Spiel mit dem Virus

Seit heute sind im Kanton Zürich alle Spiel­hallen und Casinos geschlossen. Damit endet eine bizarre Sonder­regel der bishe­rigen Corona-Mass­nahmen. Eine Repor­tage, die von der Realität über­holt wurde. 
Illustration: Anna Egli

Disclaimer: Diese Repor­tage wurde vor der Bekannt­gabe der neuen Mass­nahmen im Kanton Zürich verfasst. Dieser hat am 09.12.2020 beschlossen, Casinos und Spiel­hallen zu schliessen. Unser Text wider­spie­gelt die Situa­tion vor dem Inkraft­treten der neuen Regeln am 10.12.2020. 

Abstim­mungs­sonntag. Düster, wie meistens. Die Kriegs­ge­schäfte-Inita­tive – abge­lehnt. Die Konzern­ver­ant­wor­tungs­in­itia­tive, die Hoff­nungs­trä­gerin – ebenfalls.

Die Märkte gewinnen immer. Die katho­li­schen Kantone meistens. Und dann ist ja auch noch Pandemie und fast alles verboten, was irgendwie Spass macht und in Frage käme, um sich von diesem mora­li­schen Sieg abzu­lenken. Zumin­dest nach 23.00 Uhr. „Was tun?“, fragen wir uns frei nach Lenin.

Wir gehen ins Casino.

Die Roll­treppen hoch, hinein in diesen glitz­rigen, vergla­sten und vergol­deten Schlund, der sich so sehr darum bemüht, glamourös zu wirken und so deut­lich daran schei­tert. Es ist Sonn­tag­abend, 22:00 Uhr, und wir sind nicht allein.

Sonder­fall Casino

Aufgrund der stei­genden Fall­zahlen verhängte der Bundesrat Ende Oktober eine schweiz­weite Sperr­stunde: Um 23:00 Uhr müssen alle Bars und Restau­rants ihre Lichter löschen. Einige Kantone, vor allem in der West­schweiz, aber auch Basel, gehen sogar noch weiter als der Bundesrat: Sie schliessen die Bars voll­ständig. Betreiber:innen, die bereits unter den Ausfällen der ersten Welle ächzten, fürchten jetzt das endgül­tige Aus unzäh­liger Bars und Restaurants.

Ganz anders sieht es bei den Casinobetreiber:innen aus. Im Früh­ling waren sie zwar eben­falls vom Shut­down betroffen, heute sind sie aber von der Sperr­stunde ausge­nommen: Das Casino Zürich ist am Wochen­ende bis 07:00 Uhr morgens geöffnet. Ledig­lich der Gastro- und Barbe­trieb im Casino muss um 23:00 schliessen.

Um 22:58, kurz vor der Mini-Sperr­stunde, bekommen wir bereits kein Bier mehr. Nicht nur das: Der Barkeeper weist uns an, unser Getränk zu stürzen. Sorg­falts­pflicht im Casino.

Dann halt weiter­zocken auf dem Trockenen. Am Roulette-Tisch im zweiten Stock markiert der bekannte gelbe Kleber die sichere Distanz. Als wir unsere Chips plat­zieren wollen, müssen wir uns aber dennoch durch schwit­zige Menschen­trauben durchzwängen.

Auf der Toilette hängt ein Plakat vom BAG, das vor zu grossen Menschen­an­samm­lungen warnt. Die Kassie­rerin erklärt uns am Eingang, dass sie weniger Besucher:innen hätten seit Corona. „Die Leute haben Angst.“ Davon ist wenig zu sehen: Im Auto­ma­ten­saal, in dem Ziga­ret­ten­rauch schwer in der Luft liegt, sieht man alle mögli­chen Arten, eine Hygie­ne­maske zu tragen: Nase über der Maske, Maske unten am Hals, Maske an einem Ohr hängend. Oder: Maske nirgends.

Als wir den Medi­en­spre­cher von Swiss Casinos mit der eher laschen Durch­set­zung der Schutz­mass­nahmen konfron­tieren, ist er über­rascht. Er werde das abklären. „Grund­sätz­lich sind alle Ange­stellten ange­wiesen, die Schutz­mass­nahmen durch­zu­setzen. Das müssen und wollen wir gewährleisten.“

Beson­ders ernst nehmen wollte die Schutz­mass­nahmen das Grand Casino Basel: Anfangs November sollten dort die Spiel­ti­sche ganz geschlossen werden. Aber das wäre verboten gewesen. So will es das Bundes­ge­setz. Laut der Verord­nung über Geld­spiele sind Casinos dazu verpflichtet, Tisch­spiele zu betreiben – Pandemie hin oder her. Denn was wäre schon ein Casino ohne seine Tischspiele?

Nichts geht mehr

Ein Mann wirft zwei Zwei­hun­der­ter­noten auf den Tisch und legt seine Chips frene­tisch auf alle mögli­chen Zahlen­kom­bi­na­tionen, bevor er an den Nach­bar­tisch schlurft. Als er zurück­kommt, sind seine 400 Franken abge­räumt. Er legt erneut 400 Franken auf den Tisch, die er weniger als fünf Minuten später eben­falls bereits verloren hat.

