Kolum­bien: Massive Poli­zei­ge­walt lässt Bogotá brennen

Bei den erneuten Prote­sten gegen Poli­zei­ge­walt in Bogotá und der angren­zenden Region Soacha richtet die Polizei Schuss­waffen auf die Bevöl­ke­rung. Die trau­rige Bilanz der ersten Nächte: minde­stens elf Tote. Und jeden Tag werden neue Vergehen bekannt. 
Polizeistation "CAI" im Distrikt "Parkway" wird von Demonstranten niedergebrannt. Foto: Luis Carlos Ayala.

Bogotá. Nachdem Poli­zi­sten den 44-jährigen Kolum­bianer Javier Ordóñez im Stadt­teil Santa Cecilia de Enga­tivá mit einer Taser-Pistole so gefol­tert hatten, dass er kurz darauf im Spital verstarb, sind in der Haupt­stadt erneut Proteste ausge­bro­chen. Ordóñez wurde offenbar ange­halten, weil er auf offener Strasse Alkohol getrunken und damit gegen die Lock­down-Mass­nahmen verstossen hatte.

In ganz Bogotá ist es im Anschluss auf diesen Vorfall in der Nacht auf den 10. September zu Zusam­men­stössen zwischen Demonstrant*innen und der umstrit­tenen Anti-Riot-Polizei ESMAD gekommen. Die Kund­ge­bungen waren zunächst fried­lich, die Menschen versam­melten sich vor dem Poli­zei­po­sten CAI Villa Luz, wo Ordóñez zu Tode kam. Die Demon­stra­tionen führten aber schnell zu weiteren spon­tanen Kund­ge­bungen in anderen Gegenden der Haupt­stadt sowie in anderen grös­seren Städten Kolum­biens, wo sich die Wut der Bevöl­ke­rung gegen lokale Poli­zei­po­sten richtete.

Die Miss­hand­lung von Ordóñez durch die Polizei wurde von seinem besten Freund auf Video aufge­zeichnet und über die sozialen Netz­werke verbreitet. Im Video ist zu sehen, wie Ordóñez mehr­mals fleht „bitte, bitte, jetzt reicht es“, die zwei Poli­zi­sten der lokalen Poli­zei­wache Comando de Acción Inme­diata (CAI) ihm aber immer wieder Strom­schläge versetzen. Danach wurde er von den Poli­zi­sten in das Gebäude des CAI in Villa Luz und kurz darauf in die Klinik Santa María del Lago gebracht, wo er seinen Verlet­zungen erlag. Die Anwe­senden vermuten, dass er auf der Poli­zei­wache von den Beamten zu Tode geprü­gelt wurde, da er noch bei Bewusst­sein war, als er abge­führt wurde.

Vorfall bringt „Fass zum überlaufen“

Dieser Vorfall hat die Wut wieder entzündet, die zuvor im Lock­down erstickt worden war. Auch der 27-jährige Philo­so­phie­stu­dent Esteban Sarmi­ento nimmt an den Kund­ge­bungen teil. Er habe den Miss­brauch seiner Rechte durch die Machthaber*innen satt, sagt er: „Wir ertragen es nicht mehr und haben nichts mehr zu verlieren.“

Und diese Wut entlud sich in eben dieser Nacht auf den 10. September – mit einer trau­rigen Bilanz: Minde­stens elf Menschen sind durch Poli­zei­ge­walt gestorben; der Gross­teil von ihnen wurde mit scharfer Muni­tion erschossen. Nach offi­zi­ellen Zahlen wurden insge­samt 248 Zivilist*innen verletzt und davon minde­stens 66 ange­schossen. Bei den Unifor­mierten sind es 114 Verletzte. Mehrere Medi­en­schaf­fende berich­teten, von Poli­zei­ein­heiten ange­griffen worden zu sein. Das Vertei­di­gungs­mi­ni­ste­rium teilte mit, dass 53 Poli­zei­sta­tionen und ‑posten ange­griffen wurden, von denen minde­stens 17 komplett abge­brannt sind. Weiter wurden Lini­en­busse und Poli­zei­fahr­zeuge angezündet.

