se­kon­fe­renz vom 1. April (Minute 2): „Der Bundesrat will den indi­rekt betrof­fenen Selbst­stän­digen wie zum Beispiel Taxi­fah­rern und anderen Härte­fällen helfen. Das Depar­te­ment des Inneren muss zusammen mit dem Wirt­schafts­de­par­te­ment und dem Finanz­de­par­te­ment bis näch­sten Mitt­woch konkrete Lösungs­vor­schläge ausar­beiten.“ Was haben die Depar­te­mente also erar­beitet? Nun, anschei­nend nicht viel. Parmelin scheint sein Verspre­chen inner­halb einer Woche gar vergessen zu haben. Denn erst auf Nach­frage einer Jour­na­li­stin (Minute 42) erklärt Parmelin in der Pres­se­kon­fe­renz am besagten „näch­sten Mitt­woch“, dass das Problem sehr komplex sei und man noch genauer abklären müsse, wer was erhalten soll. Dabei ist es offen­sicht­lich, dass die Selbst­stän­digen und die Ange­stellten momentan nicht dieselben Möglich­keiten haben.


In mehreren Beiträgen analy­sierte Lamm-Redak­torin Alex Tiefen­ba­cher die Einfüh­rung und Umset­zung der Corona-Hilfe für die Selbstständigen.


Im Moment gibt es zwei Instru­mente, wie Arbei­tende, deren Einkommen von den Corona-Mass­nahmen des Bundes betroffen sind, trotzdem zu Geld kommen können. Für die Ange­stellten können die Unter­nehmen Kurz­ar­beits­zeit­ent­schä­di­gung bean­tragen. Dadurch erhalten die Firmen von der zustän­digen Arbeits­lo­sen­kasse 80 Prozent der betrof­fenen Löhne, damit sie dieses Geld an ihre Mitar­bei­tenden weiter­leiten können. Für Selbst­stän­dig­er­wer­bende wurde das Corona-Taggeld ins Leben gerufen. Wer hierfür zuge­lassen wird, kann 80 Prozent des letzt­jäh­rigen Einkom­mens in Form einer Tages­pau­schale geltend machen. Aber zwischen den beiden Instru­menten bestehen entschei­dende Unterschiede.

Selbst­stän­dige müssen direkt betroffen sein, bei Unter­nehmen genügt eine indi­rekte Betroffenheit

Damit ein Unter­nehmen Kurz­ar­beits­ent­schä­di­gung bean­tragen kann, muss ein ausser­or­dent­li­ches Ereignis vorliegen, welches zu kurz­fri­stigen und unver­meid­baren Arbeits­aus­fällen führt. Der Bundesrat hat in seiner Pres­se­kon­fe­renz vom 16. März Corona zu einem solchen Ereignis erklärt und dadurch Unter­nehmen, die nun direkt, indi­rekt oder super­in­di­rekt unter den Corona-Mass­nahmen leiden, erlaubt, Kurz­ar­beit zu bean­tragen. Und das haben sie getan: etwa die Gastro­be­triebe, weil ihnen das Arbeiten schlichtweg verboten wurde. Die SWISS, weil die Nach­frage nach Flügen einge­bro­chen ist oder die Tamedia, zu welcher auch der Tages-Anzeiger gehört, weil die Zeitung nicht mehr genug Geld über Inse­rate einnehmen könne. Die Unter­stüt­zung wird breit gestreut.

Ganz anders sieht das bei den Selbst­stän­digen aus. Diese kriegen nur dann ein Corona-Taggeld, wenn sie direkt von den bundes­rät­li­chen Verboten betroffen sind. Das heisst: Nur wer seinen Betrieb wegen den vom Bundesrat verhängten Verboten zwangs­schliessen musste oder direkte Erwerbs­ein­bussen hat, weil der Bund alle privaten und öffent­li­chen Veran­stal­tungen unter­sagt hat, kriegt Corona-Taggeld.