„Der Zusam­men­hang zwischen bela­stenden Ereig­nissen und proble­ma­ti­schem Spiel wurde in Studien hervor­ge­hoben“, sagt Monique Portner-Helfer. Sie ist Medi­en­spre­cherin von Sucht Schweiz, dem natio­nalen Kompe­tenz­zen­trum für Sucht­fragen. „Die Pandemie sowie die wirt­schaft­li­chen und sozialen Auswir­kungen haben das Zeug, manche Personen die Kontrolle über das Geld­spiel verlieren zu lassen.“

Diese Gefahr besteht nicht nur am Roulette-Tisch mit seiner wenig einla­denden Atmo­sphäre – sondern seit Neue­stem auch online. Mit dem neuen Geld­spiel­ge­setz, das seit dem 1. Januar 2019 in Kraft ist, dürfen Schweizer Casinos auch Online­spiele anbieten. Als im April die Pandemie viele Menschen in den eigenen vier Wände einschloss, verzeich­neten alle mögli­chen Online­dienst­lei­ster stei­gende Besucher:innenzahlen: Netflix, Zoom, Pornhub.

Und auch die Casinos wollten von der Krise profi­tieren: Laut Mediaf­ocus stieg die Werbung für Glücks­spiele im April 2020 um 50 Prozent vergli­chen mit Dezember 2019; über 60 Prozent für Online-Casinos.

„Die Werbe­of­fen­sive während des Lock­downs im Früh­ling sowie die Musse­stunden daheim dürften einige Personen dazu bewegt haben, Geld­spiele auszu­pro­bieren“, sagt Monique Portner-Helfer. Für die Schweiz würden ihr zwar keine Daten vorliegen, aber: In Kanada verzeich­neten Online-Anbieter Wachs­tums­raten von über 75 Prozent gegen­über dem glei­chen Zeit­raum im Vorjahr. In Gross­bri­tan­nien waren ein Drittel aller Online-Spieler:innen Einsteiger:innen.

Dabei hätten die Casinos das gar nicht nötig: 742 Millionen Franken Brut­to­spie­ler­trag (BSE) erzielten die 21 Schweizer Spiel­banken 2019. Fast 8,3 Prozent mehr als im Vorjahr. 78,2 Millionen wurden alleine in Zürich einge­nommen. 43,1 Millionen Franken davon fliessen in die AHV. Der Rest bleibt dem Casino.

Free Drinks

Wir versu­chen uns am Black­jack. Am Tisch sitzen wir neben einer älteren Frau. Sie fällt auf: Die grosse Mehr­heit der Anwe­senden an diesem Abend scheinen junge Männer zu sein. Wie Studien zeigen, sind Männer zwar häufiger, Frauen aber schneller von proble­ma­ti­schem Spiel­ver­halten betroffen, Junge stärker als Alte.

Auch eine Stunde später sehen wir die Frau noch am selben Tisch spielen. Runde für Runde wettet sie darauf, dass sie näher an die Punkt­zahl 21 kommt als die Casi­no­mit­ar­bei­terin. Ihre Gewinn­chancen sind recht gross. Aber kleiner als die des Casinos.

Selber bleiben wir nur kurz am Black­jack-Tisch sitzen. Unser Geld ist bald aufge­braucht. Wir kaufen uns noch einmal ein, denn wer nicht mitspielt, hat eh schon verloren, denken wir uns, nehmen uns eine von den Cola-Dosen, die an der Bar gratis bereit­ge­stellt werden, und gehen zurück an den Roulette-Tisch.

Dort spricht uns jemand an, nennen wir ihn Kevin. Er sei heute mit seiner Freundin hier, spontan im Anschluss an ein Abend­essen. „Wir waren selber über­rascht, dass das Casino offen ist.“ Er fände das schon erstaun­lich, meint Kevin, während er neue Chips auf das Tableau legt.

Erstaun­lich finden wir das auch – und fragen beim Bundesamt für Gesund­heit nach. Casinos würden einge­stuft als „öffent­lich zugäng­liche Einrich­tungen“, antwortet das Amt. Als solche werden sie in der Covid-Verord­nung gleich behan­delt wie auch andere Frei­zeit­ein­rich­tungen. Das Casino fällt in dieselbe Kate­gorie wie Museen.

„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeu­tung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, schrieb einst Fried­rich Schiller. Das Zitat ziert die Fassade des Casinos Zürich, in der sich das Logo der gegen­über­lie­genden Subway-Filiale spie­gelt. Diese hat geschlossen.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 25 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1560 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel

Keine blosse Willensfrage

Der Zugang zur Corona-Impfung ist nicht nur eine Frage des Willens, sondern auch eine soziale Frage. Neben konsequenten Impfverweigerer:innen gibt es Menschen, die aus sozioökonomischen Gründen über weniger Zugang zur Impfung verfügen. Gemäss der neuen Teststrategie des Bundes sollen sie nun die Kosten tragen.