Die Poli­zei­sta­tion CAI im Distrikt Parkway wird von Demonstrant*innen nieder­ge­brannt. Foto: Luis Carlos Ayala.

Regie­rung weist sämt­liche Verant­wor­tung von sich

„Wir sind in den Kran­ken­häu­sern, begleiten Ange­hö­rige und rekon­stru­ieren die Ereig­nisse“, twit­terte Bogotás Bürger­mei­sterin Claudia López am Tag darauf. Sie wies sämt­liche Verant­wor­tung für den Einsatz von Schuss­waffen von sich und redete von einem „Massaker“ an den Jungen. „Es handelt sich hierbei um eine wahl­lose und unver­hält­nis­mäs­sige Anwen­dung von Gewalt“, sagte sie gegen­über El Tiempo über die Demon­stra­tionen. Gleich­zeitig bat sie die Bürger*innen von Bogotá, um 19:00 Uhr wieder in ihre Häuser zurück­zu­kehren, um weitere Ausein­an­der­set­zungen zu vermeiden. Auf die Wieder­ein­füh­rung der Ausgangs­sperre, so wie sie während des Lock­downs bestanden hatte, verzichtet sie aber.

Präsi­dent Iván Duque forderte Schnel­lig­keit bei den Unter­su­chungen, wies aber darauf hin, dass er nicht akzep­tieren könne, dass die Polizist*innen des Landes „stig­ma­ti­siert und als Mörder*innen“ bezeichnet werden.

Vertei­di­gungs­mi­ni­ster Carlos Holmes Trujillo kommu­ni­zierte am Morgen nach den Ausschrei­tungen, dass er bis zu umge­rechnet 12’300 Schweizer Franken für Hinweise und Infor­ma­tionen an Informant*innen bezahlt, um die an den Morden und „Akten des Vanda­lismus“ betei­ligten Personen zu iden­ti­fi­zieren. Zusätz­lich kündete er das Entsenden von 300 Soldat*innen und weiteren 1’600 Polizist*innen in die Haupt­stadt an, „um die Ordnung wiederherzustellen“.

Trotz der massiven Repres­sion sind die Proteste in Bogotá und anderen grös­seren Städten wie Cali oder Medellín am frühen Donners­tag­abend erneut entfacht. Am Frei­tag­abend sind die Proteste auf Städte wie Pereira über­ge­schwappt. „Obwohl wir Angst davor haben, was uns an den Prote­sten passieren könnte, lassen wir diesen Moment des Wider­stands nicht verstrei­chen“, sagt Sarmi­ento. Es gäbe ein noch nie da gewe­senes Mitein­ander und viel gegen­sei­tiges Verständnis in der Bevölkerung.

Vertei­di­gungs­mi­ni­ster Carlos Holmes Trujillo kommu­ni­zierte am Freitag auf die Reak­tion der anhal­tenden Proteste, dass die zwei am Mord von Javier Ordóñez betei­ligten Poli­zi­sten wegen Amts­miss­brauchs und Mordes zu einem Diszi­pli­nar­ver­fahren vorge­laden werden. Sie wurden vom Dienst abgezogen.

Inzwi­schen hat sich der zustän­dige Poli­zei­ge­neral Gustavo Moreno im Namen der Insti­tu­tion für den Tod von Javier Ordóñez entschul­digt und die Familie des Ermor­deten um „Verzei­hung“ gebeten. Weiter sagte Moreno aber, dass die Hand­lungen der Poli­zi­sten, die im Video zu sehen sind, nicht „typisch“ für die Polizei in Kolum­bien seien. Minde­stens 167 weitere Beschwerden wegen Miss­brauchs durch Ange­hö­rige der Polizei während der anhal­tenden Proteste sind beim Regie­rungs­se­kretär in Bogotá eingegangen.