Nur Selbstständige mit Betrieben, die auf dieser Liste stehen, gelten als «direkt» betroffen und können wegen Betriebsschliessung ein Corona-Taggeld beantragen. Neben den Selbstständigen, die sich in dieser Liste wiederfinden, können noch selbstständig Erwerbende ein Corona-Taggeld beantragen, die vom Veranstaltungsstopp betroffen sind. Alle anderen gelten als indirekt betroffene Selbstständigen und können nichts beantragen (Screenshot SVA Zürich, 11.4.2020)
Nur Selbst­stän­dige mit Betrieben, die auf dieser Liste stehen, gelten als „direkt“ betroffen und können wegen Betriebs­schlies­sung ein Corona-Taggeld bean­tragen. Neben den Selbst­stän­digen, die sich in dieser Liste wieder­finden, können noch Selbst­stän­dig­er­wer­bende ein Corona-Taggeld bean­tragen, die vom Veran­stal­tungs­stopp betroffen sind. Alle anderen gelten als indi­rekt betrof­fene Selbst­stän­dige und können nichts bean­tragen. Taxi­fahrer werden gar explizit erwähnt.  (Screen­shot SVA Zürich, 11.4.2020)

Laut dem Echo der Zeit (Minute 4) gibt es 270’000 Selbst­stän­dige, die nicht direkt, aber indi­rekt von der Corona-Krise betroffen sind. Sprich: Sie dürfen ihren Beruf theo­re­tisch zwar noch ausüben, aber finden schlichtweg keine Kund­schaft mehr. Es sind Foto­gra­finnen, Graphiker, Über­set­ze­rinnen, Physio­the­ra­peuten oder Taxi­fah­re­rinnen, aber auch Ärzte und Zahn­ärz­tinnen. Viele von ihnen erzielen auch in normalen Zeiten keine sehr hohen Einkommen. Laut einem Beitrag der NZZ erzielen Selbst­stän­dige im Schnitt ein Monats­ein­kommen von 5’000 Franken, also 1’500 Franken weniger als der Schweizer Medi­an­lohn. Und dies, obwohl neben vielen Nied­rig­lohn­jobs auch einige sehr gut bezahlte Berufs­zweige, wie eben die Ärztinnen und Zahn­ärzte, den Schnitt sogar noch nach oben ziehen dürften. Viele Selbst­stän­dige müssen also mit wenig durch­kommen. Und im Moment dürfte es noch weniger sein. Denn die meisten von ihnen sind, obwohl sie kein Geld mehr verdienen können, nicht berech­tigt, Corona-Taggeld zu bean­tragen. Wären sie irgendwo ange­stellt, würde der Bund ihnen helfen.

Daraus resul­tiert die absurde Situa­tion, dass ein Taxi­un­ter­nehmen für seine Ange­stellten zwar Kurz­ar­beits­zeit­ent­schä­di­gung bean­tragen kann, einem selbst­stän­digen Taxi­fahrer aber kein Corona-Taggeld zusteht. Auch Irene Tschopp, Medi­en­ver­ant­wort­liche beim Amt für Wirt­schaft und Arbeit des Kantons Zürich bestä­tigt uns das. Eine offen­sicht­liche Ungleichbehandlung.

Ange­spro­chen auf diesen Unter­schied zwischen Taggeld und Kurz­ar­beit sagt man eine Verwal­tungs­ebene höher, also beim Staats­se­kre­ta­riat für Wirt­schaft (SECO), Folgendes: „Das Ziel der Kurz­ar­beits­ent­schä­di­gung ist der Erhalt von Arbeits­plätzen […]. Es soll verhin­dert werden, dass infolge kurz­fri­stiger und unver­meid­barer Arbeits­aus­fälle Kündi­gungen ausge­spro­chen werden. […] Folg­lich müssen Unter­nehmen, die wegen Corona Kurz­ar­beit bean­tragen, im Prinzip direkt vom Corona-Virus und seinen Folgen betroffen sein.“ Das SECO versucht den Wider­spruch also zu lösen, indem eine weitere Kate­gorie erfunden wird: die im Prinzip direkt Betrof­fenen. Könnte es sein, dass sich das SECO dieser Ungleich­be­hand­lung durchaus bewusst ist, sie aber nicht zugeben will?

