„Ziel ist, dass das Publikum die Show verlässt und Bock hat, weiter zu kämpfen“

Aktuell läuft die zweite Staffel von MOUMOUNI/GÜLTEKIN, der ersten post-migran­ti­schen Late Night Show der Schweiz. Co-Mode­rator Uğur Gültekin spricht im Inter­view über migran­ti­sche Erfah­rungen, Assi­mi­lia­ti­ons­druck und Humor als Bewältigungsstrategie. 
Uğur Gültekin und Fatima Moumouni widmen sich in der zweiten Staffel ihrer Late Night Show den zwei Ebenen des "Migrationsuntergrunds" (Foto: Laura Gauch).

Das Lamm: Für alle, die noch nie an einer Late Night Show von euch waren: Worum geht es bei eurer Veranstaltung?

Uğur Gültekin: Eigent­lich veran­stalten wir eine Late Night Show im klas­si­schen Sinne: mit zwei Moderator*innen, verschie­denen Gästen, Perfor­mances und Musik. Anders ist aber, dass wir Stimmen mitein­be­ziehen, die im Main­stream wenig vorkommen. Wir laden nicht die berühm­te­sten Leute mit den bekann­te­sten Büchern ein, sondern bieten anti­ras­si­sti­schen und post­mi­gran­ti­schen Stimmen einen Platz. Wir sind also eine Art Nischen-Late-Night-Show.

Die Show ist also eine Mischung aus Unter­hal­tung und Bildungsarbeit?

Ja, wir wollen diverse Biogra­fien und Stra­te­gien im Umgang mit Rassismus thema­ti­sieren und dabei unter­halten. Uns ist wirk­lich wichtig, dass wir gemeinsam lachen können. Es soll ein Ort sein, indem wir mittels Humor Themen anspre­chen und teilen können – aber nicht nur. Manchmal ist es auch anstren­gend und traurig, schliess­lich geht es um einen poli­ti­schen Kampf und um gesell­schaft­liche Teil­habe. Aber es soll eben auch Spass machen und empowern. Ziel ist, dass unser Publikum die Show verlässt und Bock hat, weiter zu kämpfen.

Wer ist euer Zielpublikum?

Um die Unter­hal­tung geniessen zu können, müssen wohl gewisse Vorraus­set­zungen erfüllt sein, zum Beispiel, dass die Zuschauer*innen aner­kennen, dass es Rassismus gibt. Manchmal fragen uns Leute, ob die Show nur für migran­ti­sche Personen sei. Das finde ich nicht, alle Menschen dürfen gerne kommen. Aber solche, die Rassismus nicht als Problem verstehen, hätten wohl wenig Spass.

„Das Thema der migran­ti­schen Schweiz ist wie ein Mosaik: Es gibt so viele unter­schied­liche Heran­ge­hens­weisen, Biogra­fien und Arten, wie man damit umgehen kann.“

Uğur Gültekin

In der ersten Ausgabe eurer Show schreibt ihr, dass ihr der Schweiz den Spiegel vorhalten werdet. Was konnte die Schweiz darin sehen?

Mit dieser Formu­lie­rung wollten wir darauf hindeuten, dass die Schweiz nicht nur so weiss, neutral und „sauber“ ist, wie viele meinen. Sie hat ganz viele andere Seiten – und damit meine ich nichts Nega­tives, sondern ledig­lich, dass sie wesent­lich viel­fäl­tiger ist, als es scheint.

Kannst du das ausführen?

Das Thema der migran­ti­schen Schweiz ist wie ein Mosaik: Es gibt so viele unter­schied­liche Heran­ge­hens­weisen, Biogra­fien und Arten, wie man damit umgehen kann. Manche davon stehen sich gegen­über: Die einen sind beispiels­weise der Meinung, dass man mit dem eigenen poli­ti­schen Handeln total radikal sein muss, andere gehen eher einen diplo­ma­ti­schen Weg und wollen inner­halb der Struk­turen etwas verändern.

Da wir keine poli­ti­sche Partei sind, die den Kompro­miss suchen muss, können wir das ganze Spek­trum aufnehmen. Aller­dings reicht die Zeit an einem Abend natür­lich nur, um einen kleinen Teil davon abzu­bilden. Ich denke, es ist uns gelungen, einen kleinen Ausschnitt der Schweiz, der sehr bunt, kämp­fe­risch und hoff­nungs­voll ist, abzu­bilden. Gleich­zeitig ging es auch um entwür­di­gende, ernied­ri­gende und ausgren­zende Geschichten und Erfahrungen.