Polizist*innen schiessen im Zentrum Bogotás mit Tränen­gas­pi­stolen auf die Demonstrant*innen – und zwar so, wie es nach Proto­koll verboten ist, weil nicht ein bestimmter Schuss­winkel einge­halten wird. Foto: Luis Carlos Ayala

Proteste waren auf „Standby“

Schon seit November 2019 demon­strieren die Menschen in Kolum­biens Städten gegen die rechts­kon­ser­va­tive Regie­rung unter Duque. Vor dem Lock­down waren es vor allem Student*innen, Arbeiter*innen und Bäuer*innen, die in Bogotá, Medellín, Cali und Barran­quilla an den Kund­ge­bungen gegen geplante Arbeits­markt- und Renten­re­formen teilnahmen.

Die Unzu­frie­den­heit der Bevöl­ke­rung wird durch die Welle der Gewalt, die Kolum­bien während des Lock­downs erfasst hat, noch verstärkt. In den vergan­genen Wochen wurde das Land von mehreren Tragö­dien erschüt­tert. In Nariño im Süden Kolum­biens wurden inner­halb einer Woche insge­samt 13 Jugend­liche von unbe­kannten Täter*innen ermordet.

Im September dieses Jahres zählt das Obser­va­to­rium des Insti­tuts für Studien über Entwick­lung und Frieden (Indepaz) rund 55 „Massaker“ durch bewaff­nete Gruppen. Als „Massaker“ gelten der UNO zufolge Tötungs­de­likte an mehr als drei Personen am selben Ort durch dieselben Täter*innen. Insge­samt haben so 2020 rund 218 Menschen (Stand: 8. September 2020) im Kontext riva­li­sie­render Gruppen im Bereich des Drogen­han­dels und des ille­galen Berg­baus ihr Leben verloren.

Massive Poli­zei­ge­walt in Kolumbien

Aber nicht nur riva­li­sie­rende Gruppen mit ille­galen Geschäfts­prak­tiken verüben Gewalt an der Bevöl­ke­rung: Gemäss der kolum­bia­ni­schen Platt­form gegen Poli­zei­ge­walt Temblores Ong sind in den letzten drei Jahren in Kolum­bien minde­stens 639 Personen durch Poli­zei­ge­walt gestorben. Weiter zählen sie rund 40’500 Fälle von Gewalt­an­wen­dung gegen Personen und 241 Fälle von sexu­ellem Miss­brauch durch die Polizei. Und schon im November 2019 wurden an den Kund­ge­bungen, an denen über 200’000 Menschen teil­nahmen, drei Personen getötet.

Dass jetzt ein 46-jähriger unbe­waff­neter Fami­li­en­vater und Anwalt von der Polizei ermordet wurde, ist nur die Spitze des Eisbergs – und giesst Öl ins Feuer der Proteste. Es ist anzu­nehmen, dass die Proteste auch unter den Bedin­gungen von Covid-19 anhalten werden.

Update vom 14. September 2020 (abends): Auch am Wochen­ende ging die natio­nale Polizei wieder mit massiver Gewalt gegen die Prote­stie­renden vor. Mitt­ler­weile wurden 13 Todes­opfer gemeldet und die Proteste haben sich auf die Kari­bik­küste (Carta­gena) ausge­weitet. An der Pres­se­kon­fe­renz am Samstag redete Vertei­di­gungs­mi­ni­ster Trujillo weiterhin von „Vanda­lismus und Anar­chi­sten“ und sogar davon, dass die Proteste von FARC-Dissi­denten und der Natio­nalen Befrei­ungs­armee (ELN) infil­triert worden seien. Gleich­zeitig tauchen in der Presse und den sozialen Medien immer mehr Videos auf, worauf zu sehen ist, wie die „ESMAD“ und andere Poli­zei­ein­heiten gewalt­tätig auf unbe­waff­nete Prote­stie­rende losgehen. An der von der Bürger­mei­sterin Claudia López initi­ierten „Veran­stal­tung für Verge­bung und Versöh­nung“, die auf der Plaza de Bolívar im Zentrum von Bogotá statt­fand, blieb der Stuhl von Präsi­dent Ivan Duque leer.


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