Ange­stellte können doppelt so viel kriegen wie Selbstständige

Und auch dieje­nigen unter den Selbst­stän­digen, die Corona-Taggeld bean­tragen können, sind bei weitem noch nicht gleich­ge­stellt mit den Ange­stellten. Denn das Corona-Taggeld ist bei maximal 196.- CHF pro Tag gedeckelt, was etwa einem Monats­lohn von 6’000.- CHF entspricht. Laut dem SECO liegt das Maximum, das als Kurz­ar­beits­ent­schä­di­gung ausbe­zahlt werden kann, hingegen bei etwa 12’000.- CHF. Also doppelt so hoch.

6’000 Franken ist zwar nicht wenig, aber: Viele Selbst­stän­dige müssen, anders als die Ange­stellten, über ihre Einnahmen auch noch betrieb­liche Fixko­sten, wie zum Beispiel die Taxi­li­zenz oder die Miete für den Atelier­platz selbst tragen. Und für Bran­chen, die ihre Einnahmen mit starken saiso­nalen Schwan­kungen erzielen, gibt es noch ein zusätz­li­ches Problem. Denn das Corona-Taggeld, das sie poten­ziell geltend machen können, richtet sich nach dem Durch­schnitt der Einnahmen von 2019. Bei Gärt­ne­rInnen, die jetzt im Früh­ling viel zu tun hätten, aber anschei­nend auch bei vielen Tattoo-Künst­le­rInnen, wider­spie­gelt das Corona-Taggeld dementspre­chend nicht das, was sie momentan erwirt­schaften könnten. Und wieso Ange­stellten bis zu doppelt so viel zusteht – dafür gibt es sowieso keine sinn­volle Erklärung.

Einmal mehr scheinen die Behörden die Schick­sale, die näher bei ihren eigenen Lebens­rea­li­täten liegen, besser auf dem Schirm zu haben, als die, welche weiter entfernt sind. Es ist sehr begrüs­sens­wert, dass sich der Bund um die Arbei­te­rInnen kümmert. Dies sollte aber in einer ausge­gli­chenen Art und Weise passieren. Und vor allem sollte der Bundesrat seine Verspre­chen einhalten. Auch wenn er sie am 1. April gibt.

Update aus der Pres­se­kon­fe­renz des Bundes­rates vom 16.4.2020:

Der Bundesrat weitet den Corona-Erwerbs­er­satz auf indi­rekt betrof­fene Selbst­stän­dige aus. Voraus­set­zung ist, dass ihr AHV-pflich­tiges Erwerbs­ein­kommen höher ist als 10‚000 Franken, aber 90‚000 Franken nicht über­steigt. Sie können wie bereits die direkt betrof­fenen Selbst­stän­digen rück­wir­kend ab dem 17. März ein Corona-Taggeld bean­tragen, das sich aus ihrem letzt­jäh­rigen Einkommen berechnet aber maximal 196.- Franken pro Tag sein kann (*). Dies ist ein grosser Schritt in Rich­tung Gleich­be­hand­lung. Weshalb jedoch der maxi­male Betrag beim Corona-Taggeld halb so hoch ist wie bei der Kurz­ar­beit, dass die Berech­nungsart des Corona-Taggelds saiso­nale Einkom­mens­schwan­kungen nicht berück­sich­tigt und weshalb die am wenig­sten verdie­nenden Personen, also die mit weniger als 10‚000 Jahres­ein­kommen, nichts kriegen, bleibt frag­würdig. Vor allem, weil dieser Gruppe sowieso nur ein sehr beschei­denes Corona-Taggeld von 22.- Franken pro Tag zustehen würde. Teuer wäre es also nicht auch dieje­nigen mitein­zu­be­ziehen, die es am meisten bräuchten (*).

(*) Das Corona-Taggeld berechnet sich, indem das Einkommen aus dem Jahr 2019 durch 360 Tage divi­diert wird und mit dem Faktor 0.8 multi­pli­ziert wird. So erhält man 80% des letzt­jäh­rigen durch­schnitt­li­chen Tages­ein­kom­mens. Ist das höher als 196.- dann kriegt man nur die 196.- pro Tag.


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