In eurer derzei­tigen und zweiten Ausgabe der Show sprecht ihr von einem Span­nungs­feld „zwischen Assi­mi­la­tion und Wider­stand“. Was hat es damit auf sich?

Dazu muss ich etwas ausholen: Im migran­ti­schen Think Thank INES (Institut Neue Schweiz) haben wir vor etwa sieben Jahren ange­fangen, den Begriff „Migra­ti­ons­hin­ter­grund“ in „Migra­ti­ons­vor­sprung“ zu verwandeln.

In unserer Late Night Show haben wir das spie­le­risch weiter­ge­führt und gesagt, dass wir in den „Migra­ti­ons­un­ter­grund“ gehen. In diesem Unter­grund gibt es zwei Unter­ge­schosse: Im ersten ist die Assi­mi­la­tion und im zweiten der Wider­stand. Assi­mi­la­ti­on­druck, der eine Anpas­sung an die neue Umwelt fordert, ist etwas, was viele Migrant*innen in der Schweiz erfahren. Es ist also eine Spie­lerei von uns, dieser Druck aller­dings ist wissen­schaft­lich bewiesen.

„Assi­mi­la­ti­on­druck, der eine Anpas­sung an die neue Umwelt fordert, ist etwas, was viele Migrant*innen in der Schweiz erfahren.“

Uğur Gültekin

Wie sieht eine solche Assi­mi­la­tion aus?

Es geht darum, alles zu machen, um als „echte Schweizer*innen“ zu gelten. Also zum Beispiel Unihockey spielen oder an die Fasnacht zu gehen, auch wenn man das eigent­lich gar nicht inter­es­sant findet. Es geht stark um Selbst­ver­leug­nung und Entwur­ze­lung, die einem meiner Meinung nach nie gut tut, weil man einen Cut machen muss und einem etwas fehlt. So werden Entwick­lungs­stränge abge­schnitten und drohen verloren zu gehen. Irgend­wann merkt man aber, dass man späte­stens beim Körper an Grenzen stösst. Wenn man Schwarz ist, ist es ziem­lich schnell vorbei.

Und dann kommt der Widerstand?

Ja, irgend­wann kommt man an einen Punkt, an dem man denkt: Das bringt sowieso alles nichts. Im besten Fall hört dann die Selbst­ver­leug­nung langsam auf und man orga­ni­siert sich kollektiv. Aber auch beim Wider­stand gibt es Fallen, in die man meiner Meinung nach tappen kann. Zum Beispiel, wenn man das Gefühl hat, alles richte sich gegen einen.

Gibt es noch andere Schwie­rig­keiten beim Wider­stand leisten?

Natür­lich gibt es viele Split­ter­gruppen inner­halb der anti­ras­si­sti­schen Linken. Proble­ma­tisch finde ich persön­lich, wenn Aussagen nur noch aufgrund der Sprecher*innenpositionen als radikal gelten und nicht wegen ihres Inhaltes. Wenn die Kraft einer Aussage nur in zwei, drei Inden­ti­täts­merk­malen der spre­chenden Person liegt, finde ich das schwierig. Damit will ich natür­lich nicht sagen, dass Iden­ti­täten unwichtig seien. Aber wenn diese Debatten ohne Klas­sen­bezug geführt werden, dann sind das für mich keine wirk­lich linken Positionen.

Kommen wir nochmal zurück zum Thema Selbst­ver­leug­nung: Kannst du viel­leicht dazu ein paar konkrete Beispiele nennen?

Da gibt es verschie­dene Ebenen. Bis ich etwa fünf­zehn Jahre alt war, war eines meiner Ziele, dass ich als „nicht so wie die anderen“ gelte. Das war das höchste, was ich hätte errei­chen können. Denn einfach normal als Mensch zu gelten, dafür hat es sowieso nicht gereicht.

Es ging zum Beispiel darum, möglichst viel über die Schweiz zu wissen: Ange­fangen von jedem Kanton und dessen Haupt­stadt über die Namen der Berge und so weiter. Ein anderer Aspekt sind zum Beispiel so halb-rassi­sti­sche Witze, also solche, die einen gewissen Dreh haben und nicht explizit sind, die auch ich gemacht habe, um dazuzugehören.

Neben Dingen, die man extra macht, kann Verleug­nung auch bedeuten, gewisse Sachen bewusst nicht mehr zu tun. Hast du damit auch Erfahrung?

Ich erin­nere mich zum Beispiel, dass meine Eltern meine Schul­brote anders belegt haben als es in der Schweiz üblich ist: Mit Sucuk, also Salami mit viel Knob­lauch, statt Poulet und Mayo. Irgend­wann habe ich sie darum gebeten, es den andern Eltern gleich­zutun, obwohl ich das Essen bei uns Zuhause sehr mochte. Es ist aber auch nicht so, als sei die Schweiz für all diese Dinge verant­wort­lich. Migra­tion bedingt immer viel Verän­de­rung in den Leben der Menschen, das ist normal.

„Ich finde es bemer­kens­wert, dass die wenig­sten Schweizer*innen auch nur ein paar wenige Worte Türkisch oder Alba­nisch oder sonst etwas beherrschen.“

Uğur Gültekin

Gibt es Assi­mi­la­tionen, die du irgend­wann wieder aktiv entlernt hast?

Irgend­wann ist es nicht mehr so klar, welche Dinge über­haupt durch Assi­mi­lie­rung bedingt sind und welche viel­leicht einfach zum Charakter gehören. Mit der Zeit fangen sich diese Sachen an zu vermi­schen. Was ich aber sagen kann ist, dass ich durch kurdi­sche und türki­sche Filme und vor allem Musik immer die emotio­nale Verbin­dung zu der Region und der Kultur meiner Eltern aufrecht­erhalten konnte. Vor nicht all zu langer Zeit habe ich auch damit ange­fangen, selbst türki­sche Musik zu machen und so die Sprache nochmal neu zu lernen.

Gibt es Assi­mi­la­tionen, die soge­nannte „Bioschweizer*innen“ machen sollten?

Ich finde es bemer­kens­wert, dass die wenig­sten Schweizer*innen auch nur ein paar wenige Worte Türkisch oder Alba­nisch oder sonst etwas beherr­schen. Das ist schon sehr verwun­der­lich, immerhin leben sehr viele Menschen hier, die diese Spra­chen sprechen.

Mit eurer Show möchtet ihr unter­halten aber auch empowern. Was empowert dich persönlich?

Inzwi­schen gibt es da vieles. Natür­lich gibt es genug Anlass, die Dinge pessi­mi­stisch zu sehen. Aber wenn man spezi­fisch aufs Thema Teil­habe in der Schweiz blickt – bezogen auf die Menschen, die bereits hier sind, denn rein­zu­kommen bleibt weiterhin sehr schwierig –, merkt man, dass sich vieles verän­dert. All die anti­ras­si­sti­schen Medi­en­pro­jekte, Kollek­tive und Zusam­men­schlüsse, die sich in den letzten zehn Jahren gebildet haben, stimmen mich sehr positiv.

Stellen wir uns die Schweiz im Jahr 2050 vor: Wie würde sie aussehen, wenn du entscheiden dürftest?

In unserer Show labern wir viel über migran­ti­sche Themen, aber es ist natür­lich wichtig, dass die Dinge poli­tisch werden. Wenn ich also eine poli­ti­sche Forde­rung machen könnte, wäre es eine ganz andere Vorge­hens­weise bei der Staats­bür­ger­schaft. Ich würde mir wünschen, dass man sie erhält, wenn man hier geboren ist oder sonst nach drei, vier Jahren nach Einreise. Das würde dazu führen, was ich mir am meisten wünsche: Dass mehr Menschen an poli­ti­schen und demo­kra­ti­schen Prozessen teil­nehmen und über unser gemein­sames Schicksal entscheiden dürfen.

Und wie sieht die Zukunft für eure Show aus?

Wir werden nach einer kurzen Pause weiter machen und die anderen tausend Aspekte des Mosaiks beleuchten: Leute vorstellen, Geschichten erzählen, eine mögliche Zukunft entwerfen, lachen und eine gute Zeit haben.

Nächste Termine:
17. Dezember 2022 – MOUMOUNI/GÜLTEKIN Late Night Show im Neubad, Luzern
14. Januar 2023 – MOUMOUNI/GÜLTEKIN Late Night Show in der Turn­halle, Bern

Dieses Inter­view ist zuerst in der Fabrik­zei­tung erschienen.

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